Gehirnaktivität im Schlaf: Die Atmung gibt den Takt vor
LMU-Wissenschaftler haben gezeigt, dass die Atmung Prozesse im Gehirn koordiniert, die für die Abspeicherung von Informationen während Schlaf und Ruhe wichtig sind.
Veröffentlicht: 24.01.2022
Während wir schlafen, ist das Gehirn keineswegs abgeschaltet, sondern mit dem Sichern wichtiger Erinnerungen des Tages beschäftigt. Um die Informationsübertragung zwischen den Gehirnregionen zu koordinieren, werden diese synchronisiert. Die Mechanismen, die diese Synchronisation über mehrere Hirnregionen hinweg ermöglichen, sind jedoch noch nicht gut verstanden. Bisher wurden angenommen, dass korrelierte Aktivitätsmuster innerhalb des Gehirns beteiligt sind. Die LMU-Neurowissenschaftler Prof. Anton Sirota und Dr. Nikolas Karalis konnte nun jedoch zeigen, dass ein anderer „Haupttaktgeber“ die verschiedenen Gehirnregionen steuert und miteinander synchronisiert: die Atmung.
Die Atmung ist der beständigste und wichtigste Körperrhythmus und übt eine starke physiologische Wirkung auf das autonome Nervensystem aus. Es ist bekannt, dass sie ein breites Spektrum kognitiver Funktionen wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit und Denkstrukturen moduliert. Welche Mechanismen ihrem Einfluss die kognitiven Funktionen und das Gehirn zugrunde liegen, ist jedoch weitgehend unbekannt.
Die Wissenschaftler führten im Mausmodell groß angelegte elektrophysiologische In-vivo-Untersuchungen von Tausenden Neuronen im gesamten limbischen System durch. Dabei fanden sie, dass die Atmung die neuronale Aktivität in allen untersuchten Hirnregionen – Hippocampus, Kortex, Thalamus, Amygdala und Nucleus accumbens – synchronisiert und koordiniert, indem sie die Erregbarkeit dieser neuronalen Schaltkreise unabhängig vom Geruchssinn moduliert. „Damit konnten wir die Existenz eines neuen nicht-olfaktorischen, intrazerebralen Mechanismus nachweisen, der für die Modulierung verteilter Schaltkreise durch die Atmung verantwortlich ist und den wir als „respiratory corollary discharge“ bezeichnen“, sagt Karalis, der derzeit am Friedrich Miescher Institute for Biomedical Research in Basel forscht. „Unsere Ergebnisse belegen die Existenz einer bisher unbekannten Verbindung zwischen den respiratorischen und limbischen Schaltkreisen und bedeuten eine Abkehr von der üblichen Annahme, dass die Atmung die Hirnaktivität über olfaktorische Inputs moduliert“, unterstreicht Sirota.
Der neue Mechanismus vermittelt die Koordinierung der schlafbezogenen Aktivität, die für die Gedächtniskonsolidierung von wesentlicher Bedeutung ist, und ermöglicht die Ko-Modulation der Dynamik in Cortex und Hippocampus. Nach Ansicht der Autoren stellen diese Ergebnisse einen bedeutenden Fortschritt dar und liefern die Grundlage für neue mechanistische Theorien, die den Atemrhythmus als grundlegenden Mechanismus für die Kommunikation verteilter Systeme einbeziehen.
Autonomes Nervensystem
Autonomes Nervensystem/-/autonomous nervous system
Der Teil des Nervensystems, der die Vitalfunktionen – wie Atmung, Herzschlag, Blutdruck – steuert. Unterteilt wird das autonome Nervensystem in einen sympathischen, anregenden, und einen parasympathischen, entspannenden Bereich.
Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit/-/attention
Aufmerksamkeit dient uns als Werkzeug, innere und äußere Reize bewusst wahrzunehmen. Dies gelingt uns, indem wir unsere mentalen Ressourcen auf eine begrenzte Anzahl von Bewusstseinsinhalten konzentrieren. Während manche Stimuli automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können wir andere kontrolliert auswählen. Unbewusst verarbeitet das Gehirn immer auch Reize, die gerade nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Amygdala
Amygdala/Corpus amygdaloideum/amygdala
Ein wichtiges Kerngebiet im Temporallappen, welches mit Emotionen in Verbindung gebracht wird: es bewertet den emotionalen Gehalt einer Situation und reagiert besonders auf Bedrohung. In diesem Zusammenhang wird sie auch durch Schmerzreize aktiviert und spielt eine wichtige Rolle in der emotionalen Bewertung sensorischer Reize. Die Amygdala – zu Deutsch Mandelkern – wird zum limbischen System gezählt.
Nucleus
Nucleus/Nucleus/nucleus
Nucleus, Plural Nuclei, bezeichnet zweierlei: Zum einen den Kern einer Zelle, den Zellkern. Zum zweiten eine Ansammlung von Zellkörpern im Gehirn.
Nucleus accumbens
Nucleus accumbens/Nucleus accumbens/nucleus accumbens
Der Nucleus accumbens ist ein Kern in den Basalganglien, der dopaminerge (auf Dopamin reagierende) Eingänge vom ventralen Tegmentum bekommt. Er wird mit Belohnung und Aufmerksamkeit, aber auch mit Sucht assoziiert. In der Schmerzverarbeitung ist er an motivationalen Aspekten des Schmerzes (Belohnung, Schmerzabnahme) sowie an der Wirkung von Placebos beteiligt.
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Der Cortex cerebri, kurz Cortex genannt, bezeichnet die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
Hippocampus
Hippocampus/Hippocampus/hippocampual formatio
Der Hippocampus ist der größte Teil des Archicortex und ein Areal im Temporallappen. Er ist zudem ein wichtiger Teil des limbischen Systems. Funktional ist er an Gedächtnisprozessen, aber auch an räumlicher Orientierung beteiligt. Er umfasst das Subiculum, den Gyrus dentatus und das Ammonshorn mit seinen vier Feldern CA1-CA4.
Veränderungen in der Struktur des Hippocampus durch Stress werden mit Schmerzchronifizierung in Zusammenhang gebracht. Der Hippocampus spielt auch eine wichtige Rolle bei der Verstärkung von Schmerz durch Angst.
Originalpublikation
Nikolaos Karalis, Anton Sirota: Breathing coordinates cortico-hippocampal dynamics in mice during offline states. Nature Communications 2022