Neurogastronomie – die neue Wissenschaft vom Geschmack

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Neurogastronomie

Der Geruchssinn des Menschen ist nicht schlechter als der anderer Wirbeltiere. Er hat sich nur anders spezialisiert: auf die Erzeugung von Geschmack. Die neue Disziplin Neurogastronomie erforscht das komplexe Geschmackssystem des Menschen.

Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Wolfgang Meyerhof

Veröffentlicht: 27.11.2013

Niveau: mittel

Das Wichtigste in Kürze
  • Der menschliche Geruchssinn ist nicht schlecht, er ist nur spezialisiert, sagt Gordon M. Shepherd: spezialisiert auf sein Rolle bei der Entstehung von Geschmackserlebnissen.
  • Geruchssinn, Geschmackssinn und die Interpretation im Gehirn wirken dabei auf einzigartige Weise zusammen.
  • Die Neurogastronomie erforscht, wie das Geschmacks-System des Menschen funktioniert – und soll zugleich darüber aufklären, wie industriell gefertigte Nahrung manipuliert wird.

Unser Geruchssinn sei schlechter als der aller anderen Lebewesen und der schwächste unter den menschlichen Sinnen, schrieb Aristoteles. Stimmt gar nicht, sagt Gordon M. Shepherd, Professor für Neurowissenschaften an der Yale-​Universität. Der menschliche Geruchssinn sei nur besonders spezialisiert: Seine Stärke liege in der Schlüsselrolle, die er für die Entstehung des Geschmackserlebnisses spielt. Erst unser Geruchssinn, davon ist Shepherd überzeugt, verschafft uns ein Geschmackserlebnis, wie es in der Tierwelt kein zweites gibt.

Jeder, der schon einmal eine erkältungsbedingt verstopfte Nase hatte, kennt den Effekt: Wenn man nicht riechen kann, schmeckt auch das Essen nicht. Was nicht bedeutet, dass die Nase allein ein Geschmackserlebnis zuwege bringen könnte. Dazu braucht sie zwei Mitspieler: die Zunge, mit der wir die Textur der Nahrung und die Grundgeschmäcker wahrnehmen, und das Gehirn. Forscher haben für dieses Ergebnis des Zusammenspiels von Zunge und Nase, von Schmecken und Riechen, taste und smell, einen eigenen Namen, für den es keine gute Übersetzung gibt: “flavour” (amerikanisch: flavor).

2004 schrieb Shepherd einen Artikel mit dem Titel “The human sense of smell – are we better than we think?”. Es hätte “better because we think” heißen müssen, kommentierte ein Kollege, denn Flavour entsteht im Gehirn. Das Geruchsorgan des Menschen ist kleiner als das des Hundes und es hat weniger Rezeptoren. Doch wir können so gut schmecken, weil wir ein so komplexes Gehirn haben, das die Signale von Zunge und Nase interpretiert.

Nase

Nase/Nasus/nose

Das Riechorgan von Wirbeltieren. In der Nasenhöhle wird die Luft durch Flimmerhärchen gereinigt, im oberen Bereich liegt das Riechepithel, mit dem Gerüche aufgenommen werden.

Rezeptor

Rezeptor/-/receptor

Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.

Das einzigartige Gehirn-​Geschmacks-​System

Zusammen bilden diese drei – der Geruchssinn (smell), der Geschmackssinn (taste) und das Gehirn – das, was Shepherd das “einzigartige menschliche Gehirn-​Geschmacks-​System” (unique human brain flavor system) nennt. Und er hat eine Disziplin aus der Taufe gehoben, die zu klären versucht, wie dieses System funktioniert: die Neurogastronomie. Ein Neurogastronom betreibt also nicht etwa ein neuartiges Szene-​Restaurant. “Wir möchten verstehen, warum wir uns für die Nahrungsmittel entscheiden, für die wir uns entscheiden. Und dazu müssen wir verstehen, wie das Gehirn das Geschmackserlebnis hervorbringt”, so Shepherd.

Per Møller vom Department of Food Science der Universität Kopenhagen nennt sein ganz ähnliches Unternehmen Gastrophysik. Auf den Namen komme es nicht an, meint Møller, sondern darauf, Fragen, die die menschliche Nahrungsaufnahme betreffen und die bislang nur phänomenologisch, also von den Erfahrungen her, angegangen worden sind, auf ein theoretisches Fundament zu stellen.

Dabei geht es nicht nur um Grundlagenforschung. Shepherd hat sich den Kampf gegen die Fettleibigkeit auf die Fahnen geschrieben. “Die Nahrungsmittelindustrie versteht sich darauf, ihre Nahrungsmittel für uns unwiderstehlich zu machen”, beklagte er im Gespräch mit das​Ge​hirn​.info. “Mein Ziel ist, die Menschen zu informieren, wie das Geschmackserlebnis entsteht, damit sie diese Tricks durchschauen können.”

Die zwei Wege des Riechens

Das Riechsystem hat zwei Wege: Auf dem vorderen, dem orthonasalen, wird die durch die Nase eingeatmete Luft direkt an Rezeptorzellen oben im Nasenraum vorbeigeführt. Auf diesem Weg gelangen Geruchsmoleküle von der Außenwelt in die Nase. Das orthonasale Riechen warnt uns vor Gas oder Feuer und liefert uns das Bouquet von Wein, den Geruch gekochter Mahlzeiten und die sozialen Gerüche, die uns unbewusst über Geschlecht, Stimmung, ja sogar das Immunsystem unserer Mitmenschen informieren. Die vergleichsweise lange Hundenase ist auf diesen Riechweg spezialisiert. Beim Menschen ist er eher ein Trampelpfad.

Für die menschliche Nase spielt der hintere, retronasale Weg eine größere Rolle. Dieser ist beim Menschen deutlich kürzer, direkter und vermutlich auch effizienter als beim Hund. Auf diesem wird die Luft beim Ausatmen aus der Mundhöhle von hinten an die Geruchsrezeptoren herangeführt. Beim Essen ist diese Luft gesättigt mit Molekülen, die das Kauen der Speisen freigesetzt hat. Und seit der Mensch begonnen hat, sein Essen zu kochen, sind seine Sinne mit einer viel größeren Vielfalt an Geschmackserlebnissen konfrontiert. “Zusammengenommen führt mich das zu der These, dass der retronasale Weg dem Menschen ein reicheres Geschmackserlebnis ermöglicht, als anderen Säugetieren”, so Shepherd.

Das Geschmackserlebnis liegt so wenig im wohlschmeckenden Essen wie Farben in den bunten Objekten. Es entsteht, wenn das Gehirn die Botschaften der Geruchsrezeptoren analysiert und interpretiert und mit den Botschaften des Geschmackssinns und anderen Sinnen in Beziehung setzt.

Denn auch viele andere Faktoren beeinflussen, wie uns das Essen schmeckt: Das Auge überprüft die Nahrung nicht nur auf Frische. Wie Forscher in der Fachzeitschrift “Flavour” berichten, haben selbst die Farbe des Tellers und die Größe und Form des Bestecks Einfluss darauf, wie es uns schmeckt. Und ein Nudelsalat, mit völlig geschmacksneutraler Speisefarbe blau gefärbt, findet selbst auf einem Kindergeburtstag keine Abnehmer. Das Sonntagsbrötchen schmeckt besser, wenn das Ohr es knuspern hört, und der Wein, wenn er sanft aus der Flasche gluckert. Der matschige Pfirsich hingegen hat schon beim ersten taktilen Kontakt verloren.

Außer mit den anderen Sinnen ist das Gehirn-​Geschmacks-​System mit den neuronalen Netzwerken für Emotionen, Erinnerung, Bewusstsein, Sprache und Entscheidung verknüpft. Es ist eines der am besten vernetzten Systeme des Gehirns, so Shepherd. Und entsprechend komplex will er auch die Neurogastronomie vernetzen: Disziplinen wie Anthropologie, Evolution von Geschmackspräferenzen, Soziologie der Nahrungszubereitung und –aufnahme, Entwicklungspsychologie, Pharmazie und Forschung zum Suchtverhalten sollen zusammenwirken, um zu erklären, wie ein so differenziertes Geschmackserlebnis entstehen kann, obwohl wir Menschen, was die Anzahl der Rezeptoren in Mund und Nase angeht, eher sparsam ausgestattet sind.

Nase

Nase/Nasus/nose

Das Riechorgan von Wirbeltieren. In der Nasenhöhle wird die Luft durch Flimmerhärchen gereinigt, im oberen Bereich liegt das Riechepithel, mit dem Gerüche aufgenommen werden.

Auge

Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb

Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.

Ohr

Ohr/Auris/ear

Das Ohr ist nicht nur das Organ des Hörens, sondern auch des Gleichgewichts. Unterschieden werden das äußere Ohr mit Ohrmuschel und äußerem Gehörgang, das Mittelohr mit Trommelfell und den Gehörknöchelchen sowie das eigentliche Hör– und Gleichgewichtsorgan, das Innenohr mit der Gehörschnecke (Cochlea) und den Bogengängen.

Rezeptor

Rezeptor/-/receptor

Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.

Geschmack als Triebkraft der Menschheitsgeschichte

Ohne dass wir uns das bewusst machen, ist der Geschmack unseres Essens eine maßgebliche Triebkraft in der Geschichte der Menschheit, davon ist Shepherd überzeugt. Nicht umsonst gab es schon in römischer Zeit Handelswege, über die Gewürze von China bis ans Mittelmeer gelangten. Marco Polo suchte den Weg nach Osten, um zu den Quellen des Gewürzhandels zu gelangen. Nicht zuletzt war es auch der Gewürzhandel, der die Infrastrukturen der Weltreiche entstehen ließ. Und auch heute hängen multinationale Konzerne davon ab, Nahrungsmittel und Getränke mit dem richtigen Geschmack an die Menschen zu bringen. (siehe auch Duftende Marken)

Geschmack

Geschmack/-/flavor

Der Sinneseindruck, den wir als „Geschmack“ bezeichnen, ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen Geruchs– und Geschmackssinn. Sinnesphysiologisch ist „Geschmack“ jedoch auf den Eindruck begrenzt, den uns die Geschmacksrezeptoren auf der Zunge und in den umgebenden Schleimhäuten zuführen. Aktuell geht man davon aus, dass es fünf verschiedene Sorten von Geschmacksrezeptoren gibt, die auf die Geschmacksqualitäten süß, sauer, salzig, bitter und umami spezialisiert sind. 2005 haben Wissenschaftler zudem einen möglichen Geschmacksrezeptor für Fett identifiziert.

Warum wir zu viel essen

Dass wir von ihren industriell gefertigten Produkten schnell zu viel essen, liegt an einem Missverhältnis von sensorischer Stimulation, Kaloriengehalt und Sättigungswert. Fastfood enthält übermäßig viele Geschmacksstoffe und Kalorien, aber wenig Ballaststoffe. Also essen wir weiter und weiter und werden nicht satt. Zudem enthält Fastfood viele verschiedene Geschmacksstoffe. Das schmeichelt unserem Gehirn-​Geschmacks-​System, denn es reagiert am stärksten auf Veränderung. So essen wir weiter, obwohl wir eigentlich satt sind: Pommes, Burger, zwischendurch Cola, dann Caffè Latte und ein Schokoladen-​Cookie. Emotionen und Gedächtnis tun ein Übriges dazu, dass wir Speisen mit unserem Lieblingsgeschmack nur sehr schwer stehen lassen können.

Was unser Lieblingsgeschmack ist, haben wir allerdings weitgehend selbst in der Hand. Denn wir haben zwar eine angeborene Vorliebe für Süßes und Fettiges, aber alles andere ist erlernt. Das heißt: Wir stellen uns auf den Geschmack ein, mit dem wir häufig konfrontiert sind. Schon vor der Geburt prägen die Ernährungsgewohnheiten der Mütter die Vorlieben der Kinder. Bei der Formulierung von Nahrungsmittelempfehlungen müsse berücksichtigt werden, ob das Gehirn-​Geschmacks-​System es uns schwer oder leicht macht, diesen Empfehlungen zu folgen, fordert Shepherd.

Emotionen

Emotionen/-/emotions

Unter „Emotionen“ verstehen Neurowissenschaftler psychische Prozesse, die durch äußere Reize ausgelöst werden und eine Handlungsbereitschaft zur Folge haben. Emotionen entstehen im limbischen System, einem stammesgeschichtlich alten Teil des Gehirns. Der Psychologe Paul Ekman hat sechs kulturübergreifende Basisemotionen definiert, die sich in charakteristischen Gesichtsausdrücken widerspiegeln: Freude, Ärger, Angst, Überraschung, Trauer und Ekel.

Gedächtnis

Gedächtnis/-/memory

Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.

Geschmack

Geschmack/-/flavor

Der Sinneseindruck, den wir als „Geschmack“ bezeichnen, ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen Geruchs– und Geschmackssinn. Sinnesphysiologisch ist „Geschmack“ jedoch auf den Eindruck begrenzt, den uns die Geschmacksrezeptoren auf der Zunge und in den umgebenden Schleimhäuten zuführen. Aktuell geht man davon aus, dass es fünf verschiedene Sorten von Geschmacksrezeptoren gibt, die auf die Geschmacksqualitäten süß, sauer, salzig, bitter und umami spezialisiert sind. 2005 haben Wissenschaftler zudem einen möglichen Geschmacksrezeptor für Fett identifiziert.

Paradoxes Ergebnis

Als die Wissenschaft begann, sich mit den Niederungen des Kochens zu befassen, verfolgte sie zwei Ziele: besser zu verstehen, was bei der Zubereitung von Speisen geschieht, und diese Zubereitung zu verbessern und zu bereichern. Das bekannteste Ergebnis dieser Bemühungen ist die Molekularküche mit ihren ungewöhnlichen Kombinationen und Zubereitungsweisen. “Da gibt es tolle Sachen”, gesteht Shepherd zu. Dennoch setzt er sich zusammen mit seiner Frau lieber zu einem traditionellen, selbst gekochten Essen an den Tisch. “Das ist eine meiner wichtigsten Botschaften”, sagt Shepherd: “Die Gerichte der traditionellen Küche haben ein ausbalanciertes Verhältnis von Proteinen, Fetten und Kohlenhydraten. Das Essen hat Geschmack, besteht aus guten Rohstoffen und macht satt.” Das kann auch eine neue Wissenschaft wie die Neurogastronomie nur bestätigen.

zum Weiterlesen:

  • Gordon M. Shepherd: Neurogastronomy. How the Brain Creates Flavor and Why It Matters, Columbia University Press 2012
  • Flavour. Open Access Peer Reviewed Journal. URL: http://​www​.flavour​jour​nal​.com/ [Stand: 02.10.2013], zur Webseite. http://​www​.flavour​jour​nal​.com/
  • Das Journal Coulinaire. Kultur und Wissenschaft des Essens, herausgegeben von Thomas Vilgis und Martin Wurzer-​Berger; URL: http://​www​.jour​nal​-culi​naire​.de/ [Stand: 02.10.2013], zur Webseite. http://​www​.jour​nal​-culi​naire​.de/

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