Projekt unterschätzt, aber auf Kurs
Ja, die Hirnforschung hat Probleme. Doch es sind weniger, als der Neuroskeptizismus verbreitet. Und es ist einfach, ein solch enormes Projekt wie das Verstehen des Gehirns nach 30%, vielleicht aber auch erst nach 5% der Strecke zu kritisieren.
Published: 29.12.2014
Difficulty: serious
Neuroskeptizismus liegt im Trend. Schon vor Jahren beklagten mahnende Stimmen den inflationären Gebrauch der Vorsilbe „Neuro“. 2012 stand die gesamte Methode der funktionalen Bildgebung in der Kritik und mit ihr einige große Namen der sozialen Neurowissenschaft; sie waren über die Hirnaktivität toter Lachse gestolpert. 2013 nahm die Kritik dann richtig Fahrt auf, zeigte sich wuchtig in Begriffen wie „Neuro Bubble“, „Neuro Nonsense“ und „Mindless Neuroscience“. Inzwischen gibt es Bestseller und Symposien. Und so mancher Hirnforscher zeigt sich betont bescheiden. Nach meinem Gefühl zu bescheiden.
Neuroskeptizismus ≠ Neuroskeptizismus
Nicht alle Neurokritik der letzten Jahre erscheint mir fair. So sind Hirnforscher weitestgehend unschuldig, wenn Webprogrammierer ihre Produkte als „Neurowebdesign“ anpreisen. Von den Anbietern diverser Brain-basierter Kurzzeittherapien ganz zu schweigen. Wissenschaftler können auch nichts dafür, wenn wir Journalisten in unseren Überschriften auch dort von Hirn reden, wo im Artikel gar keines vorhanden ist. Jeder will Geld verdienen. Und „Neuro-“ verkauft.
Tatsächlich berechtigt sind dagegen Kritiken am Betrieb der Neurowissenschaften, von der forscherischen Sucht nach Sensationen, bis zur Nicht-Replizierbarkeit vieler Versuche. Zwar ist ersteres ein Symptom der Wissenschaftskultur von publish or perish – was nicht zuletzt mit Finanzierung und Existenzdruck zu tun hat – und ist weit über die Neurowissenschaft hinaus verbreitet. Doch die Reproduzierbarkeit betrifft die Biowissenschaften mit ihrem komplexen Untersuchungsgegenstand besonders. Das Problem ist bekannt und wurde unter anderem auf der Neuroscience-Konferenz 2014 in Washington besprochen. Die Session wurde gar geleitet von Thomas Insel, dem Direktor des National Institute of Mental Health und einem der Gastgeber der Konferenz. Hier ist Bewegung, auch wenn die Umsetzung noch einige Zeit brauchen wird.
Lektionen in Demut
Zwischen diesen beiden Polen – einer unsäglich, einer schwerwiegend – liegt ein weites Feld der Kritik, das man differenzierter betrachten sollte. Einiges davon macht sich fest an dem legendären Manifest, das eine Gruppe von Neurowissenschaftlern 2004 in der Zeitschrift Gehirn & Geist veröffentlichte. Für Aufregung sorgten Sätze wie „Dies bedeutet, dass man widerspruchsfrei Geist, Bewusstsein, Gefühle, Willensakte und Handlungsfreiheit als natürliche Vorgänge ansehen wird, denn sie beruhen auf biologischen Prozessen.“
Das Futur – „ansehen wird“ – war keine Utopie, es bezog sich nicht auf das Jahr 2104, sondern schien in der Umsetzung zum greifen nah. Die Neurowissenschaft war berauscht von Methoden und Erfolgen, sie hatte Witterung aufgenommen und hoffte, die Aufklärung 2.0 läge nur eine Ecke weiter.
Doch zehn Jahre später sind wir diesen biologischen Prozessen nicht wirklich näher gekommen. Und nicht nur die Unterzeichner des Manifests haben das Projekt unterschätzt – das Gehirn ist deutlich komplizierter, als wir uns das je haben träumen lassen. Oder, das ist vermutlich passender, wir uns sogar aktuell vorstellen können. Es scheint, als läge jedes neu entdeckte Inselchen der Erkenntnis in einem eigenen Meer an Fragen, von deren Existenz wir vorher nichts wussten. Eine unbekannte Zahl an Inseln wartet noch auf Entdeckung und schafft dann womöglich wieder neue Disziplinen. Und es lauern jede Menge Drachen auf der Karte des Gehirns.
Eine Frage der Zeit
Den Philosophen und Psychologen war das natürlich schon lange klar: Wer sich näher mit dem eigenen Geist auseinandersetzt, weiß, wie kompliziert der ist. Die Hirnforscher waren optimistischer, naiver. Allerdings erklärte mir Eric Kandel in einem Interview 2009, wir wüssten: nichts. Und seien noch gute 100 Jahre von einer umfassenden Gehirntheorie entfernt.
Betrachtet man die Hirnforschung durch Kandels historische Brille, scheinen manche Punkte der Neurokritik nahezu naiv. Schon fMRT hatte mit Phrenologie wenig gemein und auch diese Methode wird stetig verbessert. Doch wer – außer einigen Forschern – hätte vor 10 Jahren von Optogenetics geträumt? Oder der Möglichkeit, Proteine aufzulösen und Gewebe durchsichtig zu machen? In mehreren Projekten praktizierter Crowd-Science wird das Konnektom erforscht. Die amerikanische BRAIN-Initiative wirft sich mit ganzer Kraft auf die Entwicklung neuer Methoden.
Während also manche gern die Stagnation beleuchten, entwickelt sich die Hirnforschung weiter explosiv: Genom, Konnektom, Proteom – die Hirnforscher werden noch eine ganze Zeit auf See sein.
Gehirnübertreibungssyndrom? Wirklich?
Wir sprechen hier von der Grundlagenforschung und dieser Grund liegt sehr tief unter dem menschlichen Alltagserleben. Das scheint mir das eigentliche Problem der Hirnforschung zu sein: Unser erlebtes Ich in Deckung zu bringen mit der Aktivität von Kanalproteinen – da drohen Reduktionismus und Biologismus. Beides Schimpfwörter. Denn Menschen sind geborene Dualisten: Sie erleben sich als Summe von Körper und Geist. Ein substratbasierter Monismus ist ihnen unheimlich. Sie hängen an ihrer Seele, Aufklärung hin oder her.
Diese Reduktionsmusvorwürfe erscheinen mir, ganz subjektiv, teilweise sehr konstruiert. Zum Beispiel sei das Bewusstsein nicht im Gehirn lokalisierbar sondern mindestens auch im Körper. Tatsächlich gibt die ‘embodied cognition’ jede Menge Hinweise darauf, dass sich Wahrnehmungen oder die Körperhaltung auf die Befindlichkeit auswirken (Körper denkt mit). Es ist sogar möglich, dass nach der Vermutung von Peter König (Das Verhältnis von Motorik und Sensorik) die Motorik das Primat vor der Sensorik hat, weil das Feedback von initiierter Bewegung und veränderten Wahrnehmungen durch diese Bewegung sehr zum Gefühl des Ichs beiträgt.
Tatsächlich orientiert sich die gesamte Verarbeitung der Wahrnehmung sehr an der Motorik. Sehen Sie selbst: Drehen Sie den Kopf ruckartig von ganz links nach ganz rechts. In der Zeit der Bewegung haben Sie vermutlich nichts gesehen. Das Gehirn – genauer: Teile des Gehirns, das Gehirn ist ein komplexes System! – hat sich die Verarbeitung dieses verwaschenen Seheindrucks einfach vorab gespart. Und Sie waren für kurze Zeit blind. Doch dass die visuelle Verarbeitung stattfindet, dass sie ausgesetzt wird, dass überhaupt eine Bewegung initiiert und gewollt wird – all das geht auf Prozesse des Gehirns zurück.
Natürlich ist der Körper wichtig, ist bis weit in die Kindheit hinein vermutlich unabdingbar, denn ohne Körperprozesse kein Feedback, kein Lernprozess, keine Abstimmung des Gehirns auf die Gepflogenheiten der Welt. Dass Querschnittslähmung oder gar Locked-in etwas mit dem Bewusstsein machen, steht zu vermuten. Doch auch Leute im Locked-in schreiben Bücher. Und Steven Hawking ist zwar ein extremes Beispiel von geistiger Leistung bei massiver körperlicher Einschränkung, aber eben auch ein sehr beeindruckendes.
Wahrnehmung
Wahrnehmung/Perceptio/perception
Der Begriff beschreibt den komplexen Prozess der Informationsgewinnung und –verarbeitung von Reizen aus der Umwelt sowie von inneren Zuständen eines Lebewesens. Das Gehirn kombiniert die Informationen, die teils bewusst und teils unbewusst wahrgenommen werden, zu einem subjektiv sinnvollen Gesamteindruck. Wenn die Daten, die es von den Sinnesorganen erhält, hierfür nicht ausreichen, ergänzt es diese mit Erfahrungswerten. Dies kann zu Fehlinterpretationen führen und erklärt, warum wir optischen Täuschungen erliegen oder auf Zaubertricks hereinfallen.
Querschnittslähmung
Querschnittslähmung/-/spinal paralysis
Hiermit bezeichnen Ärzte eine Kombination von Symptomen, die auftritt, wenn der Nervenstrang im Rückenmark durchtrennt wird. Auf welcher Höhe der Wirbelsäule die Verletzung geschieht, ist entscheidend für deren Konsequenzen: Gliedmaßen und Organe, deren Innervierung unterhalb der lädierten Stelle vom Rückenmark abzweigt, kann der Körper künftig nicht mehr selbst steuern. Mögliche Folgen reichen von einer teilweisen Lähmung der Gliedmaßen bis hin zum kompletten Kontrollverlust über Mastdarm und Blasé.
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Ein Gehirn ist nicht genug
Ein anderes, gern verwendetes Argument betrifft die Notwendigkeit anderer Menschen für das eigene Bewusstsein. Es stimmt – Sartre lag mit seiner Aussage “ L’enfer, c’est les autres — Die Hölle, das sind die anderen“ genauso richtig, wie daneben. Denn auch indem wir uns über sie ärgern, die anderen, sie geben uns doch genau damit die Möglichkeit, uns als Entität, als eigenständiges Wesen wahrzunehmen. Das wissen wir spätestens seit Kaspar Hauser.
Doch auch hier ist die Entwicklung der entscheidende Faktor. Später im Leben reichen uns vermutlich einige Kannibalen (Robinson Crusoe) oder ein Volleyball (Cast Away), um eine Weile durchzuhalten. Dass dieser Ball im Verlauf des Filmes wie ein Gefährte behandelt wird, dass wir unser Auto anmeckern und unser Motorrad innig lieben, zeigt, wie tief das Soziale in uns verdrahtet ist. Doch im Erleben des Sozialen ist – jedenfalls im Westen – das eigene Ich die Mitte. Und zumindest für das entwickelte Bewusstsein kann man eine gewisse Zeit lang die Umwelt streichen, ohne dass große Schäden zu befürchten sind. Streicht man das Gehirn aus der Gleichung, verschwindet das Bewusstsein.
Das Wunder der Schöpfung
Ungleich mehr Neuroskeptiker als Hirnforscher interessieren sich für solch noetische Themen. Und wo sie darüber diskutieren, neigen beide Gruppen zur Übertreibung. Doch manchmal sind sich beide Seiten darüber im Klaren, dass sie von einem komplexen System sprechen – ein Synonym für etwas, das wir zum jetzigen Zeitpunkt nicht begreifen können, weil schlicht zu viele Figuren auf dem Brett stehen, wo sie nach unbekannten Regeln interagieren.
Trotzdem kommen wir um die anrüchigen Begriffe Reduktionismus und Biologismus auf lange Sicht nicht herum. Nach meiner Meinung. Und nach eben dieser nimmt das dem Menschen nichts an Wunderbarem. Das subjektive Seelenleben ist durch die Fortschritte der Hirnforschung in keiner Weise gefährdet, spirituelle Techniken wie Meditation und Yoga werden in ihrer Wirksamkeit sogar bestätigt. Und soziale Fähigkeiten wie Empathie und Fairness sind im gesunden Menschen bei normaler Entwicklung unvermeidbar. So gesehen ist der Mensch schon in der Grundausstattung ein guter. Diese Frage wurde jahrhundertelang kontrovers diskutiert.
Doch wir sprachen vom Wunder: Sie sehen es beim Blick in die Augen Ihres Lieblingsmenschen. Beim Lächeln Ihres Babys. Beim Gespräch mit guten Freunden. Beim Lösen eines Problems. Sie spüren es nach einem Zehntausendmeterlauf und in der Kurve auf der Zweizylinder. Es ist überall, unbeeindruckt von jedem Erklärungsversuch. Aber manifestiert in keineswegs banaler Physiologie.
Empathie
Empathie/-/empathy
Der Begriff „Empathie“ geht auf das altgriechische Wort für „Leidenschaft“ zurück. Heute versteht man unter Empathie das Vermögen, sich in andere hineinzuversetzen und deren Gefühle, Gedanken und Handlungsweisen nachzuvollziehen. Die physiologische Basis dafür sehen viele Neurowissenschaftler in den Spiegelneuronen: Nervenzellen, die beim Beobachten einer Handlung ebenso aktiv sind wie bei deren Ausführung.
Auge
Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb
Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.
Das ist nun nicht Schwerpunkt des Specials über Neuroskeptizismus aber ich will doch anmerken, dass die Geldflüsse auch dazu führen, dass die Finanzierung an anderen Orten austrocknet: Die Forschungsbedingungen in Geistes-, Sozial-, Kultur und Medienwissenschaften werden immer schwieriger. Die Erasmus-Universität in Rotterdam wird beispielsweise demnächst die philosophische Fakultät schließen; an der Universität Amsterdam gibt es jetzt schon keine Bachelor-Studiengänge mehr in Literaturwissenschaften. Viele kleine Sprachen lassen sich heute in den Niederlanden (selbst eine kleine Sprache) gar nicht mehr studieren. Das ist das Ergebnis des ökonomischen Denkens, Messens und Vergleichen der Universitäten.
Um ein Beispiel von Joseph Dumit aus dem Gedächtnis zu zitieren (aus seinem Nachwort zu dem Neuroscience-Turn-Buch von Littlefield & Johnson, 2012): Wenn ich weiß, dass Schülerinnen und Schüler etwa durch Meditation ihr Lernen verbessern können, dann ist das Verständnis der neuronalen Grundlagen dieses Effekts für die pädagogische Praxis nahezu irrelevant. Für das Umsetzen und Verbessern dieses Effekts und damit des Unterrichts brauchen wir aber zwingend die Pädagogik, Psychologie, Sozialwissenschaften und mehr.
Ich hoffe, dass so schnell wie möglich ein Umdenken stattfindet, bevor dieses Wissen zu großem gesellschaftlichen Schaden aus den Universitäten verschwunden ist.
Neurowissenschaftler können – im Rahmen von Gesetz und Ethik – untersuchen, was sie wollen, natürlich auch Meditation. Was Meditation aber z.B. für den Schulunterricht interessant machen könnte, das sind nicht mögliche Gehirnbefunde, sondern Lern- und Verhaltenseffekte; die validiert man eben nicht im Gehirn, sondern im Verhalten.
Ich meine mich zu erinnern, das in meinem Gehirn&Geist-Kommentar zum zehnjährigen Jubiläum des Manifests weiter ausformuliert zu haben, auch mit Blick auf Lernen und Pädagogik, wenn auch ohne auf Meditation einzugehen:
www.spektrum.de/alias/standpunkt/zu-viel-versprochen/1241591