Die Wurzeln chronischer Schmerzen verstehen

© Lewin Lab
Bild der Piezo2-Genexpression (in Magenta dargestellt) in Schnitten aus dem lumbalen Spinalwurzelganglien von Mäusen.

Das Team von Gary Lewin am Max Delbrück Center hat einen Ionenkanal identifiziert, der zu chronischen Schmerzen beiträgt. Dies könnte auf einen neuen Angriffspunkt für Schmerzmittel hindeuten. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift „Brain“ veröffentlicht.

Quelle: Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin

Veröffentlicht: 11.07.2024

Forscher*innen um Oscar Sánchez-Carranza aus der Arbeitsgruppe von Professor Gary Lewin am Max Delbrück Center haben eine neue Funktion für das PIEZO2-Protein identifiziert: Es vermittelt eine Überempfindlichkeit bei chronischen Schmerzen. Die Ergebnisse deuten auf ein mögliches neues Ziel für Schmerzmittel hin. Sie könnten auch erklären, warum sich Schmerzmedikamente, die auf spannungsgesteuerte Natriumkanäle abzielen, in der Klinik als wenig geeignet erwiesen haben. Die Studie wurde in der Fachzeitschrift „Brain“, einer führenden Fachzeitschrift für Neurologie, veröffentlicht.

„Es gibt eine Korrelation zwischen chronischen Schmerzen und der Sensibilisierung von Schmerzrezeptoren beim Menschen, den Nozizeptoren“, sagt Lewin. „Unsere Studie zeigt, dass der PIEZO2-Kanal ein entscheidender Vermittler von sensorischen Signalen ist, die chronische Schmerzen aufrechterhalten.“

Das PIEZO2-Protein bildet einen Ionenkanal in menschlichen sensorischen Rezeptoren. Frühere Studien haben gezeigt, dass der Ionenkanal an der Kommunikation des Tastsinns mit dem Gehirn beteiligt ist. Menschen mit „Loss of Function“-Mutationen im PIEZO2-Gen reagieren weit weniger empfindlich auf sanfte Berührungen oder Vibrationen. Im Gegensatz dazu werden bei Patient*innen mit „Gain-of-Function-Mutationen“ in PIEZO häufig komplexe Entwicklungsstörungen diagnostiziert. Ob jedoch Gain-of-Function-Mutationen für die mechanische Überempfindlichkeit verantwortlich sind, ist nie bewiesen worden. Die englische Bezeichnung „Gain-of-function-Mutation“ bedeutet: Das Gen kann hinterher mehr als vorher.

Ionenkanal

Ionenkanal/-/ion channel

Ionenkanäle sind in die Zellmembran von Nervenzellen und auch allen anderen Zellen im Körper eingelagert. Sie ermöglichen den Übertritt elektrisch geladener Teilchen, den Ionen, über die Zellmembran ins Zellinnere und nach draußen. Sie können somit das Membranpotenzial einer Zelle beeinflussen, und ein Aktionspotenzial hervorrufen. Eine Vielzahl verschiedener Ionenkanäle ist bekannt. Normalerweise weisen Ionenkanäle eine spezifische Durchlässigkeit nur für eine Art von Ionen auf, z.B. für Natriumionen oder für Kaliumionen. Diese werden entsprechend als Natriumkanäle oder Kaliumkanäle bezeichnet.

Rezeptor

Rezeptor/-/receptor

Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.

Gen

Gen/-/gene

Informationseinheit auf der DNA. Den Kernbestandteil eines Gens übersetzen darauf spezialisierte Enzyme in so genannte Ribonukleinsäure (RNA). Während manche Ribonukleinsäuren selbst wichtige Funktionen in der Zelle ausführen, geben andere die Reihenfolge vor, in der die Zelle einzelne Aminosäuren zu einem bestimmten Protein zusammenbauen soll. Das Gen liefert also den Code für dieses Protein. Zusätzlich gehören zu einem Gen noch regulatorische Elemente auf der DNA, die sicherstellen, dass das Gen genau dann abgelesen wird, wenn die Zelle oder der Organismus dessen Produkt auch wirklich benötigen.

Mutation sensibilisiert Nozizeptoren erheblich

Um den Zusammenhang zu untersuchen, erzeugte Sánchez-Carranza zwei Stämme der „Gain-of-Function“-Mäuse, die jeweils eine andere Version eines mutierten PIEZO2-Gens trugen. Er ging davon aus, dass die Berührungsrezeptoren dieser Mäuse hochempfindlich sein würden. In zellbiologischen Experimenten stellte das Team fest, dass PIEZO2-Mutationen  die Aktivität des Ionenkanals stark beeinflussen. Eine Mutation bewirkt beispielsweise, dass sich der Kanal mit zehnmal weniger Kraft öffnet als normale, nicht mutierte Kanälen.

Mit elektrophysiologischen Methoden, die die AG Lewin entwickelt hat, maßen Sánchez-Carranza und seine Kolleg*innen die elektrische Aktivität in sensorischen Neuronen, die aus den genveränderten Mäusen isoliert wurden. Sie fanden heraus, dass die Mutationen nicht nur die Berührungsrezeptoren wie erwartet sensibilisierten, sondern auch nozizeptive Rezeptoren – Neuronen, die schmerzhafte mechanische Reize erkennen – deutlich empfindlicher für mechanische Reize machten. Darüber hinaus entdeckten die Forschenden, dass die Nozizeptoren durch mechanische Reize aktiviert wurden, die üblicherweise lediglich als leichte Berührung empfunden würden.

„Normalerweise muss die Haut fast quetschen, um Nozizeptoren zu aktivieren“, erklärt Sánchez-Carranza. „Die Nozizeptoren der transgenen Mäuse wurden dagegen bereits durch mechanische Einwirkung ausgelöst, die sonst als Berührung wahrgenommen würde. Sie waren unglaublich empfindlich.“

Dass eine einzige Mutation in PIEZO2 ausreichte, um die Physiologie der Nozizeptoren von einem Neuronentyp auf einen anderen zu verändern, sei besonders überraschend, sagt Lewin. Noch wichtiger aber ist, dass die Neuronen weiter feuerten, auch wenn der Reiz entfernt wurde. Die Studie bringt erstmals Gain-of-Function-Mutationen im PIEZO2-Gen mit Schmerzrezeptoren in Verbindung.

 

Rezeptor

Rezeptor/-/receptor

Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Nozizeptor

Nozizeptor/-/nociceptors

Nozizeptoren sind die Schmerzrezeptoren im Körper. Sie reagieren auf spitze Reize, auf Hitze oder auf chemische Reize wie Säure.
Sie reagieren also auf eine drohende oder bereits eingetretene Verletzung von Gewebe. Beim menschlichen Körper gibt es in jedem Gewebe Nozizeptoren außer im Gehirn und der Leber.

PIEZO2 könnte an Schmerzsyndromen wie Fibromyalgie beteiligt sein

Klinische Studien haben gezeigt, dass bei Patient*innen mit chronischen Schmerzsyndromen wie Fibromyalgie und Small-Fiber-Neuropathien die C-Faser-Nozizeptoren, also die sensorischen Rezeptoren, die Schmerzen auslösen, übermäßig aktiv sind. Als Forschende die Aktivität von Nozizeptoren in diesen Fällen aufzeichneten, stellten sie fest, dass diese ohne jeglichen mechanischen Reiz aktiv waren. Allerdings war der Mechanismus unklar.

„Wir zeigen, dass wir allein durch die Veränderung einer Aminosäure in PIEZO2 tatsächlich viel von dem nachahmen können, was bei chronischen Schmerzen in den C-Fasern geschieht“, sagt Lewin. Beim Menschen „könnte PIEZO2 an vielen der genannten Erkrankungen beteiligt sein.“ Nozizeptive Neuronen sind die größte Art von sensorischen Neuronen, die die Haut ausstatten – wir Menschen haben viermal mehr Schmerzrezeptoren in der Haut als Tastrezeptoren.

Laut einer Studie der U.S. National Institutes of Health aus dem Jahr 2023 leiden bis zu 20 Prozent der erwachsenen Bevölkerung an chronischen Schmerzen, die sich mit den vorhandenen Medikamenten schlecht behandeln lassen. Dieselbe NIH-Studie ergab, dass zwei Drittel der Menschen, die 2019 über chronische Schmerzen klagten, auch ein Jahr später noch daran litten.

Die Ergebnisse deuten nun darauf hin, dass ein bestimmter Aspekt des Öffnungsmechanismus des PIEZO2-Kanals durch neue Schmerzmittel gezielt angesteuert werden könnte. Viele Bemühungen, neue Analgetika zu entwickeln, hätten sich bislang auf spannungsgesteuerte Natriumkanäle konzentriert – mit begrenztem Erfolg, sagt Lewin. „Wenn neue Medikamente die Ursache der Sensibilisierung von Nozizeptoren angehen, könnten sie Patient*innen mit chronischen Schmerzen Linderung verschaffen.“

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Nozizeptor

Nozizeptor/-/nociceptors

Nozizeptoren sind die Schmerzrezeptoren im Körper. Sie reagieren auf spitze Reize, auf Hitze oder auf chemische Reize wie Säure.
Sie reagieren also auf eine drohende oder bereits eingetretene Verletzung von Gewebe. Beim menschlichen Körper gibt es in jedem Gewebe Nozizeptoren außer im Gehirn und der Leber.

Originalpublikation

Oscar Sánchez Carranza, Sampurna Chakrabarti, Johannes Kühnemund, et al.(2024): „Piezo2 voltage-block regulates mechanical pain sensitivity.” Brain, DOI: 10.1101/2022.10.04.510762

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