Frage an das Gehirn
Entstehen beim Erwachsenen noch Gehirnzellen?
Veröffentlicht: 23.04.2023
Gibt es adulte Neurognese – oder gibt es sie nicht?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Prof. Dr. med. Gerd Kempermann, Technische Universität Dresden, Forschungszentrum für Regenerative Therapien; Sprecher DZNE, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen, Standort Dresden: Dass es adulte Neurogenese überhaupt gibt, ist, glaube ich, unstrittig. Das ist von der Fruchtfliege, der Maus und praktisch allen Spezies, mit wenigen Ausnahmen, belegt. Es war auch im Menschen unstrittig, ist aber nun durch eine Publikation seltsamerweise nochmal alles hochgekocht worden.
In besagter Veröffentlichung wurden viele alte Argumente, die teilweise in den 1960iger bis 1990iger Jahren diskutiert wurden, nochmal aufgewärmt. Sie wurde sehr hochrangig, von einer sehr etablierten Arbeitsgruppe, Sorrells et al., 2018, in der Zeitschrift Nature veröffentlicht. Über die Motive dieses Artikels kann man sich nur wundern. Diese Arbeit besagt: Wir haben eine bestimmte Färbung, die für die Präsenz von neugebildeten Nervenzellen spricht und die viele andere Gruppen in verschiedensten Kontexten benutzt haben, nicht in unseren Proben wiederholen können – also kann es das ganze Phänomen der humanen Neurogenese nicht geben. Es hat daraufhin einige methodisch sehr ausgefeilte Gegenpublikationen gegeben, etwa von María Llorens-Martín aus Madrid, und es gab auch eine Art Schlagabtausch zwischen den beiden Arbeitsgruppen auf einer wissenschaftlichen Konferenz.
Insgesamt stellen nur etwa drei wissenschaftliche Publikationen humane adulte Neurogenese in Frage, während 15 bis 20 Publikationen sie belegen. Mittlerweile ist sich die Mehrheit der Fachleute einig, dass der Grund für diese Diskrepanz darin liegt, dass das Markerprotein Doublecortin (DCX) sehr instabil ist. Ist die Zeit zwischen dem Tod des Menschen und der Untersuchung seines Gehirns zu lang, zersetzt es sich und ist nicht mehr nachweisbar. Das Gewebe reagiert auch sehr empfindlich auf die Fixation, was ebenfalls das Markerprotein schädigen kann.
Tatsächlich galt DCX jedoch eigentlich immer eher als unterstützender Hinweis und nicht als Beleg dafür, dass es adulte Neurogenese gibt. Die ausschlaggebende Evidenz beruht darauf, dass sich neurale Stammzellen teilen müssen, um neue Nervenzellen produzieren zu können. Es gibt eine Chemikalie, Bromodesoxiuridin (BrdU), mit der man Zellen markieren kann, die sich aktuell teilen. Nach einer Injektion des BrdUs in den Körper, baut sich dieses in die DNA der neuen Zellen ein und bleibt dort stabil erhalten. Färbt man nun das BrdU im Gehirn an, hat man dadurch den Nachweis, dass sich diese Zelle geteilt haben muss, als das BrdU im Körper war. Bei der Maus ist das ohne weiteres möglich, beim Menschen aber nicht. Es gab jedoch früher ab und zu Tumorpatienten, denen – natürlich mit ihrer Einwilligung – BrdU injiziert wurde, um das Teilungsverhalten des Tumors zu untersuchen. Nachdem diese Patienten jedoch verstorben waren, konnte man auch die Gehirne auf BrdU-Einlagerungen untersuchen. Dabei fand man, genau wie bei der Maus, die neugeborenen Nervenellen im Hippocampus. Durch zusätzliche Färbungen der BrdU-positiven Zellen mit Markern für neuronale Zellen konnte dann der Beweis für Neurogenese im menschlichen Gehirn erbracht werden.
Das zweite Argument beruht auf einer atemberaubenden Studie aus Stockholm. Die haben die Carbon Dating Methode verwendet und ausgenutzt, dass bei den oberirdischen Atomwaffentests in den 1950iger und 1960iger Jahren das Kohlenstoffisotop C14 in exzessiven Mengen in die Atmosphäre und über die Nahrungskette auch in den Menschen gelangt ist. Da DNA extrem stabil ist, kann man, abhängig von der Menge des C14 Isotops in der DNA, ziemlich genau feststellen, wann eine Zelle im Verhältnis zum gesamten Körper entstanden sein muss, da das C14-Isotop mit den Jahren in der Nahrungskette immer weniger wird. Das war natürlich eine methodische Tour de Force, aber eindeutig ein unabhängiger, weiterer Beleg dafür, dass im Hippocampus des Menschen Nervenzellen neu gebildet werden und diese jünger sind als der Mensch selbst.
Einen weiteren Hinweis bieten Analysen außerhalb des Menschen, bei denen Zellen aus dem Hippocampus des Menschen extrahiert wurden, die Stammzelleigenschaften haben. Nach der Teilung dieser Stammzellen außerhalb des Menschen konnten die neu gebildeten Nervenzellen mit entsprechenden Markern nachgewiesen werden. Diese Untersuchungen bieten eine flankierende Evidenz für Neurogenese im menschlichen adulten Gehirn.
Ein neuester weiterer unabhängiger Beleg wurde versucht durch Einzelzelltranskriptionsanalysen zu erlangen. Damit lässt sich beantworten, ob es Zellen im menschlichen Hippocampus gibt, die denen in der Maus entsprechen. Dies geschieht basierend auf dem ausgelesenen Genprofil einer Zelle, das bei Stammzellen ganz anders als in Vorläuferzellen oder dann auch Neuronen ist. Eine wissenschaftliche Publikation von der Arbeitsgruppe von Hongjun Song aus Philadelphia kommt zu dem Ergebnis, dass es beim Menschen in der Tat die echten Stammzellen im Erwachsenenalter nicht mehr gibt. Dafür existieren spätere Zwischenstufen, von denen manche, aber nicht alle, DCX enthalten.
Es gibt daher beim Menschen vermutlich einen etwas anderen Ablauf der adulten Neurogenese. Es sind nicht mehr Stammzellen, sondern intermediäre Zellen, die noch einige Stammzelleigenschaften haben, aber nicht mehr das Charakteristikum einer Urstammzelle aufweisen. Diese Zellen sitzen im Gewebe und, wenn sie die letzten Schritte zur Entwicklung zur Nervenzelle vollziehen, über extrem lange Zeiträume. Damit ist die Dynamik des Systems ganz anders als bei der Maus. Man kann also nicht alles 1:1 von der Maus auf den Menschen übertragen.
Wir wissen heute sehr genau, was die Funktion der neuen Nervenzellen im Gyrus dentatus des Hippocampus ist. Der Gyrus dentatus ist die einzige Region im Hippocampus, in der die neuen Zellen geboren werden. Der Gyrus dentatus ist eine Spezialität von Säugetieren. Außerdem gelang der Beleg, dass diese neuen Zellen, und nur diese, hochgradig plastisch sind. Die unreifen Zellen reagieren auf neue Inputs, während das die anderen Zellen nicht tun. Das Netzwerk lenkt die einströmende Information immer auf die sporadisch vorhandenen neuen Zellen im Gyrus dentatus. so dass sie weit verteilt wird. Es entstehen Aktivitätsinseln, die sich nicht überlappen. Die neuen Zellen sind für die Mustertrennung da. Wenn etwas gelernt werden soll, müssen Informationsbündel voneinander getrennt werden, sonst kommt es zur Interferenz und die neue Information überschreibt die alte, so dass man am Ende gar nichts mehr weiß.
Wenn die Hypothese, die Sorrells et al. 2018 in der eingangs erwähnten Publikation aufgestellt haben, stimmte, müsste es beim Menschen noch einen anderen Mechanismus geben, der die gleiche Funktionalität auf andere Weise noch einmal herstellt. Dieser Mechanismus müsste in der Evolution irgendwo zwischen den anderen Primaten und uns Menschen entstanden sein. Das wäre eine sehr steile These, da die evolutionäre Zeitspanne für eine solche Entwicklung viel zu kurz ist.
Das spricht dafür, dass es beim Menschen adulte Neurogenese gibt, sie vermutlich etwas anders ist als bei der Maus, aber die grundsätzliche Funktionalität vermutlich sehr ähnlich ist.
Aufgezeichnet von Stefanie Flunkert
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.