Rita Levi-Montalcini – Wie Nerven wachsen

Grafik: Meike Ufer
Rita Levi-Montalcini - Wie Nerven wachsen
Autor: Ragnar Vogt

In einem improvisierten Labor im Schlafzimmer, in dunklen Mussolini-​Jahren, legte Rita Levi-​Montalcini den Grundstein für eine große Forscherkarriere – und erhielt 1986 für die Entdeckung des Nervenwachstumsfaktors den Nobelpreis.

Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Herbert Schwegler

Veröffentlicht: 28.09.2012

Niveau: mittel

Das Wichtigste in Kürze
  • Als Jüdin hat Rita Levi Montalcini in Mussolini-Zeiten Berufsverbot und darf weder als Wissenschaftlerin noch als Ärztin arbeiten. Sie richtet sich zu Hause in ihrem Schlafzimmer ein improvisiertes Labor ein.
  • Im Zweiten Weltkrieg flieht sie mit ihrer Familie aufs Land. Als die deutsche Wehrmacht in Italien einmarschiert, taucht sie unter und überlebt dank der Hilfe von Freunden und Partisanen.
  • Nach dem Krieg folgt sie der Einladung Victor Hamburgers, in seinem Labor in den USA zu forschen. Sie untersucht, wie in Hühnerembryonen das Nervenwachstum von der Körperperipherie beeinflusst wird.
  • Levi-Montalcini entdeckt, dass von einem Mäusetumor ein Signal ausgeht, das Neuronen dazu bringt, Fortsätze auszubilden. Sie nennt das Signal Nervenwachstumsfaktor (NGF). Ihr Laborkollege Stanley Cohen gelingt die Analyse des Moleküls.
  • Für die NGF-Entdeckung erhält sie den Medizin-Nobelpreis zusammen mit Cohen.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Lebensdaten von Rita Levi-Montalcini

22. April 1909: Rita Levi-Montalcini wird in Turin geboren

1936: Ende des Medizin-Studiums

1939 – 1940: Forschungsaufenthalt in Brüssel

1940 – 1943: Forschung im improvisierten Schlafzimmer-Labor

Herbst 1943 – August 1944: Leben im Untergrund in Florenz

1947 – 1977: Arbeit an der Washington University in St. Louis, USA

1952: Veröffentlichung der ersten Studie über den Nervenwachstumsfaktor

1986: Verleihung des Medizin-Nobelpreises

2001: Berufung in Italien zur Senatorin auf Lebenszeit

An ihrem 100. Geburtstag sagte sie, ihr Gehirn arbeite heute besser als damals mit 20 Jahren. Rita Levi-​Montalcini erhielt für ihre Erkenntnisse zur Entwicklung des Nervensystems bei Hühnern den Nobelpreis. Und möglicherweise, so munkelt man zumindest, verdankt sie auch ihre geistige Fitness ihrem Forschungserfolg – wenn die Anekdote stimmt, die ihr Forscherkollege Pietro Calissano dem Independent verriet: Levi-​Montalcini nehme seit Jahrzehnten selbst entwickelte Augentropfen, die den Nervenwachstumsfaktor NGF enthielten. Und genau das ist der Stoff, den die Forscherin entdeckt hatte, und durch den sie sich in der Neurowissenschaft für immer einen Namen gemacht hat.

Von der geistigen Fitness der Forscherin kann sich jeder selbst überzeugen: Im Internet finden sich zwei Interviews mit Rita Levi-​Montalcini, eines aus dem Jahr 1996 mit der Society for Neuroscience (SFN) und ein aktuelleres aus dem Jahr 2009 mit der Nobel-​Stiftung. In beiden Videos erzählt sie – auf Englisch und mit starkem italienischem Akzent – sehr eindrucksvoll aus ihrem Leben. Sie neigt zwar zu Wiederholungen, formuliert aber präzise und mit dem Selbstbewusstsein einer seit Jahrzehnten erfolgreichen Wissenschaftlerin.

Berufsverbot in Mussolini-​Zeiten

Der Weg zu ihrem Ruhm war jedoch lang und steinig. Als ausgebildete Ärztin, die sich für die Wissenschaft entschieden hatte, stand Levi-​Montalcini im Jahr 1940 vor dem Nichts. In ihrem Heimatland Italien herrschte der Faschist Benito Mussolini, und der Jüdin war es seit Jahren verboten zu praktizieren und zu forschen. Zunächst setzte sie ihre wissenschaftliche Karriere in Brüssel fort, doch als Deutschland unter Adolf Hitler Belgien überfiel, floh sie zu ihrer Familie in Turin.

Dort suchte sie nach einer sinnvollen Beschäftigung, aber alles, was sie spannend fand, war ihr verboten: Sie durfte weder Universitäten noch Büchereien betreten und auch keiner öffentlichen Arbeit nachgehen. „Es musste eine Tätigkeit sein, die keine Unterstützung von der arischen Welt da draußen brauchte“, schrieb Levi-​Montalcini in einem autobiografischen Artikel für das Nobel-​Komitee. „Meine Inspiration war ein Fachartikel aus dem Jahr 1934 von Professor Viktor Hamburger.“ Der deutsche Entwicklungsbiologe forschte schon länger im US-​Exil an der Washington University. Und in seiner Arbeitsgruppe sollte Levi-​Montalcini Jahre später der entscheidende wissenschaftliche Durchbruch gelingen.

Hamburger beschrieb in der besagten Publikation seine Versuche mit Hühner-​Embryonen. Er entfernte ihnen die Flügel und stellte fest, dass die Nerven, die normalerweise in die Gliedmaßen hineinwachsen, das Wachstum einstellten. Viele starben sogar ab. Das machte Levi-​Montalcini neugierig: Irgendetwas musste den Zellen mitgeteilt haben, dass die Flügel fehlten, dass sie nun kein Ziel mehr hatten. Was war es? Könnte es sein, dass die Körper-​Peripherie, also etwa die Flügel, Signale aussendet, um Nervenfasern anzulocken? Die Wissenschaftlerin war entschlossen, Hamburgers Forschung nachzuvollziehen und weiterzuführen.

Improvisiertes Labor im Schlafzimmer

In ihr altes Labor durfte sie nicht mehr. Also richtete sich Levi-​Montalcini in ihrem winzigen Schlafzimmer ein improvisiertes Labor ein, in dem sie „unter ähnlichen Bedingungen wie Robinson Crusoe gearbeitet“ habe, wie sie sich Jahrzehnte später in einem Interview mit dem Biologen Giovanni Giudice erinnert. Statt das Gewebe der Hühnerembryos mit speziell angefertigten Skalpellen aus Glas zu manipulieren, behalf sie sich mit Nähnadeln, die sie zum Skalpell schliff. Einen Kocher funktionierte sie zum Inkubator um. Die Eier, mit denen sie arbeitete, bekam ihre Familie nach den Experimenten zu essen.

Bald erhielt die Forscherin Verstärkung – von einem überqualifizierten Assistenten: Giuseppe Levi, der ebenfalls aus Belgien vor den Nazis in seine Heimat fliehen musste. Er war während ihres Medizin-​Studiums Levi-​Montalcinis Professor und in ihrer Nobelpreis-​Rede im Jahr 1986 würdigte sie ihn als einen herausragenden Forscher und große Inspiration für ihre Arbeit. Und er inspirierte nicht nur sie. Zwei weitere seiner Studenten wurden mit dem Nobelpreis gewürdigt: Salvador Luria und Renato Dulbecco, beide für ihre Arbeiten mit Viren.

Als der Krieg in Italien begann, bombardierten die Alliierten Turin und die Familie floh aufs Land. Sie fand Unterschlupf in einer Hütte, in der sich Levi-​Montalcini sogleich wieder ihr kleines Privat-​Labor einrichtete. „Es herrschte damals eine unglaublich bösartige Stimmung gegen jüdische Menschen, aber ich kümmerte mich nicht darum. Noch gab es kaum körperliche Gewalt. Ich setzte meine Forschungen fort und ignorierte komplett, was um mich herum passierte“, erinnert sie sich im bereits erwähnten Interview mit der SFN. Doch das ging nicht lange gut: Seit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht im Jahr 1943 bestand in Italien Lebensgefahr für alle Juden. Die Familie Levi-​Montalcini floh nach Florenz, tauchte dort unter und überlebte Dank der Unterstützung von Freunden und Partisanen.

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Einladung aus den USA

Ein paar Jahre nach dem Krieg erreichte Levi-​Montalcini ein Brief, der entscheidend sein sollte für ihre herausragende Forscherkarriere. Das Schreiben war an Giuseppe Levi gerichtet, ihren Assistenten in den dunklen Mussolini-​Jahren. Er war mittlerweile wieder ihr Chef an der Turiner Universität, sie seine Assistenz-​Professorin. Der Brief kam aus den USA – von Hamburger. „Das war ein schöner Brief, ich besitze ihn noch heute“, sagt Levi-​Montalcini im SFN-​Video. „Ich weiß, dass es eine junge Frau bei Ihnen gibt, die sich mit dem selben Problem beschäftigt, an dem ich schon seit 1934 arbeite“, schrieb Hamburger. „Kann sie nicht für ein paar Wochen oder Monate zu mir kommen?“

Aus wenigen Wochen wurden ganze 30 Jahre. Es ging noch immer um die selbe Frage, die Levi-​Montalcini in den Kriegsjahren so fasziniert hatte: Wieso wachsen in Hühner-​Embryos die Nerven nicht mehr, wenn man die Flügel oder Beine entfernte? Und umgekehrt: Warum wachsen Nerven in eine Flügel-​Anlage hinein, die man von einem Embryo zum anderen transplantiert? Woher wissen die Nervenzellen, wo sie gebraucht werden?

Zunächst kam die Forscherin der Antwort nicht näher. Erst nach drei Jahren kam die entscheidende Wendung, wie sie sich im SFN-​Video erinnert: „An einem Wintermorgen im Jahr 1950 rief mich Viktor Hamburger zu sich, unsere Labore lagen direkt nebeneinander.“ Er berichtete ihr von der seltsamen Beobachtung eines seiner früheren Studenten: Elmer Bücker hatte ein Tumor-​Fragment einer Maus in einen drei Tage alten Hühnerembryo transplantiert. Das Ergebnis: Sensorische Nerven des Embryos wuchsen in den Tumor hinein.

Levi-​Montalcini war elektrisiert. Könnte es sein, dass vom Maus-​Tumor ein Signal ausging, das die Nervenzellen anzog? Sie wiederholte Bückers Versuche und kam zum gleichen Ergebnis. Und sie stellte fest, dass vom Tumor ein lösliches chemisches Signal mit erstaunlichen Fähigkeiten ausging. Gibt man kleinste Mengen davon auf kultivierte Nervenzellen, sprießen schon nach wenigen Minuten Nervenfasern. Den Signalstoff nannte sie später ‘nerve growth-​promoting factor’ (NGF), also Nervenwachstumsfaktor.

Bei ihren Forschungen bekam sie bald Unterstützung von einem befreundeten Biochemiker, Stanley Cohen, der später zusammen mit ihr den Nobelpreis bekam. Das Forscherduo fand zunächst heraus, dass NGF in vielen Geweben und Körperflüssigleiten enthalten ist – auch in Schlangengift und Mäusespeichel. Cohen isolierte und analysierte den Stoff und fand heraus, dass es sich um ein Protein handelt, das aus 118 Aminosäuren besteht.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

NGF-​Augentropfen

Levi-​Montalcini zeigte mit ihrem NGF erstmals, wie chemische Signale die Entstehung von neuronalen Netzen beeinflussen. NGF war außerdem der erste einer ganzen Reihe von Wachstumsfaktoren, deren Entdeckung Wissenschaftler auf die Spur eines der großen Rätsel des Lebens brachte: Wie aus einer einzelnen Eizelle ein komplexer Organismus wird.

Doch was hat es mit den NGF-​Augentropfen auf sich, die Levi-​Montalcini angeblich täglich nimmt und die ihre geistige Fitness erklären sollen? Zumindest theoretisch ist die Wirkung plausibel: Auch beim erwachsenen Menschen, das haben die letzten Jahrzehnte Forschung gezeigt, spielt der NGF eine wichtige Rolle und unterstützt die ständigen Umbauprozesse im Gehirn. NGF signalisiert Neuronen, dass sie weiterleben sollen. Fehlt der Faktor, sterben sie ab. Ob aber Augentropfen mit dem Signalstoff tatsächlich einen positiven Effekt im Gehirn der Wissenschaftlerin hervorrufen können, ist bislang nicht untersucht – und die ganze Sache zudem nur unbestätigte Anekdote.

zum Weiterlesen:

  • Aloe, L: Rita Levi-​Montacini: the discovery of nerve groth factor and modern neurobiology. Trends in Cell Biology. 2004; 14(7):395 — 399 (zum Text).
  • Levi-​Montalcini, R.: Praise of Imperfection: My Life and Work. Basic Books, 1988.
  • [Update 26.7.2013] Chao M et al. Rita Levi-​Montalcini: The story of an uncommon intellect and spirit. Neuroscience (2013) (zum Text).

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