Erschütternde Folgen
Gehirnerschütterung? Halb so wild, denken viele. Und so machen Sportler nach einem Rumms gegen den Schädel häufig einfach weiter. Doch er kann Anstoß zu einer Kettenreaktion sein, die noch über Jahre Spuren hinterlässt.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Bernd Knöll
Veröffentlicht: 15.06.2022
Niveau: leicht
- Eine Gehirnerschütterung ist nicht immer harmlos. Am Anfang steht ein mechanisches Trauma. Die Hirnmasse wird gedehnt und gestaucht und kann anreißen.
- In Form einer Kettenreaktion kann es zudem zu Entzündungsprozessen im Gehirn kommen, die gesundes Hirngewebe angreifen.
- Die Folgen für das Gehirn können sich noch nach Jahren bemerkbar machen, etwa in Form von psychischen Problemen.
- Gefährlich ist es, direkt nach einer Gehirnerschütterung wieder auf den Platz zu gehen. Ein erneuter Stoß kann das Gehirn in gefährlicher Weise anschwellen lassen.
Um als Laie eine Gehirnerschütterung zu erkennen, kann man sich an einer systematischen Checkliste orientieren, wie etwa dem Concussion Recognition Tool 5 (CRT5) . Sie ersetzt jedoch keine Diagnose. Zu den Anzeichen für eine mögliche Gehirnerschütterung gehören etwa:
- Bewusstseinsverlust, Krampfanfall, Schwindelgefühl
- Gleichgewichtsprobleme – Verwirrtheit
- Übelkeit oder Erbrechen – Gefühl „verlangsamt/ langsam zu sein“
- Benommenheit/Schläfrigkeit –„Druck im Kopf“
- Emotionaler als gewohnt - verschwommenes Sehen
- Reizbarkeit – Lichtempfindlichkeit.
Eine leichte Gehirnerschütterung muss nicht unbedingt behandelt werden. Gegen Kopfschmerzen helfen Schmerzmittel, wie Paracetamol oder Ibuprofen. In manchen Fällen verschreibt der Arzt ein Mittel gegen Übelkeit. In jedem Fall ist es ratsam, für einige Tage Bettruhe zu halten. Menschen mit Verdacht auf Gehirnerschütterung sollten möglichst in einem abgedunkelten Raum liegen, den Kopf leicht erhöht. Kühlende Kompressen am Kopf und im Nacken können helfen. Besser nicht essen und nur wenig trinken. Rufen Sie den Rettungsdienst, wenn Sie unter anderem folgendes beobachten:
- heftige Nackenschmerzen
- Verschlechterung des Bewusstseinszustandes
Um sich längerfristig leichter und schneller zu erholen, kann aber offenbar auch etwas Bewegung helfen. Das legt eine Studie bei jungen Athleten mit einer Gehirnerschütterung nahe, die ein leichtes Training von 20 Minuten pro Tag auf einem Fahrrad oder einem Laufband absolviert hatten. Im Vergleich zu einer Kontrollgruppe erholten sich die Teilnehmer nicht erst nach 17 Tagen, sondern bereits nach 13 Tagen.
In England und den USA dürfen Kinder unter zehn Jahren zum Schutz vor Hirnschäden keine Kopfbälle trainieren. Ein grundsätzliches Verbot von Kopfbällen im Fußball aus medizinischen Gründen ist beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) aber derzeit kein Thema . Auch der Neurochirurg Andreas Unterberg, Direktor der Neurochirurgischen Klinik am Universitätsklinikum Heidelberg, hält nichts von einem Verbot bei Erwachsenen. „Erwachsenen sollte es letztlich selbst überlassen sein, mögliche Folgen ihres Handelns zu tragen.“ Sportler über diese Zusammenhänge zu informieren und bei Verletzungen rasch und konsequent zu reagieren, sei deshalb umso wichtiger. Vorstellbar findet er dagegen ein Kopfballverbot für Jugendliche bis 14, 15 Jahren. „Sie können noch nicht für sich selbst entscheiden beziehungsweise die breiten Folgen ausreichend erfassen."
An das Finale der Fußball-Weltmeisterschaft zwischen Deutschland und Argentinien 2014 werden sich viele erinnern. Für einen, den Mittelfeld-Spieler Christoph Kramer, wird das Finale jedoch immer im Dunkeln bleiben. Legendär seine Nachfrage beim Schiri, ob das wirklich das EM-Finale sei. Kramer hatte in der 17. Minute einen Zusammenprall mit einem argentinischen Abwehrspieler und blieb danach trotz Blackout und Gehirnerschütterung zunächst auf dem Platz. Erst eine knappe Viertelstunde später wurde er ausgewechselt. Kramer leidet seither an einer kongraden Amnesie, an einem Gedächtnisverlust, der nur ein bestimmtes Ereignis betrifft, nicht aber die Zeit davor und danach.
Gehirnerschütterung? Ist doch nicht so schlimm, denken viele. Und so stehen regelmäßig Fußballer wie Christoph Kramer direkt nach einem Schlag auf den Schädel wieder auf dem Platz. Sie wissen nicht, dass die Gehirnerschütterung eine ernstzunehmende und oft unterschätzte Verletzung des Schädels ist.
Das leichte Schädel-Hirn-Trauma, wie Fachleute auch sagen, entsteht durch einen heftigen Aufprall oder Stoß. Dabei wird das Gehirn im Inneren des Schädels durch die Aufprallkräfte verformt wie ein Wackelpudding. Mikrorisse können die Folge sein. Die Hirnmasse wird gedehnt und gestaucht und kann anreißen. Die Axone zwischen den Nervenzellen werden durch Scherkräfte verformt. „Das leichte Schädel-Hirn-Trauma kann mit strukturellen Veränderungen im Gehirn wie zum Beispiel Blutungen oder Quetschungen einhergehen, muss es aber nicht“, sagt der Neurochirurg Andreas Unterberg, Direktor der Neurochirurgischen Klinik am Universitätsklinikum Heidelberg. Falls der Verdacht besteht, werden solche Veränderungen in der Notfallsituation typischerweise mit einer Computertomografie des Schädels ausgeschlossen. Noch genauer lassen sich Veränderungen im Gehirn nach einem leichten Schädel-Hirn-Trauma mit einer Magnetresonanztomografie nachweisen. „Dies ist aber sehr selten notwendig“, so Unterberg.
Das mechanische Trauma ist aber noch nicht alles. Wie bei einem Dominospiel, bei dem der erste Stein angestoßen wird, kann der Schlag gegen den Schädel eine Kettenreaktion in Gang setzen. „Durch das Überdehnen ist die äußere Zellschicht plötzlich durchlässiger und dadurch strömen Ionen ein“, sagt die Neurowissenschaftlerin Inga Koerte von der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München. „Damit wird das fein abstimmte Gleichgewicht zwischen dem Inneren der Zellen und der Umgebung gestört, und es kommt zu einer Fehlfunktion des Gehirns.“ In der Folge kann der Betroffene bewusstlos werden, oder Erinnerungslücken oder Sehstörungen erfahren.
Ziemlich neu ist die Kenntnis einer weiteren Kettenreaktion: Der Neurologe Alan Faden von der University of Maryland School of Medicine in Baltimore, USA, geht davon aus, dass ein Schädel-Hirn-Trauma chronische Entzündungen im Gehirn in Gang setzt. „Entzündungen im Gehirn sind bei dieser Erkrankung ein zentraler Aspekt und wurden lange Zeit zu wenig beachtet“, so Faden. Der Neurologe verweist auf Studien mit moderner Bildgebung. Sie zeigen, dass anhaltende Entzündungen keine Seltenheit sind. Sie ließen sich bei einmaligen mittelschweren Traumata wie nach einem Autounfall beobachten, ebenso wie bei wiederholten leichten Traumata verursacht durch Stöße beim Kampfsport. Welche Entzündungsreaktionen im Detail im Gehirn ablaufen, ist noch nicht ganz klar.
Böse Mikroglia
In einer Übersichtsarbeit von 2016 hat Faden mit Kollegen die möglichen Vorgänge nachgezeichnet. Eine unrühmliche Rolle spielen ganz offensichtlich Mikroglia: Diese Zellen sind Teil des Immunsystems des Gehirns und scannen fortlaufend das Gewebe mit haarfeinen Ärmchen. Gibt es einen Notfall, begeben sie sich zügig zum Katastrophenherd und fressen etwa Krankheitserreger auf. Im Falle des Schädel-Hirn-Traumas werden die Mikroglia aktiviert, um den primären Schaden einzudämmen, indem sie angegriffenes Gewebe entsorgen und die Reparaturarbeiten unterstützen. Doch wenn das Gehirn wiederholt erschüttert wird oder das Trauma ausreichend schwer ist, werden die Mikroglia dauerhaft auf „aktiv“ gestellt. In einem solchen chronischen Stadium laufen die an sich sinnvollen Entzündungsreaktionen aus dem Ruder. Es überwiegen Varianten von Mikrogliazellen, die die Entzündungen immer weiter antreiben und dabei auch gesundes Nervengewebe angreifen.
Weit unklarer sind die Folgen für das Corpus callosum, ein dickes Nervenbündel, das die beiden Gehirnhälften miteinander verbindet. Forscher vermuten, dass eine Schädigung des Bündels zu einigen häufigen Nebenwirkungen von Gehirnerschütterungen wie Schwindel oder Sehstörungen führen könnte. In einer Studie analysierten Forscher 115 Stöße gegen den Schädel von Sportlern, aufgezeichnet über einen speziell ausgestatteten Mundschutz. Anschließend übertrugen die Wissenschaftler die Messungen auf eine Simulation des Halses, des Kopfes und des Gehirns. Ergebnis: Das Corpus callosum wurde von einer darüber liegenden Struktur, der Falx, herumgezogen. Die Falx cerebri, die "Hirnsichel" sitzt zwischen den beiden Hirnhälften des Gehirns und ist steifer als der Rest des Gehirns, – wie Leder im Vergleich zu Gelatine. Der Studie zufolge können Schläge auf die Seite des Kopfes aufgrund der Steifigkeit der Falx Vibrationen in dieser Struktur erzeugen. Diese können sich dann bis zum Corpus callosum ausbreiten und die Art von Gewebedehnung verursachen, die häufig mit Gehirnerschütterungen in Verbindung gebracht wird.
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Jahrelange Folgen
Die Folgen für das Gehirn können sich noch nach Jahren bemerkbar machen. Laut einer Literaturübersicht ,die Daten von fast 90.000 Kindern und Jugendlichen berücksichtigt, entwickelte ein Drittel nach einer Gehirnerschütterung psychische Probleme, die noch mehrere Jahre nach der Verletzung bestehen konnten. Im Vergleich zu Kindern ohne eine Gehirnerschütterung hatten betroffene Kinder signifikant mehr mit Problemen wie Angst, Depression, posttraumatischem Stress, Aggression, Aufmerksamkeitsproblemen und Hyperaktivität zu kämpfen.
"Die meisten Menschen erholen sich ohne Folgen von einer Gehirnerschütterung", sagt Inga Koerte. Etwa 10 bis 30 Prozent regenerieren allerdings nicht vollständig. Bestimmte Faktoren erhöhen das Risiko dafür. Etwa wenn man schon vor der Gehirnerschütterung unter einer psychischen Störung wie einer Depression oder einer Angsterkrankung gelitten hat oder von Migräne betroffen ist. „Die Gehirnerschütterung macht dann unter Umständen Symptome spürbarer, die schon vorher da waren“, so Koerte. „Auch Frauen brauchen oftmals länger als Männer, um sich zu erholen.“ Es ist also denkbar, dass Gene und Hormone ebenfalls eine Rolle spielen. Dabei kann eine ganze Bandbreite an sehr unterschiedlichen Symptomen zurückbleiben wie Kopfschmerz oder Konzentrationsprobleme, aber auch eine schnelle Ermüdbarkeit. „Männer geben dabei eher körperliche Symptome an und Frauen eher emotionale oder zwischenmenschliche Probleme.“
In einer Studie haben sich Forscher die langfristigen Folgen direkt im Gehirn angeschaut. Universitätssportler mit einer Gehirnerschütterung in der Vergangenheit wiesen im Vergleich zu einer Kontrollgruppe Monate und sogar Jahre nach der Verletzung Veränderungen in ihrem Gehirngewebe auf. Bei betroffenen Athleten ist das Volumen der Hirnrinde gegenüber nicht Geschädigten geringer – vor allem in Regionen, die aufgrund der Lage bei einem Stoß anfällig für Verletzungen sind, darunter der frontalen Cortex, der hinter der Stirn liegt. Zudem waren bestimmte Hirnregionen, vor allem der Frontallappen, weniger durchblutet. Es offenbarte sich dabei: Bei Athleten mit häufigeren Gehirnerschütterungen war das Hirnvolumen und die Durchblutung stärker verringert.
Wer direkt wieder auf den Platz geht, gefährdet sein Gehirn
Wie gefährlich eine zweite Gehirnerschütterung nach einer ersten ist, zeigt das Second-Impact-Syndrom. Dabei schwillt das Gehirn nach einer zweiten Gehirnerschütterung schnell und in katastrophaler Weise an – noch bevor die Symptome der ersten Gehirnerschütterung abgeklungen sind. Dieser zweite Schlag kann Minuten, Tage oder Wochen nach einer ersten Gehirnerschütterung auftreten. Das Second-Impact-Syndrom ist eine seltene, aber schwere Komplikation der Gehirnerschütterung, die im schlimmsten Fall zum Tod führen kann. Bei aller Lust am Sport und bei allem Ehrgeiz gilt daher: Kopf schützen und nach einem ordentlichen Rumms lieber vom Platz gehen!
Zum Weiterlesen
- Hernandez , F. et al.: Lateral impacts correlate with falx cerebri displacement and corpus callosum trauma in sports-related concussions. Biomech Model Mechanobiol . 2019 Jun;18(3):631-649. doi: 10.1007/s10237-018-01106-0. Epub 2019 Mar 12.
- Gornall , A. et al.: Mental health after paediatric concussion: a systematic review and meta-analysis. Br J Sports Med, . 2021 Sep;55(18):1048-1058. doi: 10.1136/bjsports-2020-103548. Epub 2021 Apr 29.