Question to the brain
Warum sprechen nicht alle Menschen dieselbe Sprache?
Published: 21.02.2023
Wie ist die Sprachvielfalt entstanden?
The editor's reply is:
Dr. Christian Bentz, Seminar für Allgemeine Sprachwissenschaft, Universität Tübingen: Weltweit gibt es mehr als 7.000 gesprochene Sprachen. Dazu kommen noch Zeichensprachen und artifizielle Sprachen wie beispielsweise Esperanto , so dass wir derzeit von um die 8.000 verschiedenen Sprachen ausgehen.
Ursprung unserer Sprachvielfalt sind so genannte Protosprachen. Das heißt wir gehen von hypothetischen Ursprungssprachen aus, aus denen sich die heute gesprochenen ebenso wie die ausgestorbenen Sprachen entwickelt haben. Um die gemeinsamen Wurzeln von verschiedenen Sprachen zu ermitteln, erstellen Forschende der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft Sprachstammbäume: Sie vergleichen Sprachen miteinander, analysieren Unterschiede und Gemeinsamkeiten und ermitteln auf diese Weise die Verwandtschaftsverhältnisse innerhalb einer Sprachfamilie. Wir gehen aktuell von rund 200 bis 300 solcher Sprachfamilien aus. Ein bekanntes Beispiel ist die indogermanische oder indoeuropäische Sprachfamilie, die der französische Jesuit Gaston-Laurent Cœurdoux (1691–1779) und der britische Orientalist Sir William Jones (1746–1794) in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts erstmals postuliert haben .
Nach heutigem Erkenntnisstand lassen sich die Stammbäume der Sprachen mit den Methoden der historisch-vergleichenden Sprachwissenschaft bis zu maximal 10.000 Jahre vor heute zurückverfolgen. Was davor war, lässt sich mit diesen Methoden nicht belegen, da sich die Spur des regulären Lautwandels in dieser zeitlichen Tiefe verliert. Daher können wir keine seriösen Aussagen darüber treffen , ob es eine einzige gemeinsame Protosprache (im Englischen „Proto World“) gab, von der alle späteren Sprachen abstammen.
Wie aber kam es nun dazu, dass sich die Protosprachen in so viele unterschiedliche Sprachen aufgefächert haben? An diesem Entwicklungsprozess sind gleich mehrere Faktoren beteiligt. Sprachen verändern sich mit der Zeit – von der ursprünglichen Sprache zu Dialekten und Unterdialekten und schließlich soweit, dass diese als neue Sprachen gelten. Dabei kann der Zufall eine Rolle spielen. M an spricht dann vom sprachlichen Drift: Bei zwei oder mehreren Individuen , die sich in der selben Muttersprache unterhalten, lassen sich bei genauem Beobachten immer marginale Untersch ie de feststellen: eine minimal andere Aussprache, eine leicht abweichende Betonung, Vorlieben bei Wortwahl, Satzbau und Grammatik. Bei einer geographischen Trennung führen diese Nuancen dazu, dass sich die Sprachen langsam auseinander entwickeln. Das lässt sich leicht beobachten, zum Beispiel in Regionen, in denen sich lokale Dialekte von Tal zu Tal unterscheiden .
Eine aktuelle Forschungsfrage ist, ob diese zufallsgesteuerte kontinuierliche Veränderung ausreicht, um die Sprachvielfalt auf der Erde zu erklären. Dieser Frage haben wir uns 2018 mit einem internationalen Team gewidmet . Wir haben dazu mehr als 6.000 Stammbäume aus 46 Sprachfamilien untersucht. Dabei haben wir geographische Daten zu den Verbreitungsgebieten der jeweiligen Sprachen berücksichtigt, also etwa die Höhe über dem Meeresspiegel, die Entfernung zu Ozeanen, Seen oder Flüssen und Klimadaten.
Kern unserer Befunde war die Feststellung, dass ein Standardmodell der Evolution von Sprachen mit einer konstanten Änderungsrate – also ein zufälliger Drift – mit der tatsächlichen Struktur der Stammbäume in vielen Fällen nicht übereinstimmt. Gleichzeitig hat sich auch gezeigt, dass wir aus unseren Daten kein Modell erstellen können, das für alle Sprachen und Regionen gleichermaßen passt: Weltweit scheinen unterschiedliche Umweltfaktoren die Entwicklung und Auffächerung unterschiedlich stark zu beeinflussen.
Neben geographischen Besonderheiten wie abgelegenen Tälern, zerklüfteten Höhen, Meeresnähe oder Wüstenregionen, können auch kulturelle Besonderheiten eine Rolle spielen: Das zeigt sich beispielsweise in Papua-Neuguinea, wo rund 800 verschiedene Sprachen existieren – auf einer Fläche vergleichbar mit der Deutschlands . Es ist wahrscheinlich, dass diese extreme Auffächerung darin begründet liegt, dass Dörfer und Gemeinschaften sich hier stark über Sprache identifizieren und abgrenzen.
Eine weitere – momentan kontrovers diskutierte – Hypothese lautet, dass Kultur und Lebensstil sich auf die Anatomie und damit ebenfalls auf die Sprache auswirken können . So haben Kollegen aus der Schweiz festgestellt, dass sich mit dem Übergang vom Leben als Jäger und Sammler zum Ackerbau in der Jungsteinzeit die Anatomie des Kauapparats verändert hat – hin zum Überbiss, bei dem die oberen Schneidezähne vor den unteren stehen. Damit lassen sich so genannte labiodentale Laute wie „f“ oder „v“ leichter aussprechen als mit einem Aufbiss, bei dem die Schneidezähne exakt aufeinander stehen. Das Forscherteam argumentiert, dass sich zusammen mit vermehrtem Ackerbau und verstärktem Verarbeiten von Nahrung auch die labiodentalen Laute in den indogermanischen Sprachen verbreitet haben.
Wichtig ist aber auch zu erwähnen, dass sich Sprachen nicht nur auffächern. Aktuell erleben wir ein vermehrtes Aussterben von Sprachen. Eine 2021 veröffentlichte Studie stellt unterschiedliche Faktoren des Aussterbens von Sprachen gegenüber. Zu den Gründen zählen Globalisierung – rund 50 Prozent der Menschen sprechen eine der Weltsprachen wie Englisch, Chinesisch oder Spanisch –, Umsiedlung in urbane Räume und bessere Straßennetze. Je besser vormals isolierte Gruppen angebunden sind, umso größer ist die Gefahr, dass ihre Sprache verloren geht. Um dem Sprach- und Identitätsverlust vorzubeugen, sind Projekte zur Dokumentation und Revitalisierung notwendig. Ein erfolgreiches Beispiel ist die Wiederbelebung des Hebräischen in Form des Neuhebräischen (Ivrit), das heute in Israel als Standardsprache gesprochen wird.
Aufgezeichnet von Stefanie Reinberger