Neue Klasse von hochwirksamen Hemmstoffen zum Schutz vor Neurodegeneration

© Hilmar Bading
Interaktion der Interface Inhibitoren Compound 8 und Compound 19 innerhalb ihrer Bindungstaschen der Proteinkontaktfläche.

Wie ein spezieller Rezeptor zum Nervenzelltod führen kann, haben Neurobiologen der Universität Heidelberg aufgeklärt. Ihre grundlegenden Erkenntnisse zu neurodegenerativen Prozessen führten die Wissenschaftler zugleich zu einem völlig neuen therapeutischen Wirkstoffprinzip. Sie entdeckten eine neue Klasse von Hemmstoffen, die in Untersuchungen an Mausmodellen hochwirksam zum Schutz der Nervenzellen beitragen können. Diese neuartige Wirkstoffklasse eröffnet Perspektiven, um derzeit nicht behandelbare Erkrankungen des Nervensystems wirksam zu bekämpfen.

Quelle: Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Veröffentlicht: 08.10.2020

Neue Klasse von hochwirksamen Hemmstoffen zum Schutz vor Neurodegeneration />Heidelberger Neurobiologen entschlüsseln im Mausmodell zentralen Mechanismus degenerativer Prozesse im Gehirn und entwickeln neues therapeutisches Wirkstoffprinzip

Wie ein spezieller Rezeptor, der in den Kontaktstellen der Nervenzellen üblicherweise ein genetisches Schutzprogramm anschaltet, außerhalb synaptischer Kontakte zum Nervenzelltod führen kann, haben Neurobiologen der Universität Heidelberg aufgeklärt. Ihre grundlegenden Erkenntnisse zu neurodegenerativen Prozessen führten die Forscher des Interdisziplinären Zentrums für Neurowissenschaften (IZN) zugleich zu einem völlig neuen therapeutischen Wirkstoffprinzip. Sie entdeckten eine neue Klasse von Hemmstoffen, die in Untersuchungen an Mausmodellen hochwirksam zum Schutz der Nervenzellen beitragen können. Diese neuartige Wirkstoffklasse eröffnet erstmals Perspektiven, um derzeit nicht behandelbare Erkrankungen des Nervensystems wirksam zu bekämpfen, wie Prof. Dr. Hilmar Bading betont. Die Forschungsergebnisse wurden in „Science“ veröffentlicht.

Im Mittelpunkt der Forschungen von Prof. Bading und seinem Team steht der sogenannte NMDA-Rezeptor. Bei diesem Rezeptor handelt es sich um ein Ionenkanalprotein, das von einem biochemischen Botenstoff – dem Neurotransmitter Glutamat – aktiviert wird. Er sorgt dafür, das Kalzium in die Zelle einströmen kann. Das Kalziumsignal setzt in der Synapse Plastizitätsvorgänge in Gang, pflanzt sich aber auch bis in den Zellkern fort und schaltet dort ein genetisches Schutzprogramm an. Glutamat-aktivierte NMDA-Rezeptoren, die sich in den Kontaktstellen der Nervenzellen befinden, haben eine Schlüsselfunktion im Gehirn, da sie dort zu Lern- und Gedächtnisprozessen und Nervenzellschutz beitragen. Die gleichen Rezeptoren sind aber auch außerhalb synaptischer Kontakte zu finden. Diese extra-synaptischen NMDA-Rezeptoren stellen eine immanente Bedrohung dar, da ihre Aktivierung zum Zelltod führen kann. Normalerweise sorgen effiziente zelluläre Aufnahmesysteme für das Glutamat dafür, dass diese Rezeptoren nicht aktiviert werden und Nervenzellen unbeschädigt bleiben.

Bei Erkrankungen kann sich diese Situation dramatisch ändern. Werden etwa nach einem Schlaganfall Teile des Gehirns nicht ausreichend mit Sauerstoff versorgt, hebeln diese Störungen der Durchblutung die Glutamat-Aufnahmesysteme aus. Der Glutamat-Level außerhalb der Synapsen steigt an, wodurch die extra-synaptischen NMDA-Rezeptoren aktiviert werden. Die Folgen sind Nervenzellschädigungen und Nervenzelltod, die Einschränkungen der Gehirnfunktionen nach sich ziehen. Erhöhte Glutamat-Level außerhalb synaptischer Kontakte treten aber nicht nur bei Durchblutungsstörungen des Gehirns auf. „Es deutet vieles darauf hin, dass bei einer Reihe von neurodegenerativen Erkrankungen die toxischen Eigenschaften der extra-synaptischen NMDA-Rezeptoren eine zentrale Rolle spielen“, erläutert Prof. Bading. Nach Angaben des Wissenschaftlers betrifft dies vor allem Morbus Alzheimer und die Amyotrophe Lateralsklerose mit den Folgen Muskelschwäche und Muskelschwund sowie Netzhautdegenerationen, aber möglicherweise auch Gehirnschädigungen nach Infektionen mit Viren oder Parasiten.

Während die Glutamat-aktivierten NMDA-Rezeptoren in den Kontaktstellen der Nervenzellen zum Aufbau eines Nervenschutzschildes beitragen, werden sie außerhalb der Synapsen von Dr. Jekyll zu Mr. Hyde. „Zu verstehen, warum extra-synaptische NMDA Rezeptoren zum Nervenzelltod führen, ist der Schlüssel zur Entwicklung neuroprotektiver Therapien“, so Prof. Bading. Genau hier setzen die Heidelberger Neurobiologen an: Mit ihren Untersuchungen an Mausmodellen konnten sie zeigen, dass die NMDA-Rezeptoren, die sich außerhalb der synaptischen Kontakte befinden, mit einem anderen Ionenkanalprotein eine Art „Todeskomplex“ bilden. Dieses Protein mit der Bezeichnung TRPM4 hat vielfältige Funktionen im Körper und spielt zum Beispiel im Herz-Kreislauf-System oder bei der Immunantwort eine Rolle. Im Gehirn, so die neuen Erkenntnisse der Forscher um Hilmar Bading, verleiht TRPM4 den extra-synaptischen NMDA-Rezeptoren die toxischen Eigenschaften.

Die Wissenschaftler haben mithilfe molekularer und proteinbiochemischer Methoden die Kontaktflächen der beiden interagierenden Proteine identifiziert. Mit diesem Wissen konnten sie mit strukturbasierten Suchverfahren Substanzen ermitteln, die genau diese Verbindung auflösen und damit den „Todeskomplex“ zerlegen und inaktivieren können. Diese neue Klasse von Hemmstoffen – von den Heidelberger Forschern „Interface Inhibitoren“ genannt, da sie die Haftung der Kontaktflächen zwischen den extra-synaptischen NMDA-Rezeptoren und TRPM4 auflösen – erwiesen sich als hochwirksame Schutzfaktoren für Nervenzellen. „Wir arbeiten hier mit einem völlig neuen Wirkstoffprinzip. Mit den Interface Inhibitoren verfügen wir über ein Instrument, das die toxischen Eigenschaften von extra-synaptischen NMDA-Rezeptoren selektiv abtrennen kann“, erläutert Prof. Bading. 

In Mausmodellen für Schlaganfall oder Netzhautdegeneration konnten Prof. Bading und sein Team bereits die Wirksamkeit der neuen Hemmstoffe aufzeigen. Nach den Worten des Heidelberger Wissenschaftlers besteht begründete Hoffnung, dass solche Interface Inhibitoren als oral verabreichbare Breitband-Neuroprotektiva perspektivisch Behandlungsmöglichkeiten für gegenwärtig nicht therapierbare neurodegenerative Erkrankungen bieten. „Bis zu einer möglichen Zulassung als Arzneimittel für den Menschen wird es jedoch noch mehrere Jahre dauern, da die neuen Wirkstoffe zunächst eine Reihe von präklinischen und klinischen Prüfphasen erfolgreich durchlaufen müssen.“

Neurodegeneration

Neurodegeneration/-/neurodegeneration

Sammelbegriff für Krankheiten, in deren Verlauf Nervenzellen sukzessive ihre Struktur oder Funktion verlieren, bis sie teilweise sogar daran zugrunde gehen. Vielfach sind falsch gefaltete Proteine der Auslöser – wie etwa bestimmte Formen der Eiweiße Beta-​Amyloid und Tau im Falle von Alzheimer. Bei anderen Krankheiten, beispielsweise bei Parkinson oder Chorea Huntington, werden Proteine innerhalb der Neurone nicht richtig abgebaut. In der Folge lagern sich dort toxische Aggregate ab, was zu den jeweiligen Krankheitserscheinungen führt. Während Chorea Huntington eindeutig genetisch bedingt ist, scheint es bei Parkinson und Alzheimer allenfalls bestimmte Ausprägungsformen von Genen zu geben, welche ihre Entstehung begünstigen. Keine dieser neurodegenerativen Erkrankungen kann bisher geheilt werden.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Neurodegeneration

Neurodegeneration/-/neurodegeneration

Sammelbegriff für Krankheiten, in deren Verlauf Nervenzellen sukzessive ihre Struktur oder Funktion verlieren, bis sie teilweise sogar daran zugrunde gehen. Vielfach sind falsch gefaltete Proteine der Auslöser – wie etwa bestimmte Formen der Eiweiße Beta-​Amyloid und Tau im Falle von Alzheimer. Bei anderen Krankheiten, beispielsweise bei Parkinson oder Chorea Huntington, werden Proteine innerhalb der Neurone nicht richtig abgebaut. In der Folge lagern sich dort toxische Aggregate ab, was zu den jeweiligen Krankheitserscheinungen führt. Während Chorea Huntington eindeutig genetisch bedingt ist, scheint es bei Parkinson und Alzheimer allenfalls bestimmte Ausprägungsformen von Genen zu geben, welche ihre Entstehung begünstigen. Keine dieser neurodegenerativen Erkrankungen kann bisher geheilt werden.

NMDA-Rezeptor

NMDA-Rezeptor/-/NMDA receptor

Schaltstelle in der Membran von Neuronen, die nur unter ganz bestimmten Umständen aktiv wird: Zum einen müssen die Aminosäuren Glutamat oder Aspartat und Glycin an den Rezeptor andocken; zum anderen muss die postsynaptische Zelle depolarisiert sein. Sind diese beiden Voraussetzungen erfüllt, so öffnet sich ein Ionenkanal in der Mitte des Rezeptors und lässt Calcium-​Ionen in das Zellinnere hineinströmen. Auf den Calciumstrom kann die Zelle auf viele unterschiedliche Weisen antworten. NMDA-​Rezeptoren haben wir es beispielsweise zu verdanken, dass synaptische Verbindungen im Gehirn zeitlebens dazu in der Lage sind, sich zu verändern. Auch bei der Einspeicherung von Gedächtnisinhalten spielen sie eine wichtige Rolle.

Rezeptor

Rezeptor/-/receptor

Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.

Neurotransmitter

Neurotransmitter/-/neurotransmitter

Ein Neurotransmitter ist ein chemischer Botenstoff, eine Mittlersubstanz. An den Orten der Zell-​Zellkommunikation wird er vom Senderneuron ausgeschüttet und wirkt auf das Empfängerneuron erregend oder hemmend.

Glutamat

Glutamat/-/glutamate

Glutamat ist eine Aminosäure und der wichtigste erregende (exzitatorische) Neurotransmitter, der bei der Informationsübertragung zwischen Neuronen an deren Synapsen als Botenstoff dient.

Synapse

Synapse/-/synapse

Eine Synapse ist eine Verbindung zwischen zwei Neuronen und dient deren Kommunikation. Sie besteht aus einem präsynaptischen Bereich – dem Endknöpfchen des Senderneurons – und einem postsynaptischen Bereich – dem Bereich des Empfängerneurons mit seinen Rezeptoren. Dazwischen liegt der sogenannte synaptische Spalt.

Rezeptor

Rezeptor/-/receptor

Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.

NMDA-Rezeptor

NMDA-Rezeptor/-/NMDA receptor

Schaltstelle in der Membran von Neuronen, die nur unter ganz bestimmten Umständen aktiv wird: Zum einen müssen die Aminosäuren Glutamat oder Aspartat und Glycin an den Rezeptor andocken; zum anderen muss die postsynaptische Zelle depolarisiert sein. Sind diese beiden Voraussetzungen erfüllt, so öffnet sich ein Ionenkanal in der Mitte des Rezeptors und lässt Calcium-​Ionen in das Zellinnere hineinströmen. Auf den Calciumstrom kann die Zelle auf viele unterschiedliche Weisen antworten. NMDA-​Rezeptoren haben wir es beispielsweise zu verdanken, dass synaptische Verbindungen im Gehirn zeitlebens dazu in der Lage sind, sich zu verändern. Auch bei der Einspeicherung von Gedächtnisinhalten spielen sie eine wichtige Rolle.

Schlaganfall

Schlaganfall/Apoplexia cerebri/stroke

Bei einem Schlaganfall werden das Gehirn oder Teile davon zeitweilig nicht mehr richtig mit Blut versorgt. Dadurch kommt es zu einer Unterversorgung mit Sauerstoff und dem Energieträger Glukose. Häufigster Auslöser des Schlafanfalls ist eine Verengung der Arterien. Zu den häufigsten Symptomen zählen plötzliche Sehstörungen, Schwindel sowie Lähmungserscheinungen. Als Langzeitfolgen können verschiedene Arten von Gefühls– und Bewegungsstörungen auftreten. In Deutschland ging 2006 jeder dritte Todesfall auf einen Schlaganfall zurück.

Synapse

Synapse/-/synapse

Eine Synapse ist eine Verbindung zwischen zwei Neuronen und dient deren Kommunikation. Sie besteht aus einem präsynaptischen Bereich – dem Endknöpfchen des Senderneurons – und einem postsynaptischen Bereich – dem Bereich des Empfängerneurons mit seinen Rezeptoren. Dazwischen liegt der sogenannte synaptische Spalt.

Morbus Alzheimer

Morbus Alzheimer, Alzheimer-Krankheit/Morbus Alzheimer/Alzheimer's desease

Bislang unheilbare Form der Demenz, erstmals beschrieben von dem deutschen Psychiater Alois Alzheimer 1906. Zu den Symptomen gehören anfangs eine milde Vergesslichkeit und Orientierungsstörungen. Später kommt es zum Beispiel zu Sprachveränderungen und Gedächtnisverlust. Die Ursache ist noch unklar, es kommt jedoch zu pathologischen Eiweißablagerungen sowohl zwischen als auch in den Zellen. Betroffen sind corticale Areale.

rostral

rostral/-/rostral

Eine Lagebezeichnung – rostral bedeutet „zum Schnabel hin“ gelegen. Im Bezug auf das Nervensystem handelt es sich um eine Richtung entlang der neuralen Achse nach vorne, zum Gesicht hin.
Bei Tieren (ohne aufrechten Gang) ist die Bezeichnung einfacher, dort bedeutet sie immer nach vorne gelegen. Durch den aufrechten Gang des Menschen knickt das Gehirn im Bezug auf das Rückenmark ab, wodurch rostral auf Höhe des Rückens zu „oben“ wird.

Neurodegeneration

Neurodegeneration/-/neurodegeneration

Sammelbegriff für Krankheiten, in deren Verlauf Nervenzellen sukzessive ihre Struktur oder Funktion verlieren, bis sie teilweise sogar daran zugrunde gehen. Vielfach sind falsch gefaltete Proteine der Auslöser – wie etwa bestimmte Formen der Eiweiße Beta-​Amyloid und Tau im Falle von Alzheimer. Bei anderen Krankheiten, beispielsweise bei Parkinson oder Chorea Huntington, werden Proteine innerhalb der Neurone nicht richtig abgebaut. In der Folge lagern sich dort toxische Aggregate ab, was zu den jeweiligen Krankheitserscheinungen führt. Während Chorea Huntington eindeutig genetisch bedingt ist, scheint es bei Parkinson und Alzheimer allenfalls bestimmte Ausprägungsformen von Genen zu geben, welche ihre Entstehung begünstigen. Keine dieser neurodegenerativen Erkrankungen kann bisher geheilt werden.

Originalpublikation

J. Yan, C.P. Bengtson, B. Buchthal, A.M. Hagenston, H. Bading: Coupling of NMDA receptors and TRPM4 guides discovery of unconventional neuroprotectants. Science 370 (2020), doi: 10.1126/science.aay3302

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