Frage an das Gehirn
Gibt es eine Art Altersnorm für das Vergessen?
Veröffentlicht: 27.09.2014
Wenn ich sage: „Ich bin so vergesslich“, dann sagen viele in meinem Umfeld: „Ich auch“. Nun meine Frage: Darf man je nach Alter so und so viel vergessen?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Antwort von Prof. Dr. Sabine Engel, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Institut für Psychogerontologie:
Ja, es gibt eine Altersnorm für das Vergessen. Wenn ältere Menschen sich Sorgen um ihr Gedächtnis machen, können sie sich an eine Gedächtnisambulanz wenden. Mit so genannten neuropsychologischen Untersuchungen kann man dort feststellen, ob das Vergessen normal oder stärker als normal ausgeprägt ist. Die Betroffenen bekommen unter anderem Merkaufgaben vorgelegt, etwa eine Wortliste, die sie später aus dem Gedächtnis abrufen sollen. Oder sie müssen Aufgaben unter Zeitdruck lösen, beispielsweise in einer Minute so viele Wörter wie möglich zu einer bestimmten Kategorie wie etwa „Tiere“ nennen. Es handelt sich dabei um normierte Tests.
Es gibt also Normwerte. Das Abschneiden des Patienten kann mit dem von Menschen gleichen Alters und gleicher Bildung verglichen werden. Der Patient kann dann unter, über oder in der Altersnorm liegen. Ist die Abweichung nach unten stark genug ausgeprägt, könnte das ein Hinweis auf eine beginnende Demenz sein.
Im nächsten Schritt versucht man in der Gedächtnisambulanz andere mögliche Ursachen auszuschließen wie Depressionen oder Schlafstörungen, die sich auf das Gedächtnis negativ auswirken können. Es handelt sich bei einer Demenzdiagnostik also um eine Ausschlussdiagnostik. Vielleicht hat der Betroffene seit Jahren eine Schilddrüsenunterfunktion, die auch zu einem schlechteren Gedächtnis führen kann. Hat man alle möglichen anderen Ursachen ausgeschlossen, liegt der Verdacht auf eine Demenz nahe.
Leider gibt es aber für den Alltag keine Faustregel für das Vergessen. Man kann also nicht sagen: Wenn ein Mensch in einem bestimmten Alter dieses und jenes im Alltag vergisst, ist das nicht mehr normal. Ich sage zu Menschen, die sich bei mir in der Gedächtnisambulanz melden: „Sobald Sie sich Sorgen machen, sollten Sie Ihr Gedächtnis testen lassen.“ Das gilt auch dann, wenn nicht die Betroffenen selbst über ein schwindendes Gedächtnis klagen, sondern sich Angehörige wegen der betreffenden Person Sorgen machen.
Die neuropsychologischen Tests in der Gedächtnisambulanz dauern auch nicht sehr lange: bei uns beispielsweise nur ungefähr eine Stunde. Eine möglichst frühe Diagnostik ist wichtig, da dies die Behandlungsmöglichkeiten verbessert. Es gibt Medikamente, die das Fortschreiten einer Demenz abbremsen können.
Eine Diagnostik bei Besorgten ist auch deshalb wichtig, weil sie häufig zu verstärkter Selbstbeobachtung neigen: „Habe ich schon wieder vergessen, wo ich meine Schlüssel hingelegt habe?“, überlegen sie sich. Oder: „Jetzt fällt mir der richtige Begriff schon wieder nicht spontan ein!“ Solche Menschen drehen sich immer mehr um sich selbst. Wenn die Untersuchung in der Gedächtnisambulanz zeigt, dass alles in Ordnung ist, ist das für sie sehr beruhigend.
Antwort aufgezeichnet von Christian Wolf
Ergänzende Links:
Institut für Psychogerontologie, Sabine Engel
Liste mit Gedächtnisambulanzen
Gedächtnis
Gedächtnis/-/memory
Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.
Demenz
Demenz/Dementia/dementia
Demenz ist ein erworbenes Defizit kognitiver, aber auch sozialer, motorischer und emotionaler Fähigkeiten. Die bekannteste Form ist Alzheimer. „De mentia“ bedeutet auf Deutsch „ohne Geist“.
Depression
Depression/-/depression
Phasenhaft auftretende psychische Erkrankung, deren Hauptsymptome die traurige Verstimmung sowie der Verlust von Freude, Antrieb und Interesse sind.