Die vierte Dimension

Grafik: MW

Sie ist unsichtbar, lautlos und ziemlich kapriziös: Zeit im Gehirn zu erfassen, ist gar nicht so einfach. Ein großes Netzwerk versucht sich als Zeitmesser und kommt doch oft durcheinander.

Wissenschaftliche Betreuung: Dr. Isabell Winkler

Veröffentlicht: 01.05.2024

Niveau: leicht

Das Wichtigste in Kürze
  • Zeit ist kompliziert und schwer zu fassen. Die Physik charakterisiert sie als einen Marker wachsender Unordnung und als vierte Dimension eines Raum-Zeit-Kontinuums, die tatsächlich mal langsamer und mal schneller vergehen kann.
  • Ähnlich variabel scheint auch das Leben zu ticken. Die Zeitwahrnehmung kann je nach Lebensstil, Laune und Aufmerksamkeit erheblich schwanken.
  • Ein eigenes Sinnesorgan für die Zeit gibt es nicht. Stattdessen entsteht der Sinn für Zeit aus Berechnungen eines komplexen Netzwerks im Gehirn, das vielfältige Sinneseindrücke und Denkleistungen mit Erinnerungen abgleicht. An diesem Netzwerk sind vor allem Insellappen, Frontallappen, Gyrus cinguli, Temporallappen, Streifenkörper und Claustrum beteiligt.
  • Der Streifenkörper und das Claustrum spielen dabei eine besonders wichtige Rolle. Weil sie mit vielen anderen Hirnregionen gut vernetzt sind, können sie messen, wann deren Schwingungen zusammenfallen und daraus ein Verständnis von zeitlichen Intervallen konstruieren.
  • Zeitempfinden und wie wir den Raum und die Welt insgesamt erleben, sind eng miteinander verbunden. Das Erleben von Zeit ist eine wichtige Dimension unseres Bewusstseins.
  • Sind die am Zeitgefühle beteiligten Netzwerke gestört, zum Beispiel bei Aufmerksamkeitsstörungen, Schizophrenie oder Parkinson, häufen sich Fehler in der Zeiteinschätzung oder die innere Uhr geht schneller oder langsamer.
Wie lange ist das jetzt?

Unser Zeitgefühl hängt auch davon ab, welche Sprache(n) wir sprechen. Im Englischen und Schwedischen etwa wird die zeitliche Dauer oft als physische Distanz beschrieben, zum Beispiel eine kurze Pause. Im Griechischen und Spanischen hingegen werden eher physische Mengen zur Beschreibung von Zeitdauern verwendet; die Pause ist dann klein. 

Diese unterschiedlichen sprachlichen Bilder wirken sich direkt auf das Zeiteinschätzungsvermögen aus, wie Forscher  in einer Studie  zeigen konnten. Schwedischsprachige Menschen können beim Zeitmessen in die Irre geführt werden, wenn eine Linie auf einem Bildschirm länger wächst, als die tatsächlich verflossene Zeit vermuten lässt. Sie bleiben jedoch unbeeindruckt, und schätzen die Dauer weiterhin korrekt ein, wenn sie stattdessen einen Behälter sehen, der sich stärker füllt. Bei spanischsprachigen Personen ist es umgekehrt – sie lassen sich von Füllstand des Behälters verwirren, nicht jedoch von der Länge der Linie. Zweisprachige Menschen können auf beide Tricks reinfallen – aber nur wenn sie die jeweilige Sprache auch gerade aktiviert haben.

Wenn die Zeit still steht

In den Lockdowns während der Covid-19-Pandemie, als viele Menschen kaum das Haus verließen,  veränderte sich ihr Zeitgefühl  gleich in mehrfacher Hinsicht. Laut Antworten auf Fragebögen, die während der Lockdowns ausgefüllt wurden, verging die Zeit im ereignisarmen Hausarrest für die meisten gefühlt viel langsamer als sonst. Vor allem Depressionen und Ängste führten zu einem verlangsamten Zeitempfinden.  In einer anderen Studie , in der die Befragten später auf den Lockdown zurückblickten, waren ihre Erinnerungen dafür zeitlich zusammengepresst. Da sie im Alltag so wenig erlebt hatten, wirkten die erinnerten Ereignisse zeitlich näher beieinander, als wäre die ereignisarme Zeit dazwischen verlorengegangen. Zusätzlich litt die Fähigkeit zur Zeiteinschätzung auch insgesamt am Mangel an eigenen Erlebnissen.  Laut einer weiteren Studie  verschätzten sich Menschen bei der zeitlichen Einordnung von öffentlich bekannten Ereignissen, die während des Lockdowns stattgefunden hatten, genauso oft wie sonst bei Ereignissen aus wesentlich länger zurückliegenden Zeiträumen. 

Zeit ist unsichtbar und hinterlässt doch deutliche Spuren. Sie ist lautlos, aber erfahrbar in unzähligen Rhythmen und Zyklen, vom Herzschlag über den Tageslauf bis zum Wechsel der Jahreszeiten. Zeit hat uns alle fest im Griff. Keiner kann ihrem Lauf entkommen. Jeder Mensch hat nur eine begrenzte Menge Zeit zur Verfügung und wie wir Zeit wahrnehmen und nutzen, ist für viele lebenswichtige Fragen entscheidend. 

Aber was genau ist die Zeit, wo kommt sie her, und was bedeutet sie für uns? Im Alltag erscheint die Zeit als feste Größe. Sie mag sich mal wie Kaugummi dehnen, wenn in langweiligen Momenten jede Minute eine gefühlte Ewigkeit dauert ▸ Langeweile – ein zweischneidiges Schwert und mal dahinrasen, wenn ein schönes Erlebnis viel zu schnell vorbeizugehen scheint. Aber trotz solcher Unterschiede in der Zeitwahrnehmung vertrauen wir darauf, dass jeder Zeitabschnitt objektiv in Sekunden, Minuten, Stunden, Tagen und Jahren messbar ist und jeder Zeitpunkt seinen festen und einzigartigen Platz auf dem Zeitstrahl hat. Diese Einschätzung formalisierte Isaac Newton 1687 in seinen „ Mathematischen Prinzipien der Naturlehre “. „Die absolute, wahre und mathematische Zeit verfließt an sich und vermöge ihrer Natur gleichförmig und ohne Beziehung auf irgendeinen äußeren Gegenstand“, heißt es dort. 

Relativität

Seit Albert Einstein 1905 die  spezielle Relativitätstheorie  formulierte, stellt sich alles ein wenig komplizierter dar. Demnach hängen sowohl räumliche Abstände als auch die Zeitdauer davon ab, wie schnell man sich relativ zu etwas anderem bewegt. Mit zunehmender Geschwindigkeit werden Strecken kürzer und Sekunden länger. Das lässt sich sogar  im Experiment zeigen . Schickt man eine von zwei sehr genau gehenden Uhren mit einem Flugzeug um die Erde, geht sie am Ende ihrer Reise im Vergleich zur am Boden gebliebenen Uhr einige Nanosekunden nach, da „ihre“ Sekunden bei hoher Geschwindigkeit etwas länger gedauert haben.

Unordnung

Später deutete Einstein die Zeit als vierte Dimension in einem Koordinatensystem der Welt, in dem sie mit den drei Dimensionen des Raumes das Raum-Zeit-Kontinuum bildet. Dass die Zeit nur in eine Richtung laufen kann ergibt sich aus einem weiteren fundamentalen physikalischen Gesetz: Der zweite Hauptsatz der Thermodynamik postuliert, dass ohne äußere Einwirkung die Entropie – ein Maß für die Unordnung – zunimmt. Von allein wird dagegen alles immer unordentlicher.

Damit Ordnung entsteht, muss Energie von außen zugeführt werden. Im Lauf der Zeit verteilt sich Staub ganz von selbst überall. Entfernen kann man ihn nur unter Einsatz von Putzkraft. Die Zeit lässt sich mit diesem Trick aber nicht umkehren. Denn während Mutter in dem geschlossenen System „Kinderzimmer“ aufräumt, nimmt die Entropie des gesamten Systems (des Universums) durch ihren Einsatz zu. 

Innere Uhren

Mit physikalischen Gleichungen lässt sich viel über die Zeit aussagen. Relativitätstheorie und Thermodynamik erklären allerdings noch nicht, wie unsere Körper mit Zeit umgehen. Leben ist eine Art Gegenentwurf zur Entropie. Ständig fließt Energie in die Erschaffung und in den Erhalt von Ordnung. Von dem Moment, an dem ein Organismus entsteht, organisieren sich seine Moleküle, Zellen, und Gewebe in neuen oder fortwährenden geordneten Systemen und Abläufen.  Gleich nach der Befruchtung  sorgen Taktgeber dafür, dass die Prozesse im neu entstehenden Wesen in der richtigen Reihenfolge und in korrekten Zeitabständen ablaufen, vom Rhythmus der ersten Zellteilungen bis zum Ein- und Ausschalten verschiedener Genaktivitäten, die den Zellen und dem Gewebe des Embryos ihre Entwicklungspfade diktieren.

Auch später im Leben sorgt eine Fülle biologischer Uhren dafür, dass alle wichtigen Prozesse zeitlich präzise abgestimmt werden und Körper und Geist angemessen auf den Wandel der Zeit reagieren können ▸ Genau getaktet. Zu messen und zu takten gibt es einiges. Schnelle Rhythmen wie das Feuern von Nervenzellen, der Herzschlag und die Atmung, korrekte Reaktionen auf den Wechsel von Tag und Nacht und den Wandel der Jahreszeiten und hormonelle Umstellungen bei Übergängen zwischen Lebensphasen wie Kindheit und Pubertät – das alles kann überlebenswichtig sein.

Angesichts der vielfältigen Rollen, die Zeit im Leben spielt, überrascht es nicht, dass auch ihre Wahrnehmung im Alltag sehr unterschiedlich ausfallen kann.  Wer schneller lebt, kann zum Beispiel auch schneller sehen . Flinke Libellen nehmen 300 Bildwechsel pro Sekunde wahr, sesshafte Seesterne nur 0,7 und Menschen im Schnitt immerhin 65. Wie rasch die Zeit gefühlt vergeht, ist in manchen Experimenten abhängig von der Muttersprache der Teilnehmer (siehe Kasten). In einem Experiment schätzten Testpersonen die Dauer eines Signals während eines Herzschlags als kürzer ein, als wenn sie das gleiche Signal zwischen zwei Herzschlägen wahrnehmen. Die Anzeige eines angstverzerrten Gesichts wirkt länger als die eines fröhlichen, auch wenn beide Bilder tatsächlich gleichlang gezeigt werden. Ob verstärkte Aufregung die Zeit schneller oder langsamer fließen lässt, ist dagegen nicht eindeutig geklärt. Mindestens zwei Studien lieferten hierzu gegensätzliche Ergebnisse.

Emotionale Zeit

Wie schnell oder langsam man den Gang der Dinge erlebt, hängt noch von vielen weiteren Faktoren ab (siehe:  Frage an das Gehirn ). Es gibt kein eigenes Sinnesorgan für die Zeit, sondern das Gespür für sie wird von anderen Sinneseindrücken und kognitiven Prozessen beeinflusst. Aufmerksamkeit, Emotionen, Erinnerungen, das Arbeitsgedächtnis und exekutive Funktionen wie die Planung von Handlungen und gezielte Impulskontrolle können alle dazu beitragen, dass die Zeitwahrnehmung sich dehnt oder verkürzt. An der Entstehung des Zeitsinns beteiligt sich also ein großes Netzwerk im Kopf. 

Die beteiligten Areale sind inzwischen dank  Metaanalysen  von Bildgebungsstudien, in denen nach Uhren im Hirn gefahndet wurde, größtenteils bekannt und liegen sowohl in der Großhirnrinde als auch außerhalb. Die genaue Mischung variiert je nach Aufgabe. Geht es um Sekundenbruchteile, sind zum Beispiel subcortikale Regionen, die automatisierte und sensorische Prozesse steuern, aktiver. Beim Umgang mit längeren Zeitintervallen, für die kognitive Prozesse eine größere Rolle spielen, ist im Cortex mehr los. Eine ganze Reihe von Gehirnregionen macht jedoch bei allen Zeitmessungen mit, und schon der Blick auf ihre wahrscheinlichen Beiträge zeigt, wie kompliziert die Sache mit dem Zeitsinn ist. 

Wenn die Zeit zerfällt

Wie schnell die Zeitwahrnehmung schon im Alltag an Grenzen stoßen kann, zeigt sich, wenn unterschiedliche Sinneseindrücke parallel zeitlich eingeschätzt werden müssen.  Im Experiment  erleben Menschen einen Punkt, der gleichzeitig seine Farbe und Bewegungsrichtung wechselt so, als würde er zuerst die Farbe und dann erst die Richtung wechseln. Für Personen, die an Schizophrenie leiden, fallen zeitliche Eindrücke oft noch deutlicher auseinander und es fällt ihnen häufig schwer, die aktuelle Zeit und die Dauer und Reihenfolge von Ereignissen korrekt einzuschätzen. Inzwischen geht man davon aus, dass solche gestörten Zeitempfindungen direkt zu Symptomen wie Halluzinationen und Psychosen beitragen können. Verursacht wird Schizophrenie vermutlich durch  gestörte Netzwerke im Gehirn . Kein Wunder also, dass auch das Zeitgefühl ins Wanken gerät.

Im Extremfall können Menschen in mancher Hinsicht auch völlig aus der Zeit fallen. Dies widerfuhr zum Beispiel dem „verlorenen Seemann“ Jimmie G.,  über den der Neurologe Oliver Sacks berichtete . Mit Mitte Vierzig erlitt G. einen alkoholbedingten Hirnschaden, der alle Erinnerungen seit seiner Jugendzeit sowie seine gesamte Zukunft auslöschte. G. hielt sich fortan bis zu seinem Tod für einen 19-jährigen im Jahr 1945 und konnte keine neuen Erinnerungen mehr bilden. Er verbrachte den Rest seines Lebens in einem eng begrenzten Jetzt und vergaß alles, was er neu erlebte, innerhalb von Minuten oder sogar Sekunden.
 

Zum Weiterlesen

  • Eagleman DM. Human time perception and its illusions.  Curr Opin Neurobiol. 2008;18(2):131-136. ( Zum Volltext ).
  • Matthews WJ, Meck WH. Time perception: the bad news and the good. Wiley Interdiscip Rev Cogn Sci. 2014;5(4):429-446. ( zum Volltext )

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