Dem Gehirn beim Lernen zusehen
Göttinger Forschungsteam entdeckt strukturelle Veränderungen in den Gehirnen erwachsener Mäuse, wie sie bei jungen Tieren auftreten
Veröffentlicht: 08.03.2021
Das Verständnis der zellulären und molekularen Mechanismen, welche der „Plastizität“ des Gehirns zugrunde liegen, ist entscheidend für die Erklärung vieler Krankheiten und Leiden. Die Plastizität sorgt dafür, dass das Gehirn lernen, sich entwickeln und umorganisieren kann. Neurowissenschaftlerinnen und Neurowissenschaftlern der Universität und Universitätsmedizin Göttingen (UMG) ist es nun gelungen, Synapsen, also die winzigen Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, in wachen, erwachsenen Mäusen wiederholt abzubilden. Dabei entdeckten sie erstmals, dass Neuronen im Gehirn erwachsener Tiere im primären visuellen Kortex mit einer erhöhten Anzahl „stiller Synapsen“ (d.h. neu gebildeter Synapsen, die inaktiviert sind), denen ein bestimmtes Protein (PSD-95) fehlt, strukturelle Veränderungen aufweisen, die bisher nur bei jungen Mäusen beobachtet wurden. Die Ergebnisse dieser Studie des Sonderforschungsbereichs 889 „Zelluläre Mechanismen sensorischer Verarbeitung“ sind in der Fachzeitschrift PNAS erschienen.
Es ist bekannt, dass es während der frühen Gehirnentwicklung kritische Phasen gibt, in denen das Gehirn besonders plastisch ist und individuelle Erfahrungen dazu führen, dass neuronale Schaltkreise neu organisiert und angepasst werden. In sich entwickelnden Gehirnen sind stille Synapsen häufig und sie helfen, die Verbindungen zwischen den Hauptneuronen funktionell zu optimieren. Die Forschungsteams von Prof. Dr. Siegrid Löwel (Universität Göttingen) und Prof. Dr. Oliver Schlüter (UMG) hatten bereits herausgefunden, dass die Reifung stiller Synapsen das postsynaptische Dichteprotein-95 (PSD-95) benötigt und frühe kritische Perioden schließt. Die spezifischen Prozesse, die bestimmen, ob synaptische Verbindungen erfahrungsabhängig erhalten oder abgebaut werden, waren jedoch weitgehend unbekannt.
Um dies zu untersuchen, bildeten die Teams Neuronen aus der Sehrinde der Maus vor und nach spezifischer Reizung eines Auges mit einem Zwei-Photonen-Mikroskop ab. Erstautor Rashad Yusifov von der Universität Göttingen erklärt: „Frühere Studien haben in der Regel anästhesierte Mäuse verwendet, aber wir wissen jetzt, dass die Narkose selbst die neuronale Plastizität beeinflussen kann, weshalb wir die aktuelle Studie an wachen Tieren durchgeführt haben. Diese anspruchsvolle Technik, mit der wiederholt sehr kleine Strukturen – etwa ein Tausendstel eines Millimeters – abgebildet werden können, ist nur in wenigen Labors weltweit möglich. Es können damit sogenannte dendritische Dornen – Zellfortsätze von Nervenzellen, die Reize aufnehmen können – beobachtet werden.“
Die Forscherinnen und Forscher entdeckten, dass Neuronen im Gehirn erwachsener Tiere, denen PSD-95 fehlt, einen verstärkten erfahrungsabhängigen Dornenabbau aufweisen – ein Effekt, der bisher nur bei jungen Tieren beobachtet wurde. Aufbauend auf ihren früheren Entdeckungen zeigt diese Teamarbeit, dass Neuronen ohne PSD-95 sowohl funktionelle als auch strukturelle Merkmale der Plastizität aufweisen, die mit einer kritischen Periode verbunden sind. Das bedeutet, dass diese Neuronen eine „jugendliche Fähigkeit“ haben, die Nervenzellverschaltungen, also Verbindungen zwischen Nervenzellen bis ins Erwachsenenalter umzustrukturieren. Seniorautorin Prof. Dr. Siegried Löwel von der Universität Göttingen sagt: „Unsere Ergebnisse werden helfen, die Regeln der Gehirnentwicklung, welche dem Lernen zugrunde liegen, besser zu verstehen. Zudem eröffnen sie neue Wege, um Konzepte für den klinischen Alltag zu entwickeln, welche die Regeneration und Rehabilitation erkrankter und verletzter Gehirne fördern."
Plastizität
Plastizität/-/neuroplasticity
Der Begriff beschreibt die Fähigkeit von Synapsen, Nervenzellen und ganzen Hirnarealen, sich abhängig vom Grad ihrer Nutzung zu verändern. Mit synaptischer Plastizität ist die Eigenschaft von Synapsen gemeint, ihre Erregbarkeit auf die Intensität der Reize einzustellen, die sie erreichen. Daneben unterliegen auch Größe und Vernetzungsgrad unterschiedlicher Hirnbereiche einem Wandel, der von ihrer jeweiligen Aktivität abhängt. Dieses Phänomen bezeichnen Neurowissenschaftler als corticale Plastizität.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Der Cortex cerebri, kurz Cortex genannt, bezeichnet die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
Synapse
Synapse/-/synapse
Eine Synapse ist eine Verbindung zwischen zwei Neuronen und dient deren Kommunikation. Sie besteht aus einem präsynaptischen Bereich – dem Endknöpfchen des Senderneurons – und einem postsynaptischen Bereich – dem Bereich des Empfängerneurons mit seinen Rezeptoren. Dazwischen liegt der sogenannte synaptische Spalt.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Originalpublikation
Yusifov R, Tippmann A, Staiger JF, Schlüter OM* und Löwel S* Spine dynamics of PSD-95-deficient neurons in the visual cortex link silent synapses to structural cortical plasticity, PNAS 2021. Vol. 118 No. 10 e2022701118, DOI: https://doi.org/10.1073/pnas.2022701118