Warum reagiert das Gehirn auf einen Schlaganfall so empfindlich?
Einige Körpergewebe und Organe können regenerieren. Doch das Gehirn ist im Guten wie im Schlechten ein ganz besonderes Organ – und seine Regeneration nach einem Schlaganfall gestaltet sich eher schwierig.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Jens Dreier
Veröffentlicht: 16.06.2021
Niveau: leicht
- Wie stark einzelne Hirnregionen spezialisiert sind, wird augenscheinlich, wenn sie im Zuge eines Schlaganfalls Schaden nehmen.
- Neben der Arbeitsteilung gibt es auch Teamwork: Verschiedene Hirnregionen bilden Netzwerke aus.
- Aufgrund der Netzwerkarchitektur kann ein Schlaganfall zu weitreichenden Schäden im Gehirn führen.
- Neurone benötigen viel Sauerstoff und Energie. Mit Energie werden Nervenzellen über Astrozyten versorgt. Bei einem Schlaganfall wird Neuronen der Hunger nach Energie und Sauerstoff zum Verhängnis.
- Da sich im Gehirn kaum Nervenzellen neu bilden, sind absterbende Neurone unwiderruflich verloren.
- Immerhin können Netzwerkausfälle teilweise kompensiert werden.
Mit einem Hirninfarkt verbindet man vor allem eine Unterversorgung der grauen Zellen mit Sauerstoff. Doch es gibt noch andere schwere Komplikationen. Bei einem Hirnödem nach einem schweren Schlaganfall sammelt sich Flüssigkeit an und verursacht eine Schwellung im Nervengewebe. Es entsteht ein erhöhter Druck im Kopf, der lebensgefährlich ist. Um ein Einklemmen des Gehirns zu vermeiden, öffnen Neurochirurgen daher bei sehr großen Schlaganfällen Teile der Schädeldecke, um den Druck zu mindern.
Die Hirnödeme stehen im direkten Zusammenhang mit der Pathogenese eines Schlaganfalls. Die Ödementwicklung erfolgt dabei über drei Phasen. In der ersten Phase, die bereits nach wenigen Minuten beginnt, sorgt die Unterversorgung der Nervenzellen dafür, dass die normalen Gradienten von Natrium- Kalium-, Kalzium- und Chlorid - Ionen über die Nervenzellmembranen fast vollständig zusammenbrechen (Link Sterbende Netzwerke). In der Folge strömt Wasser in die Nervenzellen ein. Diese Zellschwellung wird als zytotoxisches Ödem bezeichnet. Das zytotoxische Ödem beginnt an einem Punkt im Gewebe, breitet sich langsam und wellenartig im mangeldurchbluteten Gewebe aus – bis hinein in das normal versorgte Gewebe. Mit jeder Welle wächst der innere, dauerhaft ödematöse Bereich weiter an, in dem die Nervenzellen zugrundegehen. Dieser Vorgang wiederholt sich nach einem Schlaganfall über mehrere Tage, bis er irgendwann zum Stillstand kommt.
Aufgepropft auf dieses zytotoxische Ödem, entwickelt sich kurz nach Auftreten der ersten Welle das sogenannte ionale Ödem, das sich ebenfalls auf die unphysiologische Verteilung von Ionen zurückführen lässt. Beim ionalen Ödem strömt Nervenwasser allerdings über die glymphatischen Pfade entlang der Hirngefäße in das Nervengewebe ein. Im Unterschied zum zytotoxischen Ödem ist das ionale Ödem daher keine Umverteilung von Wasser zwischen Extra- und Intrazellulärraum. Vielmehr kommt es zu einer Nettoaufnahme von Wasser in das Gewebe. Erst einige Stunden nach dem Beginn von zytotoxischem und ionalem Ödem öffnet sich dann die so genannte Blut-Hirn-Schranke. Dadurch kommt es zu einer weiteren Nettoaufnahme von Wasser, das nun vor allem aus dem Intravasalraum stammt.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Schlaganfall
Schlaganfall/Apoplexia cerebri/stroke
Bei einem Schlaganfall werden das Gehirn oder Teile davon zeitweilig nicht mehr richtig mit Blut versorgt. Dadurch kommt es zu einer Unterversorgung mit Sauerstoff und dem Energieträger Glukose. Häufigster Auslöser des Schlafanfalls ist eine Verengung der Arterien. Zu den häufigsten Symptomen zählen plötzliche Sehstörungen, Schwindel sowie Lähmungserscheinungen. Als Langzeitfolgen können verschiedene Arten von Gefühls– und Bewegungsstörungen auftreten. In Deutschland ging 2006 jeder dritte Todesfall auf einen Schlaganfall zurück.
Die Evolution hat unser Gehirn einzigartig gemacht. Es ist aber nicht nur ein einzigartig komplexes Organ, sondern auch ein einzigartig empfindliches. Durchblutungsstörungen im Zuge eines Schlaganfalls bedeuten für die grauen Zellen den Tod. Und während einige Organe wie zum Beispiel Leber und Haut nach Schaden regenerieren können, gelingt das dem Gehirn nur bedingt. Warum reagiert das Gehirn auf einen Schlag so empfindlich?
Zunächst einmal: Die einzelnen Teile des Gehirns haben unterschiedliche Funktionen und sind perfekt aufeinander abgestimmt. Hirnregionen für die Sinneswahrnehmung etwa empfangen Informationen von den Sinnesorganen und ermöglichen uns den Zugang zur Welt. So verarbeitet der visuelle Cortex den Input, der von den Augen kommt. Motorische Hirnregionen hingegen senden Befehle an den Körper, um Bewegungen auszuführen. Zentral für die Kommunikation sind die Nervenzellen, die über ihre Nervenfasern und Kontaktstellen zu anderen Neuronen Informationen weiterleiten. Wie stark das Gehirn spezialisiert ist, wird augenscheinlich, wenn es Schaden nimmt. Kommt es zu einem starken Ausfall im motorischen Cortex auf der rechten Seite, ist auf einen Schlag die linke Körperseite des Patienten gelähmt. Die Sprache wiederum geht einem Menschen verloren, wenn bestimmte Areale der linken Hemisphäre wie das Broca-Areal geschädigt werden.
Das Beispiel Sprache zeigt aber auch: Die Neuronen setzen neben Arbeitsteilung auf Teamwork. Eine komplexe Leistung wie die Sprache besteht aus vielen Einzelleistungen wie Worterkennung oder Lippenbewegung, die in verschiedenen Teilen des Gehirns angesiedelt sind. Das Broca-Areal im Frontallappen ist für den Satzbau zuständig, das Wernicke-Areal im Temporallappen für das Verständnis der Bedeutung von Sprache. Während der Sprachverarbeitung müssen diese Hirnareale eng und effektiv zusammenarbeiten. Daher sind sie durch Nervenfaserbündel verknüpft und bilden Netzwerke.
Zerstörte Netzwerkarchitektur
Ein Schlaganfall hat auf Grund der Netzwerkarchitektur des Gehirns im wahrsten Sinne des Wortes weitreichende Folgen. Denn anders als lange Zeit gedacht, werden nicht nur die direkt geschädigten Areale in Mitleidenschaft gezogen, sondern auch weit entfernte. Leonardo Bonilha von der Medical University of South Carolina, Charleston und Kollegen fanden in einer Studie heraus: Bei Patienten mit einem Schlaganfall waren in der geschädigten Hirnhemisphäre Hirnregionen im Schnitt schlechter miteinander vernetzt, – sie bildeten stärker isolierte Module aus als in der intakten Hemisphäre. Und Patienten mit stärker isolierten Spracharealen im Temporallappen litten stärker unter Sprachstörungen als Patienten mit weniger isolierten Hirnregionen. Beim Schlaganfall kommt es also zu weit verteilten Netzwerkstörungen▸ Sterbende Netzwerke.
Grund für die Netzwerkausfälle sind absterbende Neuronen. Sie sind bei einem Schlaganfall die Achillesferse des Gehirns. Um ihre Funktionen auszuüben, brauchen sie Sauerstoff und Energie in Form von Glukose, die beide über das Blut ins Gehirn gelangen. Während sich die Muskeln über spezielle Energiespeicher selbst versorgen, sind Neurone auf Hilfe angewiesen. Mit Energie werden sie von Zellen versorgt, die lange im Schatten von Neuronen standen: Gliazellen. Dabei wären Neurone ohne Gliazellen als verlässliche Partner ziemlich aufgeschmissen. Denn sie sind mehr als der Nervenkitt, für die man sie lange Zeit gehalten hat ▸ Gliazellen: Unterschätzter Klebstoff. Sie stellen für Neurone unter anderem die zuverlässige Reinigungskraft von nebenan dar und schaffen zellulären Müll weg. Und Astrozyten, sternförmige Gliazellen, versorgen Neurone mit Energie. "Neurone haben selbst eigentlich gar keinen direkten Kontakt zu den Blutgefäßen“, erklärt die Neurobiologin Christine Rose, Leiterin des Instituts für Neurobiologie der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf. Die Blutgefäße seien vielmehr von Astrozyten umhüllt. Und die meiste Glukose gehe aus dem Blut direkt in die Astrozyten über.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Astrozyt
Astrozyt/-/astrocyte, astroglia
Astrozyten sind die größten unter den Gliazellen. Zu ihren Aufgaben gehören z.B. die Immunabwehr (auch Blut-Hirn-Schranke) oder die Wiederaufnahme ausgeschütteter Neurotransmitter (Botenstoffen im Gehirn).
Unbändiger Energiehunger
„Die Astrozyten bauen die Glukose in Milchsäure um und stellen diese denNeuronen zur Verfügung oder speichern die Energie erst einmal“, so Rose. Astrozyten sind die einzigen Zellen im Gehirn, die einen Energiespeicher haben. Sie verfügen wie Muskeln über Glykogen, eine im menschlichen und tierischen Organismus vorliegende Speicherform der Kohlenhydrate. „Eines kristallisiert sich immer mehr heraus“, sagt die Neurobiologin: „Astrozyten benutzen ihr gespeichertes Glykogen dazu, Neurone, die sehr aktiv sind und viel Energie brauchen, zusätzlich mit Energie zu versorgen.“ Astrozyten bauen das Glykogen zu Milchsäure ab. Die Neurone nehmen die Milchsäure auf und können daraus selbst sehr viel ATP gewinnen, – den Energieträger in Zellen.
Neurone sind in Sachen Energie kaum zu sättigen. Unser Denkorgan verbraucht mit seinen rund 86 Milliarden Nervenzellen im Schnitt mehr als 500 Kilokalorien pro Tag. Der Verbrauch ist so hoch, weil die Arbeit der Synapsen, der chemisch-elektrischen Verbindungsstellen zwischen den Neuronen, sehr viel Energie verschlingt. Auch für die Fortleitung der elektrischen Impulse entlang der Nervenfasern wird viel Energie aufgebracht. Nicht so sehr, weil ein Impuls viel Energie frisst. Sondern aufgrund der vielen Impulse, mit denen gleichzeitig in unserem Gehirn Informationen von einem Teil in andere Bereiche des Gehirns geschickt werden.
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Unwiederbringlicher Verlust
Der energieintensive Lebensstil wird Neuronen im Falle einer Durchblutungsstörung im Zuge eines Schlaganfalls zum Verhängnis. Neurone haben eben auch keinen Energiespeicher, der ihnen helfen würde, einen längeren Energiemangel zu überbrücken. "Neurone sind zudem Zellen, die viel Sauerstoff benötigen und deren Stoffwechsel keine Alternativen zulässt", sagt der Neurologe Helmuth Steinmetz, Direktor der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Frankfurt. "Wenn nun die Blutzirkulation stoppt oder einen kritischen Wert unterschreitet, schalten sie rasch ab und sterben dann leider auch schnell, weil sie eben keine Reserven haben, die sie aktivieren können.“
Schnell heißt nicht sofort. Zum Vergleich: Bei einem Herzstillstand und normaler Umgebungstemperatur beginnt das Absterben der ersten Nervenzellen bereits nach etwa fünf Minuten. Dagegen setzt das Neuronensterben im mangeldurchbluteten Kernbereich eines Schlaganfalls erst nach 15 bis 20 Minuten ein. Typischerweise bleibt hier eine minimale Restdurchblutung erhalten, die den Schadensprozess im Vergleich zur Situation beim Herzstillstand etwas bremst. In der so genannten Prenumbrazone um den Kernbereich eines Schlaganfalls herum können Nervenzellen sogar noch mehrere Stunden überleben. Dass die Nervenzellen beim Schlaganfall doch nicht ganz so schnell absterben, wie früher angenommen, hat in jüngster Zeit zu einer dramatischen Verbesserung der therapeutischen Möglichkeiten in der Akuttherapie geführt. Um davon zu profitieren, ist es für Betroffene daher umso wichtiger, dass ihr Schlaganfall schnell erkannt wird und sie bereits beim Auftreten der ersten Symptome so schnell wie möglich in ein spezialisiertes Krankenhaus gelangen.
Denn wenn Nervenzellen erst einmal absterben, sind sie unwiederbringlich verloren. Nur in zwei Regionen im Gehirn bilden sich überhaupt neue Nervenzellen. „Dass Neurone anders als Zellen in anderen Organen nicht neu entstehen, hat vermutlich evolutionäre Gründe“, sagt Helmuth Steinmetz. „Das Gehirn des Erwachsenen ist auf Stabilität ausgelegt.“ Schon im Mutterleib werden alle Nervenzellen hergestellt, sie teilen sich jenseits des 3. Fetalmonats praktisch nicht mehr. Auch die Ausbildung der Verbindungen ist ab etwa dem 25. Lebensjahr weitgehend abgeschlossen. „Das Gehirn ist dann auf die Speicherung und Erhaltung von Wissen ausgelegt und nicht auf ständige Neubildung“, so Steinmetz. Das unterscheidet das Gehirn von anderen Geweben, deren Zellen sich im Zuge von Schäden ständig erneuern, aber eben auch keine komplexen Informationen speichern müssen.
Netzwerkausfälle lassen sich kompensieren – zumindest teilweise
Wenn Neurone absterben, kommen auch wieder die Netzwerke im Gehirn ins Spiel. „Denn mit den absterbenden Neuronen können auch mit ihnen verknüpfte Schaltkreise, also ganze Netzwerke, ausfallen“, so Steinmetz. Die gute Nachricht ist: Selbst wenn der Verlust bestimmter Neurone unwiderruflich ist, lassen sich Netzwerkprobleme oft kompensieren, indem andere Bereiche einspringen. Wie gut das gelingt, hängt allerdings auch davon ab, auf welcher Ebene das Problem entstanden ist. Kommen etwa Neurone der primären motorischen Hirnrinde zu Schaden, können Lähmungen der Hand die Folge sein, die sich schlechter zurückbilden. „Sind aber nicht primäre, sondern nachgeschaltete Netzwerkelemente betroffen, so wird die Rückbildung anfänglicher Ausfälle besser verlaufen“, sagt Steinmetz.
Das hat ganz konkrete Folgen dafür, welche Fortschritte Patienten erwarten dürfen. Sie können zu Recht darauf hoffen, bestimmte Funktionen wieder zu erlangen. „Aber das liegt vor allem an der Neuverschaltung größerer Netzwerke“, sagt Helmuth Steinmetz. Geschädigte primäre Areale hingegen erholen sich weniger. Natürlich könne und solle man mit Optimismus immer auf eine gewisse Regeneration hoffen und an ihr arbeiten. Dennoch: „Eine vollständige Wiederherstellung ist oft keine ganz realistische Erwartung“ schränkt Steinmetz ein.
Zum Weiterlesen
- Marebwa, B.K. et al.: Chronic post-stroke aphasia severity is determined by fragmentation of residual white matter networks. Sci Rep 2017 Aug 15;7(1):8188. doi: 10.1038/s41598-017-07607-9.
- Stockert, A. et a.: Dynamics of language reorganization after left temporo-parietal and frontal stroke. Brain. 2020 Mar 1;143(3):844-861. doi: 10.1093/brain/awaa023.