Unterschätztes Stellwerk

Grafik: MW
Rückenmark
Autor: Michael Simm

Isoliert sitzt das Gehirn in seinem Schädel – ohne die komplex verschalteten Nervenbündel des Rückenmarks wäre es ganz schön einsam. Und dort wird mehr verarbeitet, als man so denkt. 

Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Norbert Weidner

Veröffentlicht: 31.08.2019

Niveau: leicht

Das Wichtigste in Kürze
  • Das Rückenmark verbindet das Gehirn mit dem Körper. Es besteht aus Nervenbahnen und Zellkörpern, die Signale in beide Richtungen übertragen.
  • Im Rückenmark lassen sich jeweils etwa ein halbes Dutzend auf- und absteigende Leitungen unterscheiden.
  • 31 Paare von Nervenbündeln – die Spinalnerven – übertragen Signale aus dem Körper zum Rückenmark und vom Rückenmark zu Muskeln und Drüsen.
  • Der bekannteste Reflex ist der Patellarsehnenreflex und wird vom Arzt genutzt, um die Intaktheit der Nervenbahnen zu prüfen.
  • Zwischengeschaltete Zellen – die Interneurone – und Weiterschaltungen in höhere Hirnregionen ermöglichen zusätzlich zu einfachen Reflexen auch eine Einflussnahme des Geistes auf die Schmerzwahrnehmung und die Atmung.
Bandscheibenvorfall

Einen Stoßdämpfer, der 70 Jahre oder mehr funktioniert, wird man bei Autos vergeblich suchen. Anders dagegen die Wirbelsäule, die in aller Regel ein Leben lang hält, sich an extreme Anforderungen anpasst, und keine Wartung braucht. Eine Schwachstelle aber hat unser Rücken, und die wird immerhin einem Viertel der Bevölkerung unter 60 Jahren zum Verhängnis: 23 Bandscheiben, die zwischen den Wirbeln sitzen, im Inneren eine gallertartige Masse tragen und von einem harten Ring aus Fasern umgeben sind. Sie erlauben es, dass die Wirbel sich gegeneinander bewegen und dämpfen gleichzeitig Schläge ab. Das funktioniert so lange gut, bis der Faserring spröde und unter einer schweren Belastung – wie ungeschickten Bewegungen oder allzu großen Lasten – rissig wird. Wenn der Gallertkern dann auf die Spinalnerven drückt, handelt es sich um einen Bandscheibenvorfall (lumbale Retikulopathie).

Die Bestätigung liefert eine Computertomografie oder Magnetresonanztomografie. Mit Schmerzmitteln und Bettruhe in der akuten Phase, dann einer frühen Mobilisierung, vergehen die Beschwerden in 90 Prozent aller Fälle binnen einiger Wochen wieder vollständig. Falls nicht, kann aber auch eine Operation erforderlich sein.

Spinalanästhesie

Unter den vielen Möglichkeiten, schwere Schmerzen zu betäuben, ist die Spinalanästhesie wohl eine der raffiniertesten. Statt den ganzen Körper mit Medikamenten zu fluten, betäuben spezialisierte Ärzte nur einen Teil des Rückenmarks, und unterbrechen damit gezielt die Weitergabe von Schmerzsignalen aus dem Körper an das Gehirn. Das Schmerzmittel wird dabei in Höhe der Lendenwirbelsäule durch die Bindegewebshäute in den Subarachnoidalraum gespritzt, wo es sich ausbreitet und die Spinalnerven betäubt. Ein Vorteil ist, dass der Patient dabei bei Bewusstsein bleibt. Das Verfahren wird bei Geburten eingesetzt, die per Kaiserschnitt erfolgen – seltener auch bei natürlichen Geburten –, sowie bei kleineren Eingriffen im Unterbauch- und Beckenbereich.

Zugegeben: Ohne Befehle „von oben“ läuft nichts. Und hätten wir am Ende der Befehlskette keine ausführenden Muskeln, wären die Kommandos aus der Schaltzentrale ebenfalls vergebens. Doch selbst wenn Gehirn und Muskeln bei bester Gesundheit sind, so bedarf es für das perfekte Zusammenspiel von Geist und Körper doch noch einer oftmals unterschätzten Komponente: Des Rückenmarks und all der Nerven, die ihm entspringen.

Kaum dicker als ein Bleistift durchzieht dieser Strang aus gebündelten Nervenfasern die Rückseite unseres Körpers. Gleich dreifach verpackt in Bindegewebshäute und nach allen Seiten gut abgesichert durch die knöcherne Wirbelsäule ist das Rückenmark offensichtlich besonders bedeutsam.

Ein grauer Schmetterling im weißen Rund

Im Querschnitt schon mit bloßem Auge gut zu erkennen sind die weiß erscheinenden, senkrecht verlaufenden Bündel von Nervenfasern. Diese Nervenfasern sind Axone, die teilweise sehr langen „Ausgangskabel“ der Nervenzellen, die Impulse von einem Neuron zum nächsten tragen: Vom Gehirn abwärts in das Rückenmark und von dort in den Körper. Andere Bahnen nehmen die gleichen Stationen, laufen aber in die Gegenrichtung vom Körper zum Gehirn. Beides fein säuberlich getrennt.

Axone werden durch Myelinscheiden ummantelt und weil dieses Myelin größtenteils aus Fett besteht, ist es weiß. Inmitten dieser „weißen Substanz“ liegt ein grauer „Schmetterling“, gebildet aus den Zellkörpern der Nervenzellen des Rückenmarks. Die Enden der Flügel dieses Schmetterlings werden in Richtung Bauchseite des Körpers als „Vorderhorn“ bezeichnet, analog dazu die hinteren, Richtung Rücken zeigenden Enden als „Hinterhorn“. Dazwischen liegt das „Seitenhorn“.

Schnittstelle zur Peripherie

Wie aber gelangen die Signale aus dem Rückenmark zu ihren Bestimmungsorten, zum Beispiel zu den etwa 600 Muskeln oder den zahlreichen Drüsen des Körpers? Und wie kommen die Sinnesinformationen aus dem Körper in das Rückenmark? Ein näherer Blick auf die Anatomie legt die Antwort nahe: Hier sieht man entlang der Wirbelsäule 31 Paare von Nervenbündeln – die Spinalnerven. Anders als Gehirn und Rückenmark gehören sie nicht zum zentralen, sondern bereits zum peripheren Nervensystem. 

Wie alle Nerven bestehen die Spinalnerven aus gebündelten Axonen. Die sensorischen Fasern sind für Körperempfindungen zuständig, wie Bauchgrimmen, Berührungen, Juckreiz. Sie werden als „aufsteigend“ oder „afferent“ bezeichnet und leiten ihre Impulse über das Hinterhorn ins Rückenmark. Umgekehrt laufen „absteigendende“, „efferente“ Nervenfasern über das Vorderhorn in den Körper, wo sie motorische Impulse an die Muskeln übergeben. Jeder Abschnitt des Rückenmarks versorgt dabei einen anderen Bereich des Körpers, fein säuberlich geordnet von unten nach oben. (Siehe interaktive Grafik Reiz und Rezeptor)

Aufsteigendes und absteigendes System „sprechen“ bereits im Rückenmark miteinander – oft bekommen motorische Neurone – über Interneurone als Schaltstelle – schon im Rückenmark Eingänge sensorischer Neurone. Die Motoneuronen berechnen dann aus den eingehenden Informationen, ob und wie der Körper reagieren soll.

Rezeptor

Rezeptor/-/receptor

Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.

Einfache Reaktionen, komplexe Verarbeitung

Im einfachsten Fall erfolgt die Antwort auf den Reiz quasi vollautomatisch als Reflex. Reflexe sparen Zeit, denn sie umgehen die komplexe Verarbeitung im Gehirn. Dafür ist die Reaktion immer gleich, wie etwa beim bekanntesten aller Reflexe, dem Patellarsehnenreflex. Ihn kennt man aus der ärztlichen Untersuchung, wenn der Arzt knapp unterhalb des Knies mit einem speziellen kleinen Hammer auf die dort verlaufende Patellarsehne schlägt. Die Sehne dehnt dann den Muskel, mit dem sie verbunden ist, der Reiz rast ins Rückenmark und wird prompt mit einer Gegenreaktion beantwortet, wodurch der Unterschenkel bei gesunden Menschen nach vorne schnellt.

Das Rückenmark leistet aber viel mehr als eine einfache Umschaltstation: Die auf- und absteigenden Bahnen verbinden den Körper nicht einfach mit dem Gehirn, sondern ermöglichen es, ähnlich dem Mischpult einer ausgefeilten Musikanlage, die eingehenden Signale zu filtern, anzuheben und fein zu justieren. Dieses Tuning findet teils im Rückenmark selbst statt, teils in verschiedenen Regionen des Gehirns. 

Zwei aufsteigende „Leitungen“ die fast gleich verlaufen, sind der Goll-Strang (Fascilus gracilis) und der Burdach-Strang (Fasciculus cuneatus). Sie führen von Haut- und Muskelrezeptoren der unteren bzw. oberen Körperhälfte über Spinalganglienzellen weiter ins Rückenmark, zum Hirnstamm und über Anschlussbahnen ins Zwischenhirn und die Hirnrinde. Erst dort entsteht ein Körperbewusstsein – in diesem Fall ein Gefühl für die Oberflächen und die Tiefen des Leibes.

Der Gowers-Strang (Tractus spinocerebellaris anterior) und der Flechsig-Strang (Tractus spinocerebellaris posterior) verbinden die Mechanorezeptoren des Körpers mit dem Kleinhirn. Schmerz- und Temperaturempfinden laufen ebenfalls auf eigenen aufsteigenden Bahnen, den vorderen und seitlichen Tractus spinothalamicus.

Wackelnde Zehen und aufrechter Gang

In die andere Richtung – vom Gehirn durchs Rückenmark in den Körper – verlaufen absteigende Bahnen wie die Pyramidenseitenstrangbahn und die Pyramidenvorderstrangbahn (Tractus corticospinalis lateralis und Tractus corticospinalis anterior). Ihnen ist es zu verdanken, dass wir mit den großen Zehen wackeln können, den Bauch einziehen, oder den Hintern zusammenkneifen. Auch wenn wir – in der Regel, ohne uns dessen bewusst zu sein – hochkomplexe Balanceakte vollbringen, sind absteigende Bahnen beteiligt. Denn Motorik ist ein komplexes Geschehen und zusätzlich zu den Pyramidenbahnen laufen fünf so genannte extrapyramidale Bahnen im Seitenstrang des Rückenmarks jeweils bis zu den Ganglienzellen im Vorderhorn, von wo die Signale zu den Muskeln fließen. Wer ein Bierglas hebt oder anderen den Vogel zeigt, ist auf diese Bahnen ebenso angewiesen wie jeder, der eine Treppe hinabsteigt oder auch nur in seinem Bürostuhl sitzt.

Eine Schlüsselrolle im Geschehen spielen die schon genannten Interneurone. Sie werden auch Schaltneurone genannt, weil sie die Verbindung zwischen ein- und ausgehenden Signalen herstellen. Je nach Art nutzen Interneurone verschiedene Botenstoffe wie Glycin, GABA, Serotonin oder Dopamin und wirken auf ihre Nachbarn entweder hemmend oder aktivierend. Die Motorneurone etwa, die tausende von Kontakten zu anderen Nervenzellen (Synapsen) haben können, erhalten den Großteil ihres Inputs von Interneuronen – sowohl aus dem gleichen als auch aus weiter entfernten Abschnitten des Rückenmarks. Viele Interneurone sind zudem untereinander in Form von Netzwerken verbunden, die einen rhythmischen Output erzeugen – die Grundlage für relativ automatische Bewegungen wie Kauen, Kratzen oder Gehen.

In ihrer Gesamtheit ermöglicht die komplexe Verschaltung bis hinauf in verschiedene Regionen des Gehirns zusätzlich zu den „einfachen“ Reflexen mitunter auch eine bewusste Einflussnahme des Geistes auf „eigentlich“ automatische Funktionen wie die Schmerzwahrnehmung oder die Atmung. Wie das genau funktioniert, beantwortet ein führendes Lehrbuch der Medizin: „Die supraspinalen Strukturen, die an der vernetzten Verarbeitung nozizeptiver Erregung beteiligt sind, sind komplex und Gegenstand intensiver medizinischer Forschung.“ Oder anders ausgedrückt: Auch 50 Jahre nach der Mondlandung weis die Menschheit noch nicht genau, wie das Nervenbündel auf unserer Rückseite im Detail funktioniert.

Zum Weiterlesen:

  • Neurological Aspects of Spinal Cord Injury, Herausgeber: Weidner, N., Rupp, R., Tansey, K.

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