Thomas Willis – Begründer der modernen Neurologie
Der englische Mediziner und Neuroanatom Thomas Willis wollte vor allem eines: Gottes Naturschöpfungen beschreiben. Das Ergebnis waren die zu seiner Zeit exaktesten Studien des Gehirns und Nervensystems.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Ortrun Riha
Veröffentlicht: 30.06.2016
Niveau: mittel
- Mit seiner Forschung wollte der Mediziner und Neuroanatom Thomas Willis Gottes Naturschöpfungen beschreiben
- Die wohl bekannteste Leistung von Willis ist die funktionelle Beschreibung des nach ihm benannten Arterienrings des Gehirns, der die Blutversorgung des Gehirns sichert.
- Seine Klassifikation von neun Hirnnerven wurde erst 1788 durch die bis heute gültige Einteilung in 12 Hirnnerven durch Samuel Thomas von Soemmerring abgelöst.
- Seine bahnbrechenden Ergebnisse erzielte er mit Hilfe von neuen Techniken. Er konservierte Gehirne in reinem Alkohol und griff mit Hilfe von Kollegen auch auf neuartige Färbetechniken zurück.
- Thomas Willis gilt heute als Begründer der Neurologie. Wegweisend waren seine genauen Beobachtungen, die Neuroanatomie, Pathologie und klinische Störungen zu einem Gesamtbild verbanden.
Hirnnerv
Hirnnerv/-/cranial nerve
Eine Gruppe von 12 paarigen Nerven, die direkt am Gehirn entspringen, meist am Hirnstamm. Sie werden mit römischen Ziffern (I – XII) nummeriert. Der erste und der zweite Hirnnerv (Riech– und Sehnerv) sind im eigentlichen Sinn keine Nerven sondern Teile des Gehirns.
Viele Autoren haben seit Erscheinen von Willis bedeutendem Werk „Cerebri Anatome“ Zweifel an der Urheberschaft geäußert. Willis sei nur ein Modearzt gewesen, der lediglich seinen bekannten Namen als Arzt für die Veröffentlichung des Buches geliefert habe. Die eigentlichen Untersuchungen hätten vor allem Richard Lower und Christopher Wren durchgeführt. Tatsächlich hat Willis in seinem Vorwort des Buches keinen Hehl daraus gemacht, dass er Lower und Wren viel zu verdanken habe. Doch mittlerweile sind die Zweifel an Willis' Beitrag selbst wiederum kompromittiert worden.
Das Werk von Thomas Willis zeugt von großer Vielfalt: Er schrieb über Gärung, Fieber und hat als Erster das Restless-Legs-Syndrom beschrieben. Zu seinen klinischen Beobachtungen zählt etwa die Entdeckung, dass der Urin von Diabetikern süßlich ist. Und er hat einen wichtigen Beitrag zur Beschreibung von neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen wie Epilepsie geleistet. Sein besonderes Interesse galt dabei, den Zusammenhang zwischen anatomischen Veränderungen der Nervenstrukturen und psychiatrischen Störungsbildern zu erforschen.
Es ist kalt an diesem 14. Dezember 1650. Alles ist bereit für die Sektion des Leichnams von Anne Greene. Kurz zuvor hatte die 22-jährige Dienstmagd, verurteilt wegen Kindsmordes, noch 30 Minuten lang am Galgen gebaumelt, bevor man sie für tot erklärte. Wie damals üblich, wurde der Leichnam der Anatomie zur Verfügung gestellt. Als der Mediziner Thomas Willis gerade zu seinem ersten Schnitt ansetzt, vernimmt er seltsame Geräusche aus dem Hals der Toten. Willis und sein Kollege William Petty beschließen kurzerhand, eine Wiederbelebung zu versuchen. Tatsächlich gelingt es ihnen mit viel Mühe, Anne Greene ins Leben zurückzubringen.
Diese Begebenheit machte Thomas Willis (1621−1675) schlagartig berühmt. Doch zugleich wirft sie auch Licht auf diese herausragende Forscherpersönlichkeit. Der Mediziner und Neuroanatom verband medizinische Erfahrung mit anatomischem Wissen aus erster Hand. Anstatt, wie noch in der Scholastik des Mittelalters üblich, blind dem Bücherwissen anerkannter Autoritäten zu vertrauen, sah Willis als Mann der Neuzeit die Natur selbst als Lehrmeister an.
Zwischen Tradition und Aufbruch
Thomas Willis erblickte am 27. Januar 1621 das Licht der Welt – kurz nach dem Tod von Shakespeare und Queen Elizabeth. Er wurde im englischen Great Bedwyn geboren, einem Dorf in Wiltshire unweit von London. Sein Vater, der zuvor in den Diensten von verschiedenen Edelleuten gestanden hatte, ließ sich als Farmer in der Nähe von Oxford nieder.
1637 schrieb sich Willis am Christ Church College in Oxford ein, einer Lehranstalt mit eher traditionsbewusstem Ruf. Der zukünftige Neuroanatom wollte ursprünglich eine klerikale Richtung einschlagen. Daher begann er ein Studium der Artes liberales, das in der damaligen Zeit als Vorbereitung auf die höheren Studien von Theologie, Jurisprudenz und Medizin diente. Hier kam Willis mit dem Geist des Mittelalters in Kontakt. Im Sinne der Scholastik hieß das vor allem: Die bewährten Autoritäten aus der Antike zu verstehen, etwa Aristoteles. Um Geld zu verdienen, arbeitete Willis nebenbei bei einem Kleriker als Diener. Dessen Frau half er, Medikamente zuzubereiten, wobei er sich offensichtlich recht geschickt anstellte und auf den Geschmack kam.
Das Medizinstudium, für das sich Willis später entschied, war in Oxford rückständig. Viele Jahre lang mussten sich die Studenten wissenschaftlich veraltete Literatur von Hippokrates bis zu Galen zu Gemüte führen. Doch Willis hatte Glück. Kurz bevor er das Studium aufnahm, kam Bewegung in den Lehrplan, und plötzlich standen auch ab und an Leichensektionen auf dem Programm. Allerdings begann Willis mit seinen medizinischen Studien just zu der Zeit, als der englische Bürgerkrieg ausbrach. Er schlug sich auf die Seite des Königs, Karls I. von England, und schloss sich einem Hilfsregiment gegen die Gegner des Königs an, den Anhängern des englischen Parlaments. Möglicherweise hat Willis in dieser Zeit auch den königlichen Leibarzt William Harvey (1578−1657) kennen gelernt, den Entdecker des Blutkreislaufs und einen der wichtigsten Vertreter der experimentellen Anatomie.
Für seine Loyalität gegenüber dem König wurde Willis 1646 trotz der Studienunterbrechung mit einem Bachelor der Medizin belohnt und konnte eine eigene Praxis in der Nähe von Oxford aufmachen. Noch unerfahren und unbekannt, musste er seine Dienste auf Märkten und bei Gutsherren der Umgebung anbieten. Willis ging aber auch der Forschung nach und knüpfte Kontakte zu angesehenen Kollegen, Naturwissenschaftlern und Künstlern im nahen Oxford, darunter der Chemiker Robert Boyle (1627−1692). Für den angehenden Wissenschaftler erwies sich der vermeintliche Nachteil – die Kürze des Medizinstudiums – als Glücksfall: Willis stand nicht im Bann der Tradition, sondern wandte sich den modernen experimentellen Methoden zu, die sich im Aufblühen befanden.
1657 heirate er Mary Fell, eine nahe Verwandte des Dekans vom Christ Church College in Oxford, die ihm acht Kinder schenken sollte. Willis war mittlerweile ein geachteter und vermögender Arzt, der weit herumkam. Auf seinen Touren pflegte er zu reiten und dabei zu dösen oder gar zu schlafen; ein Assistent begleitete ihn. Sofern man den Berichten über ihn glauben kann, war er ein frommer Mann, der Arme gratis behandelte, aber recht gewöhnlich wirkte, wenig gefällig und gesellig war. 1660 dann erlangte er nicht nur den Doktor der Medizin, er wurde auch Professor für Naturphilosophie an der Universität von Oxford.
Geschmack
Geschmack/-/flavor
Der Sinneseindruck, den wir als „Geschmack“ bezeichnen, ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen Geruchs– und Geschmackssinn. Sinnesphysiologisch ist „Geschmack“ jedoch auf den Eindruck begrenzt, den uns die Geschmacksrezeptoren auf der Zunge und in den umgebenden Schleimhäuten zuführen. Aktuell geht man davon aus, dass es fünf verschiedene Sorten von Geschmacksrezeptoren gibt, die auf die Geschmacksqualitäten süß, sauer, salzig, bitter und umami spezialisiert sind. 2005 haben Wissenschaftler zudem einen möglichen Geschmacksrezeptor für Fett identifiziert.
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Neue Methoden bringen neue Einsichten
Bevor Willis auf der historischen Bildfläche erschien, nahmen sich das neuroanatomische Wissen und die Untersuchungsmethoden relativ bescheiden aus. Willis Vorgänger öffneten die Schädeldecke und entnahmen vorsichtig die weiche Hirnmasse. So konnten sie akribisch die mit Hirnwasser gefüllten Hirnventrikel studieren, in denen man damals den Sitz des menschlichen Geistes vermutete. Aber die ausgefeilte Anatomie etwa des Hirnstamms konnten sie so nur schwerlich erkennen.
Willis hingegen ging ganz neue Wege. Für seine Hirnstudien griff er erstmals auf eine damals brandneue Technik zurück, die der Astronom und Architekt Christopher Wren (1632−1723) für die Präparation von zoologischen Objekten entwickelt hatte: Willis legte das Objekt seines Interesses in reinen Alkohol ein, um es vor schnellem Verfall zu bewahren und zu fixieren. So konnte er das Gehirn in einem Stück entnehmen und exakte Schnitte anfertigen. Die Proben betrachtete er durch ein Vergrößerungsglas.
Zu Willis‘ Zeiten, im Barock des 17. Jahrhunderts, herrschte der Gedanke vor, das Ende der Welt stünde unmittelbar bevor, auf das eine tausendjährige Herrschaft von Christus folgen würde. Die Menschen wollten Gottes Wirken in der Natur studieren, um mehr über den Schöpfer zu erfahren und sich auf die Ankunft von Christus vorbereiten. Für Willis war die Neuroanatomie in der Lage, die „geheimen Plätze des menschlichen Geistes aufzuschließen und in die lebende und atmende Kapelle Gottes zu schauen“. Das Gehirn betrachtete er als „harmonisches und vernetztes System, von Gott erschaffen.“ Ganz modern – und anders als viele seiner Vorläufer – verortete er die höheren geistigen Leistungen nicht in den Ventrikeln, den mit Hirnflüssigkeit gefüllten Hohlräumen, sondern in den Windungen der Großhirnrinde.
Vergleichende Studien und revolutionäre Techniken
In seiner Forschung versuchte Willis zu zeigen, dass sich Tier und Mensch in Sachen Hirnarchitektur vielfach ähnelten. Zwar sollte der Mensch — anders als das Tier — über eine unsterbliche Seele, die Vernunftseele, verfügen, die ihn mit höheren geistigen Fertigkeiten ausstattete. Aber Willis glaubte fest daran, dass sowohl Tiere als auch Menschen eine „Körperseele“ haben, die für grundlegende biologische Funktionen wie Bewegungen oder Empfindungen verantwortlich zeichnet. Diese verortete er im Kleinhirn und versuchte sie tierexperimentell nachzuweisen. Er unterband zum Beispiel beide Vagusnerven bei einem Hund, der daraufhin „starkes Herzzittern“ erlitt. Das Tier lebte noch einige Tage, ohne sich bewegen und fressen zu können. Nach dessen Tod fand Willis im Herzen und den Gefäßen große Mengen geronnenen Blutes.
Das bedeutendste Buch von Willis „Cerebri anatome“ von 1664 zur Anatomie des Gehirns und Nervensystems war vor allem ein Werk der vergleichenden Anatomie. Denn der Mediziner sezierte auch Hunde, Schafe, Pferde und andere Tiere. Das Buch präsentierte erstmals in der Medizingeschichte eine relativ detailgetreue Beschreibung und Illustration der neuronalen Strukturen des Gehirns.
Seine beiden Kollegen Christopher Wren (1632−1723) und Richard Lower (1631−1691), die selbst bedeutende Wissenschaftler waren, boten ihm eine mehr als tatkräftige Unterstützung, vor allem bei den Zeichnungen. Außerdem injizierten Wren und Lower Tieren unmittelbar nach dem Tod Färbemittel in die Arterien. So legten sie den Grundstein für Willis‘ Entdeckung des Blutflusses in den Hirnarterien. Willis berichtete, wie er und seine Kollegen „immer wieder in die Arterien der Halsschlagader von Tieren eine Flüssigkeit mit Farbe spritzten“, so dass die „Blutgefäße, die in jede Ecke und versteckten Orte des Gehirns kriechen, mit der gleichen Farbe getränkt waren.“ Mit diesen Methoden konnte er den nach ihm benannten Arterienring des Gehirns, den Circulus arteriosu (cerebri), auch Circulus Willisi genannt, in seiner Funktion bestimmen: Dieser sicherte die Blutversorgung des Gehirns.
1666 zog Willis nach London, wo er bis an sein Lebensende forschte und als Arzt eine gutgehende Praxis betrieb. Er starb am 11. November 1675 an einer Lungenentzündung.
Heute gilt Thomas Willis als Begründer der Neurologie. Er gebrauchte nicht nur als erster diesen Begriff in seinem Werk, sondern führte auch Termini ein, die heute noch benutzt werden, wie zum Beispiel Corpus striatum, Claustrum oder optischer Thalamus. Seine Nummerierung von zehn Hirnnervenpaaren wurde erst 1788 durch die bis heute gültige Beschreibung von 12 Hirnnerven durch Samuel Thomas Soemmerring (1755−1830) abgelöst. Er gebrauchte nicht nur als erster diesen Begriff in seinem Werk. Wegweisend waren ferner seine genauen Beobachtungen, die Neuroanatomie, Pathologie und klinische Störungen zu einem Gesamtbild verbanden. Denn Willis stützte seine Erkenntnisse auch auf Fallgeschichten von Patienten, die er nach dem Tod sezierte, um anatomische Erklärungen für ihre Symptome zu finden. So beschrieb er erstmals die Myasthenia gravis, das Restless-Legs-Syndrom und Hirnveränderungen bei angeborenen neurologischen Störungen.
Der bedeutende Neurophysiologe und Nobelpreisträger Charles S. Sherrington (1857−1952) brachte die Leistung von Willis folgendermaßen auf den Punkt: „Willis ging zur Natur selbst. Er stellte Gehirn und Nervensystem auf ihre moderne Grundlage, soweit das jemals getan werden konnte.“
Cerebellum
Kleinhirn/Cerebellum/cerebellum
Das Cerebellum (Kleinhirn) ist ein wichtiger Teil des Gehirns, an der Hinterseite des Hirnstamms und unterhalb des Okzipitallappens gelegen. Es besteht aus zwei Kleinhirnhemisphären, die vom Kleinhirncortex (Kleinhirnrinde) bedeckt werden und spielt unter anderem eine wichtige Rolle bei automatisierten motorischen Prozessen.
Thalamus dorsalis
Thalamus dorsalis/Thalamus dorsalis/thalamus
Der Thalamus ist die größte Struktur des Zwischenhirns und ist oberhalb des Hypothalamus gelegen. Der Thalamus gilt als „Tor zum Bewusstsein“, da seine Kerne Durchgangstation für sämtliche Information an den Cortex (Großhirnrinde) sind. Gleichzeitig erhalten sie auch viele kortikale Eingänge. Die Kerne des Thalamus werden zu Gruppen zusammengefasst.
Hirnnerv
Hirnnerv/-/cranial nerve
Eine Gruppe von 12 paarigen Nerven, die direkt am Gehirn entspringen, meist am Hirnstamm. Sie werden mit römischen Ziffern (I – XII) nummeriert. Der erste und der zweite Hirnnerv (Riech– und Sehnerv) sind im eigentlichen Sinn keine Nerven sondern Teile des Gehirns.
Zum Weiterlesen:
- Arráez-Aybar LA et al.: Thomas Willis, a pioneer in translational research in anatomy (on the 350th anniversary of Cerebri anatome). J Anat. 2015 Mar;226(3):289 – 300. doi: 10.1111/joa.12273.
- Isler, H.R:: Thomas Willis. Ein Wegbereiter der modernen Medizin, 1621 – 1675. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft, Stuttgart 1965