Frage an das Gehirn

Nutzen wir tatsächlich nur zehn Prozent unseres Gehirns?

Fragesteller/in: Tilo M., via Internet

Veröffentlicht: 21.07.2012

Glaubt man einer weit verbreiteten Ansicht, schlummert in unserem Gehirn ein unausgeschöpftes Potenzial. Liegen tatsächlich viele Hirnregionen brach, während andere die ganze Arbeit machen?

Die Antwort der Redaktion lautet:

Prof. Dr. Klaus Funke, Abteilung für Neurophysiologie, Medizinische Fakultät der Ruhr-​Universität Bochum: Grundsätzlich kann man die Frage sicher mit Nein beantworten. Natürlich benutzen wir alle Teile unseres Gehirns, denn jedes hat seine spezielle Funktion. Das haben Studien mit bildgebenden Verfahren in den letzten zwei Jahrzehnten gezeigt. Je nach Situation und den jeweiligen Anforderungen sind allerdings unterschiedliche Regionen mehr oder weniger aktiv. Wenn ich mich zum Beispiel bewege, sind viele so genannte motorische Zentren im Gehirn aktiv.

Wenn ich hingegen etwas intensiv anschaue oder lese, regt sich das visuelle System stärker und andere sensorische Systeme dafür weniger. Das liegt beispielsweise daran, dass wir unsere Aufmerksamkeit auf bestimmte Dinge richten, um diese besser wahrzunehmen. Dabei werden andere Eindrücke ausgeblendet, die wir dann auf der Ebene unseres Bewusstseins nicht mitbekommen. Trotzdem verarbeitet das Gehirn solche Reize unbewusst, das heißt diese entsprechenden Hirnregionen werden in dem Moment gebraucht und sind aktiv.

Auch beim Nichtstun bleibt das Gehirn nicht untätig. Ein so genanntes Ruhenetzwerk (Default Mode Network), zu dem etwa der mediale präfrontale Cortex gehört, fährt seine Aktivität immer dann hoch, wenn wir gerade untätig sind. Sobald wir dann wieder eine Aufgabe in Angriff nehmen, fährt dieses Netzwerk seine Aktivität wieder herunter.

Selbst im Schlaf ruht unser Gehirn nicht. Es verarbeitet Eindrücke, die wir am Tag zuvor erlebt haben und sortiert sie in das Gedächtnis ein. Dabei sind sogar viele Gehirnteile gleichzeitig aktiv, was man auch als synchronisierten Zustand im Tiefschlaf bezeichnet.

Würde ein Gehirnteil tatsächlich nicht benutzt, so würden die Hirnzellen möglicherweise absterben, oder sie übernehmen Aufgaben von benachbarten Hirnregionen. Schließlich ist das Gehirn plastisch und kann sich je nach Anforderung und Verwendung verändern. Die Sehrinde im Gehirn von Blinden erhält beispielsweise keinen visuellen Input von den Nervenzellen der Netzhaut. Da sie normalerweise visuelle Eindrücke verarbeitet, bliebe sie bei diesen Menschen quasi arbeitslos. Da das Gehirn aber nun eben plastisch ist, übernimmt die Sehrinde andere Aufgaben. Beim Ertasten der Blindenschrift Braille aktivieren von Geburt an Blinde die Sehregion. Diese Region wird also durch die Blindheit neu organisiert und übernimmt das Verarbeiten von Informationen des Tastsinns.

Letztlich gibt es im Gehirn eine Art Konkurrenz um Ressourcen. Ein Vorgang, der häufig abläuft, „verleibt“ sich mehr Hirnzellen ein, als einer, der selten stattfindet. Darauf beruht dann auch zum Teil das bessere Erlernen von Tätigkeiten, die wir häufig ausüben.

Aufgezeichnet von Christian Wolf

Aufmerksamkeit

Aufmerksamkeit/-/attention

Aufmerksamkeit dient uns als Werkzeug, innere und äußere Reize bewusst wahrzunehmen. Dies gelingt uns, indem wir unsere mentalen Ressourcen auf eine begrenzte Anzahl von Bewusstseinsinhalten konzentrieren. Während manche Stimuli automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können wir andere kontrolliert auswählen. Unbewusst verarbeitet das Gehirn immer auch Reize, die gerade nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen.

Präfrontaler Cortex

Präfrontaler Cortex/-/prefrontal cortex

Der vordere Teil des Frontallappens, kurz PFC ist ein wichtiges Integrationszentrum des Cortex (Großhirnrinde): Hier laufen sensorische Informationen zusammen, werden entsprechende Reaktionen entworfen und Emotionen reguliert. Der PFC gilt als Sitz der exekutiven Funktionen (die das eigene Verhalten unter Berücksichtigung der Bedingungen der Umwelt steuern) und des Arbeitsgedächtnisses. Auch spielt er bei der Bewertung des Schmerzreizes eine entscheidende Rolle.

Gedächtnis

Gedächtnis/-/memory

Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Netzhaut

Netzhaut/Retina/retina

Die Netzhaut oder Retina ist die innere mit Pigmentepithel besetzte Augenhaut. Die Retina zeichnet sich durch eine inverse (umgekehrte) Anordnung aus: Licht muss erst mehrere Schichten durchdringen, bevor es auf die Fotorezeptoren (Zapfen und Stäbchen) trifft. Die Signale der Fotorezeptoren werden über den Sehnerv in verarbeitende Areale des Gehirns weitergeleitet. Grund für die inverse Anordnung ist die entwicklungsgeschichtliche Entstehung der Netzhaut, es handelt sich um eine Ausstülpung des Gehirns.
Die Netzhaut ist ca 0,2 bis 0,5 mm dick.

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