Erholung nach dem Hirninfarkt

Grafik: MW

Während sich Schlaganfallpatienten regenerieren, findet in ihrem Gehirn eine massive Reorganisation statt. Die verbliebenen Nervenzellen verknüpfen sich neu – Regionen übernehmen verloren gegangene Kompetenzen. 

Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Ulrich Dirnagl

Veröffentlicht: 21.06.2021

Niveau: leicht

Das Wichtigste in Kürze
  • Viele Patienten erholen sich nach einem Schlaganfall und erlangen verlorene Fähigkeiten zu einem gewissen Grad zurück.
  • Gezieltes intensives Training in und nach der Rehabilitation ermöglicht die partielle Regeneration.
  • Im Gehirn kommt es dabei zu einer Umorganisation und Neubildung von Blutgefäßen. Diesen Prozess wollen Forscher künftig mit Medikamenten anregen.
Heilende Musik

Musik und Rhythmus beflügeln die Regeneration vieler Schlaganfallpatienten, wie verschiedene Studien nahelegen. Eine schwedische Erhebung zeigte etwa, dass Patienten, die im Takt der Musik Hände und Füße bewegt hatten, danach besser greifen und die Balance halten konnten. Und wenn die Betroffenen ihre Lieblingsmusik hören dürfen, verlängert das nachfolgend die Aufmerksamkeitsspanne und die Merkfähigkeit für Wörter, wie eine finnische Studie ergab. Die entsprechenden Hirnareale im intakten Teil des Gehirns gewannen an Masse. Andere Forscher wiederum demonstrierten, dass rhythmische Musik das Gangtraining von Schlaganfallpatienten unterstützt. Sie laufen dann schneller und schaffen längere Wegstrecken. 2018 prüften deutsche Forscher, ob die rhythmische Begleitung auch beim Laufbandtraining hilft. Und tatsächlich: Die Probanden können nach dem Training mit Musik schneller auf dem Laufband laufen als andere Betroffene. 

Frische Zellen für die Todeszone

Bei einem Schlaganfall sterben Nervenzellen im Gehirn ab, da sie kurzzeitig nicht mit Blut und damit mit Sauerstoff und Zucker versorgt werden. Die Fähigkeit des Gehirns, sich zu regenerieren, ist bei Erwachsenen insoweit begrenzt, als neue Nervenzellen nur in geringem Umfang aus Hirnstammzellen entstehen können. Forscher arbeiten jedoch daran, die vorhandenen Hirnstammzellen mit Wirkstoffen dazu anzuregen, neue Nervenzellen zu bilden. Und sie verfolgen die Idee, neurale Stammzellen außerhalb des Körpers zu erzeugen und in die zerstörten Areale des Gehirns zu transplantieren. Solche künstlich erzeugten neuralen Stammzellen werden aus fötalem Gewebe oder aus einer Hautprobe gewonnen. In Tiermodellen integrierten sich solche menschlichen neuralen Stammzellen in das Gehirn und Forscher beobachteten nach künstlich gesetzten Schlaganfällen positive Effekte der Zelltherapie (Hier die Animation über einen gelungenen Versuch der deutschen Expertin für Stammzellen Magedalena Götz: Regeneration der Zukunft). Das britische Unternehmen ReNeuron vermeldete, dass sich die Situation eines Teils von 23 Schlaganfallpatienten nach einer Transplantation von neuralen Zellen verbesserte. Eine größere Folgestudie ruht momentan aufgrund der Coronapandemie.    

Ein Schlaganfall ist wie ein Hagelsturm ohne dunkle Wolken. Man sieht und fühlt ihn nicht, wenn er sich zusammenbraut. Aber dann ist er kaum noch zu übersehen: Der rechte Arm, vielleicht das rechte Bein sind gelähmt. Man kann nicht mehr sprechen. Das Lächeln sitzt schief und zieht sich nur mehr über eine Gesichtshälfte. So äußert sich etwa ein Schlaganfall in der linken Hirnhälfte. 

Manchmal sind auch ausschließlich das Gedächtnis und die Aufmerksamkeit betroffen. Die Leidtragenden verstehen Zusammenhänge langsamer und können nicht mehr so schnell reagieren. Nicht selten tritt im Zuge eines Schlaganfalles das sogenannte Neglect-Syndrom auf, bei dem Betroffene Sinnesreize, die von der linken Seite des Körpers kommen, nicht mehr richtig wahrnehmen. Sie leben quasi in einer halben Welt. 

Unterschätzte Rehabilitation

Es ist letztlich die Rehabilitation, die den Menschen wieder zurück ins Leben zu holen vermag. Sie ist so gesehen die unabkömmliche und wichtigste Therapie nach dem Schlaganfall. Sie bewirkt, dass man den einst gelähmten Arm wieder zu einem Glas Wasser führen kann, um es zu greifen. Oder dass man einige Schritte am Rollator schafft. Damit entscheidet der Erfolg der Rehabilitation darüber, ob nach einem Hirninfarkt wieder ein eigenständiges Leben gelingt – oder ob die Betroffenen Tag für Tag auf Hilfe angewiesen sind. 

Der Zusammenschau eines unabhängigen Expertenverbunds zufolge, der Cochrane Gruppe, belegen mehrere randomisierte Studien, dass ein Bündel von Reha-Maßnahmen die Sterblichkeit, das Ausmaß an körperlicher und geistiger Beeinträchtigung und den Pflegebedarf vermindert. In einer weiteren Datenanalyse von 2014 ermittelten die Experten schließlich im Speziellen, dass Bewegungstherapie hilft. Dafür bedurfte es der täglichen Übung an fünf Tagen die Woche. Die Balance, das Schritttempo und die allgemeine Beweglichkeit verbesserten sich sodann.

„Der Stellenwert der Rehabilitation für die Schlaganfallerholung wird häufig unterschätzt“, sagt der Neurologe Dirk Hermann vom Universitätsklinikum Essen. Warum Physio- und Ergotherapie, Logopädie und Bewegung in den Rehabilitationskliniken Wochen später den Unterschied machen, beginnen Forscher nun auf neurologischer und immunologischer Ebene zu verstehen.

Umorganisation des Gehirns

Dass es nach einem Schlaganfall aufwärts gehen kann, mag dabei zunächst erstaunen. Schließlich sind jene Nervenzellen, die während des Infarkts von der Blutzufuhr abgeschnitten waren, ▸ unwiederbringlich verloren. Blasser erscheint das geschädigte Areal verglichen mit dem übrigen Gehirn in CT-Aufnahmen. Hier feuern die Neuronen nicht mehr. Und im Gehirn können, anders als in vielen anderen Organen, nur in ganz geringem Umfang neue Zellen entstehen. Ihre Zahl reicht aber bei weitem nicht aus, die verloren gegangenen Neuronen zu ersetzen. „Wenn Abermilliarden Zellen untergehen, hilft es kaum, wenn ein paar Tausend neu entstehen“, veranschaulicht Hermann.

Jedoch können Nervenzellen aus den verbliebenen intakten Hirnarealen in die untergegangene Region einsprossen. Dabei wachsen neue Zellfortsätze, die schließlich mit gesunden Nervenzellen in Kontakt treten und sich mit ihnen verknüpfen. „Die Zellfortsätze können viele Zentimeter lang werden“, sagt Hermann. Ist das verletzte Areal klein, gelingt es den umliegenden Nervenzellen schneller und besser, die „Todeszone“ neu zu innervieren. Je größer die Entfernungen, desto mühsamer wird es jedoch und desto geringer ist die Chance, dass das Gehirn die ausgefallenen Funktionen zu kompensieren vermag. Dennoch: „Auch die Neuverschaltung über weite Strecken ist möglich. Dann sehen wir, dass Funktionen, die vorher die linke Hirnhälfte übernahm, wie das Sprechen, teils von der rechten Hirnhälfte neu ausgeführt werden“, erläutert Hermann. „Kompensation“ heißt dieses Phänomen der Aufgabenübernahme. 

Das Gehirn kann sich erfolgreicher reorganisieren und auch Fähigkeiten lassen sich besser wieder erlangen, wenn die dafür ursprünglich zuständige Region nicht vollständig untergegangen ist. Wer unmittelbar nach dem Schlaganfall noch ein wenig zu sprechen vermag, dessen Sprachzentrum ist nicht komplett zerstört. Er kann die Gabe auch leichter wieder ausbauen. 

Nervenzellen und Gefäße – ein Duo für die Erholung

Gewöhnlich unterdrücken verschiedene Eiweiße im Gehirn, dass Nerven Zellfortsätze ausbilden und schließlich neue Verschaltungen eingehen. Eines der bekannteren ist Nogo-A. Die Gliazellen, die Immunabwehr des Gehirns, steuern die Herstellung dieser Moleküle. Nach einem Schlaganfall senken die Gliazellen den Nogo-A-Spiegel. „Dadurch bekommen Nervenzellen Eigenschaften, die sie schon in der Embryonalphase hatten: Sie sprossen aus“, so Hermann. „Das bedingt die verbesserte Plastizität nach einem Schlaganfall. Es ist die Basis für Erholung.“

Die Nervenzellen wiederum setzen Wachstumsfaktoren frei, etwa VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor). Diese regen die Blutgefäße zur Regeneration an. In der Folge bildet sich das Blutversorgungsystem im Kopf neu. „In einem Kubikmillimeter Gehirn steckt normalerweise ein Meter Gefäßsystem“, betont der Immunologe Matthias Gunzer vom Universitätsklinikum Essen. „Unmittelbar nach einem Schlaganfall sind zwei Drittel davon im betroffenen Gehirnareal verschwunden.“ Das Wachstum der Gefäße ist somit ebenso zentral für die Erholung. Und die jungen Gefäßzellen beschleunigen wiederum die Nervenzellregeneration, indem sie den Nervenwachstumsfaktor BDNF (Brain-derived neurotrophic factor) ausschütten. „Es ist eine wechselseitige Verstärkung des Duos ‚Gefäßzellen und Nervenzellenʻ zum Guten“, so Gunzer.

Den Erholungsprozess können allerdings Mikroblutgerinnsel stören, die nach einem Schlaganfall manchmal auftreten. Sie ziehen eine ständige Entzündung nach sich. Bestimmte Immunzellen tauchen zudem nach dem Schlaganfall im Gehirn auf, die dort sonst nicht hingelangen. Diese so genannten neutrophilen Granulozyten finden sich dann am Infarktherd in abnorm großer Zahl, wies Gunzer nach. Je höher ihr Anteil im Verhältnis zu anderen weißen Blutkörperchen, etwa den Lymphozyten, im Blut, desto schlechter erholen sich die Patienten. 

Anstoß zu Regeneration

Lange Zeit haben Schlaganfallforscher daran gearbeitet, die Nervenzellen bei Patienten vor dem Untergang zu bewahren. Diese Taktik hat sich jedoch bislang in klinischen Studien nicht bewährt, wohl, weil nach der akuten Unterbrechung der Blutzufuhr sehr wenig Zeit bleibt, um die Nervenzellen zu retten. Seit die Forscher zu verstehen beginnen, wie die Regeneration im Gehirn abläuft, konzentrieren sie sich verstärkt auf eine neue Strategie: Sie wollen das Gehirn bei der Reorganisation unterstützen. 

Mit Blick auf die Rehabilitationsprogramme läuft nach Einschätzung der Forscher in dieser Hinsicht schon vieles in den richtigen Bahnen. Dort bekommen die Betroffenen teils unspezifische Bewegungstherapien: Wassergymnastik und Gerätetraining. „Die Aktivierung von Herz und Kreislauf regt die Gefäßneubildung an und schafft erst einmal die Grundlage zur Reorganisation im Gehirn“, so Hermann. Spezifische Physiotherapie etwa Lauftraining in einem Gangroboter bei einer Beinlähmung oder Hand-Koordinationstraining bei motorischen Problemen mit einer Hand ergänzen dies. „Durch Üben werden die frisch gebildeten Nervenzellverknüpfungen verstärkt.“ 

Die ständige Wiederholung ist dabei zentral. Je häufiger eine wiedererlernte Bewegung oder Tätigkeit ausgeführt wird, desto besser gelingt sie. Die frisch geknüpften Nervenzellverbindungen werden so intensiviert. Für ein Maximum an Wiederholungen nutzen Reha-Kliniken auch Roboter und Geräte, die Patienten gezielt anspornen, ihre Leistung immer weiter zu steigern. 

Patienten stützen etwa bei einer Armlähmung beide Unterarme auf ein Polster und drücken einen metallenen Schlitten von sich weg und ziehen ihn wieder zu sich heran. Ein kleines Display zeigt ihnen an, wie oft sie die Bewegung schon ausgeführt haben. Jeden Tag sollen sie ihr Pensum steigern. Damit die gelähmten Finger nicht versteifen, kommen sie anschließend in ein Gerät von der Größe einer Küchenpapierrolle. Jeder Finger liegt auf einer rotierenden Walze, die sich auf und ab bewegt. Das mobilisiert die Gelenke der Finger. Kein Physiotherapeut kann die Hand eines Patienten so unermüdlich durchmassieren wie jene Maschine.

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Erholung hält lange an

Oft aber sind die Kuren nach dem Hirninfarkt auf drei oder sechs Wochen begrenzt. Dies wird dem Stand der Wissenschaft nicht gerecht: „Es gibt kein bestimmtes Zeitfenster für die Erholung. Das Potenzial ist auch danach noch da, mindestens zwölf Monate“, sagt Gunzer. 

Größter Feind der Regeneration ist das berüchtigte Reha-Loch – wenn Patienten nach kurzer Rehabilitation nicht mehr trainieren. „Nach einem Jahr stehen viele Kranke dann wieder da, wo sie schon vorher waren“, sagt Ruth Deck, Rehabilitationsforscherin am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck. Wer nicht regelmäßig übt, riskiert also Rückschritte. Generell länger und intensiver müsste das Training sein, mahnen immer mehr Ärzte. Zwei Intensivrehabilitationen pro Jahr mit sich nahtlos anschließenden ambulanten Therapien etwa schlagen Forscher aus verschiedenen Disziplinen vor. 

Zukunftsvision: Rehabilitation plus Tabletten

Das Verständnis der Regeneration im Gehirn lässt die Forscher nunmehr auch an eine pharmakologisch unterstützte Reha denken. Medikamente könnten die Erholung des Gehirns fördern und so die Kur noch effektiver machen. „Wir könnten die schädliche langanhaltende Entzündung dämpfen und die Wachstumsprozesse anregen“, sagt Gunzer. „In Mäusen mit künstlich gesetztem Schlaganfall wirkt es sich günstig aus, wenn man die neutrophilen Granulozyten am Einmarsch ins Gehirn hindert. Dann geht weniger Nervengewebe unter.“

Eine pharmakologisch unterstützte Reha liegt nicht mehr in allzu weiter Ferne, wie die Arbeiten des Neurowissenschaftlers Martin Schwab von der ETH Zürich zeigen. Er nutzte einen Antikörper, um den Pegel des Eiweißes Nogo-A herunterzufahren. „Das löst die Bremse in den Nervenzellen und diese beginnen auszusprossen und neue Verknüpfungen zu bilden“, sagt Schwab. Behandelte er Ratten nach einem Schlaganfall über einen Zeitraum von Wochen mit dem Antikörper und verpasste ihnen anschließend genauso lange eine Reha – über Sprossen klettern und durch ein schmales Plexiglasfenster nach Zuckerkügelchen greifen – dann erholten sich die Nager zu 80 bis 100 Prozent. Die unbehandelten Kontrolltiere erlangten dagegen nur 10 bis 30 Prozent ihrer Greiffähigkeit zurück.

Derzeit plant der Forscher eine klinische Studie an Schlaganfallpatienten. Vier Wochen sollen sie die Arznei bekommen, die die Regeneration ihres Gehirns anstachelt, und dann vier Wochen Reha, damit sich die neuen Nervenzellverknüpfungen festigen können. Auf einen Schub der Erholung von 30 bis 50 Prozent hofft Schwab. Das könnte entscheidend sein, um Betroffenen ein wichtiges Stück Selbständigkeit und Lebensqualität zurückzugeben. Wenn Menschen wieder den Weg bis zum Supermarkt schaffen, nicht nur ins Bad, wenn sie selbst die Gabel zum Mund führen können, dann wäre viel für sie und die Angehörigen gewonnen. 

Zum Weiterlesen

  • Hermann D M, Gunzer M: Contribution of polymorphonuclear neutrophils in the blood periphery to ischemic brain injury, Neurol Neuroimmunol Neuroinflamm., 2019 Jul, 6(4): e570, https://nn.neurology.org/content/6/4/e570
  • Schwab M E et al: Neuronal repair.  Asynchronous therapy restores motor control by rewiring of the rat corticospinal tract after stroke, Science, 2014 Jun, 344(6189): 1250-5,  https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24926013/
  • Pollock A et al. Physical rehabilitation approaches for recovery of function, balance and walking after stroke, Cochrane Rdeview, 2014 Apr, https://www.cochrane.org/CD001920/STROKE_physical-rehabilitation-approaches-for-recovery-of-function-balance-and-walking-after-stroke

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