Geisterhafte Pein
Phantomschmerzen in amputierten Gliedmaßen sind oftmals eine Qual für die Betroffenen. Eine unglückliche Neuorganisation im Gehirn könnte die Ursache sein.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Peter W. Reeh
Veröffentlicht: 09.06.2017
Niveau: mittel
- Viele Patienten kämpfen nach einer Amputation mit schmerzhaften Phantomempfindungen in dem nicht mehr existierenden Glied. Sie haben das Gefühl, dass es juckt, kribbelt oder intensiv brennt.
- Lange Zeit vermutete man, dass hinter den Phantomgliedern und -schmerzen die durchtrennten Nervenendungen am Gliedmaßenstumpf stecken. Schließlich kann man einem Patienten Phantomschmerzen hervorrufen, indem man etwa das Ende des verbliebenen Armes drückt.
- Die heute vorherrschende Theorie geht allerdings davon aus, dass vielmehr eine fehlangepasste Neuorganisation im Gehirn die Ursache ist. Dabei wandere etwa das Areal im Gehirn, das den Mund repräsentiere in das benachbarte neuronale Areal der amputierten Hand ein.
- Doch auch diese Theorie blieb nicht ohne Widerspruch: Manche Studien fanden keine Umorganisation im Gehirn von Patienten mit Phantomschmerzen.
- Viele der heutigen Therapien setzen allerdings weiter auf die Standardtheorie. Mit Spiegeln etwa gaukelt man dem Gehirn vor, das amputierte Glied existiere wieder. Solche Behandlungen helfen zumindest einem Teil der Patienten.
Neben den häufigen Fällen von Phantomschmerzen nach Amputationen finden sich in der wissenschaftlichen Literatur immer wieder auch ungewöhnliche Fälle. So beschrieb der klinische Neurologe Daniel Jacome vom Baystate Franklin Medical Center im amerikanischen Massachusetts 2001 eine 52 Jahre alte Frau, die in ihrem Mund vampirartige Eckzähne spürte. Die “Dracula-Zähne” befanden sich ihrem Empfinden nach vor ihren normalen Eckzähnen und fühlten sich an, als würden sie gegen ihre Zunge drücken. Es handelte sich dabei nicht nur um Zähne, die nicht existierten, sondern auch nie existiert hatten. Der Patientin hatte man allerdings übertrieben wucherndes Zahnfleisch entfernt. So ungewöhnlich dieser Fall von “Dracula-Zähnen” ist, – Phantomschmerzen in den Zähnen sind es keineswegs. Sie finden sich immer wieder bei Menschen nach chirurgischen Eingriffen im Mund.
Es muss zutiefst verstörend sein: Sie wachen im Krankenhaus auf. Ihr Körper schmerzt, aber die Erinnerung daran, was passiert ist, ist wie ausgelöscht. Endlich kommt der Arzt und berichtet von einem Unfall, der Ihnen die linke Hand genommen hat. “Blödsinn”, denken Sie. “Der Arzt muss hier etwas durcheinanderbringen. Ich kann meine linke Hand doch deutlich spüren, und sie schmerzt!” Doch dann schauen Sie an sich herab, auf die Decke, unter der die Hand liegt. Sie möchten die Hand heben und dem Arzt zeigen. Doch als Sie es versuchen, passiert ... nichts. Der Arzt hatte recht, die Hand, die sie spüren und glauben, bewegen können, existiert nicht mehr.
Nach dem Verlust einer Gliedmaße im Zuge eines Unfalls oder einer Amputation ergeht es vielen Patienten ähnlich. Sie spüren ihre Hand oder ihr Bein noch. Und rund 80 Prozent von ihnen kämpfen mit schmerzhaften Phantomempfindungen. Sie haben das Gefühl, dass es unangenehm juckt, kribbelt oder intensiv brennt. Eine Patientin beschrieb das Phänomen einmal sehr eindrücklich: “Es ist ein bisschen so, als trage man einen ellenbogenlangen Abendhandschuh. Und überall, wo der Handschuh die Haut berühre, fühle es sich an, als wenn man sich am Grill verbrennt. Instinktiv möchte man die Hand wegziehen, aber bei diesem Schmerz geht das nicht.”
Im 19. Jahrhundert war es der amerikanische Chirurg Silas Weir Mitchell der den Ausdruck “Phantomglied” nach Untersuchungen an Menschen mit Amputationen prägte. Mitchell sprach davon, dass “Tausende von Geistergliedmaßen ebenso viele gute Soldaten heimsuchten und sie zuweilen folterten.” Welche Mechanismen genau hinter dem Phänomen stecken, bekommen Forscher bislang nur schwer zu fassen. Lange Zeit geisterte durch die wissenschaftliche Literatur die Vermutung, dass hinter den Phantomgliedern und -schmerzen die durchtrennten Nervenendungen am Gliedmaßenstumpf steckten. Schließlich kann man einem Patienten Phantomschmerzen bereiten, indem man etwa das Ende des verbliebenen Armes drückt. Die Hypothese: Die Nervenenden würden bei Phantomschmerzen weiterhin Signale an das Gehirn aussenden, das glaubt, der Input stammte weiterhin von der verlorenen Hand oder dem nicht mehr existierenden Bein. Und die grauen Zellen würden dann solche falschen Signale als Berührung und Schmerz fehlinterpretieren. Doch die auf dieser Theorie aufbauenden Therapien waren eine Enttäuschung und man ließ die Hypothese fallen.
Weiter auf der Fährte der geisterhaften, gleichwohl doch sehr realen Empfindungen, gelangten die Hirnforscher immer mehr von der Peripherie des Nervensystems in dessen Zentrum, zum Gehirn. Die verschiedenen Teile des menschlichen Körpers sind im somatosensorischen Cortex wie in einer Landkarte Punkt für Punkt verzeichnet und repräsentiert. Und da das Gehirn plastisch ist, können die Karten immer wieder umgezeichnet werden. Bei Pianisten etwa sind die Areale, die die Finger repräsentieren, durch das ständige Training vergrößert. Die Psychologin Herta Flor, wissenschaftliche Direktorin am Zentralinstitut für Seelische Gesundheit in Mannheim, vermutet schon seit Jahren, dass auch eine Amputation dazu führt, dass die Karten im Gehirn neu angefertigt werden.
Nach der Amputation einer Hand etwa wandere das Repräsentationsareal des Mundes und der Lippen in das benachbarte neuronale Areal der amputierten Hand ein, das ansonsten ohne Input arbeitslos wäre. Bat Herta Flor Probanden mit Phantomschmerzen, die Lippen zu bewegen, regte sich bei ihnen auch das Handareal. Bezeichnend ist dabei, dass diese Neuorganisation im Nervensystem nur bei Patienten auftritt, die unter Phantomschmerzen leiden. Und: Je mehr sich die Mundrepräsentation in das Handareal verschiebt, desto intensiver fällt der Phantomschmerz aus. Die Pein selbst könnte dann so entstehen. Der Input vom Gesicht aktiviert sowohl die Gesichts- als auch die Handregion. Diese Fehlverarbeitung interpretiert das Gehirn möglicherweise als Schmerz.
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Der Cortex cerebri, kurz Cortex genannt, bezeichnet die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
Phantomschmerz
Phantomschmerz/-/phantom pain
Phantomschmerzen werden als solche bezeichnet, weil sie in Phantomgliedern auftreten – in Gliedmaßen, die amputiert wurden.
Kratzer im Lack der Standardtheorie
“Zahlreiche Studien lieferten über die Jahre hinweg Belege für die Theorie einer fehlangepassten Neuorganisation im Gehirn”, sagt die Neurowissenschaftlerin Tamar Makin von der Uni Oxford. Doch es hätte auch Kritik daran gegeben. Makin selbst leuchtete die Theorie jedenfalls nicht ein. Statt wie andere Forscher vor ihr zu untersuchen, wie das Gehirn von Patienten mit Phantomschmerzen das Gesicht und die Lippen repräsentiert, wollte sie sich die Repräsentation der amputierten Glieder selbst anschauen. Dabei machte sie sich ein besonderes Phänomen zunutze: Viele Patienten berichten davon, dass sie ihr Phantomglied willentlich bewegen können. In einer für Aufsehen sorgenden Arbeit von 2013 ließ Makin genau das ihre Patienten tun. Das Ergebnis überraschte zumindest Makin selbst nicht: Gerade bei Patienten mit stärkeren Phantomschmerzen war die fehlende Hand stärker und nicht etwa schwächer im Gehirn abgebildet. Die Repräsentation der fehlenden Hand schien also noch intakt zu sein. “Und in einer weiteren Studie konnten wir zeigen, dass die Abbildung der Lippen im Gehirn nicht in das Hirngebiet der fehlenden Hand einwandert”, sagt Tamar Makin. Das widerspreche der herrschenden Theorie einer aus dem Ruder gelaufenen Umorganisation im Gehirn. Und noch etwas bringt Makin ins Spiel: “Die frühere Erklärung von Phantomschmerzen, die von falschem Input aus der Peripherie, etwa vom verletzten Armstumpf ausgelöst werde, erhält derzeit neuen Auftrieb.” Der kommt vor allem von einer Patientenstudie, die die Erfahrungen von Schmerztherapeuten eindrucksvoll bestätigt: Wenn man nahe dem Rückenmark den Zustrom von spontanen Neuroimpulsen durch Injektion eines lokalen Betäubungsmittels unterbricht, verschwindet sofort das Phantom und mit ihm der Schmerz, auch wenn er schon lange bestanden hat.
Herta Flor, die heute als einer der wichtigsten Verfechterinnen der Theorie einer ungünstigen Umorganisation gilt, sieht das ein klein wenig anders: In den Untersuchungen von Makin sei aus verschiedenen methodischen Gründen unklar, ob die von ihr gemessene Aktivierung tatsächlich von dem Handareal im Gehirn stammten. “Meine Kollegen und ich haben darüber hinaus immer die Meinung vertreten, dass periphere und zentrale Faktoren zusammenspielen.” Flor verweist hierbei etwa auf Computermodelle, die zeigen, dass ungeordneter neuronaler Input etwa von dem verbliebenen Armstumpf, die Neuorganisation verstärke. “Ich würde also sagen, dass sich diese Theorien ergänzen und nicht ausschließen.”
Phantomglied
Phantomglied/-/phantom limb
Ein Phantomglied wird vom Patienten nach wie vor gespürt, obwohl es amputiert wurde. Die Empfindungen sind meist negativer Natur, oft in Form von Schmerz.
Rückenmark
Rückenmark/Medulla spinalis/spinal cord
Das Rückenmark ist der Teil des zentralen Nervensystems, das in der Wirbelsäule liegt. Es verfügt sowohl über die weiße Substanz der Nervenfasern, als auch über die graue Substanz der Zellkerne. Einfache Reflexe wie der Kniesehnenreflex werden bereits hier verarbeitet, da sensorische und motorische Neuronen direkt verschaltet sind. Das Rückenmark wird in Zervikal-, Thorakal-, Lumbal und Sakralmark unterteilt.
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Das Gehirn austricksen
Wie die Ursachen auch immer genau beschaffen sein mögen, die Theorie eines ungünstigen Umbaus im Gehirn hat der Behandlung von Phantomschmerzen auf jeden Fall neue Impulse verliehen. So hat etwa der indische Neurologe Vilayanur Ramachandran von der University of California, San Diego das so genannte Spiegeltraining entwickelt. Wie therapiert man etwas, was im Falle der verlorenen Gliedmaße gar nicht existiert, was nur ein Phantom ist? Nun, wenn das Gehirn dem Körpergefühl eine nicht existierende Hand vorgaukelt, warum dann nicht einfach auch das Gehirn austricksen. Genau das macht die Spiegeltherapie. Der Patient befindet sich dabei so vor einem Spiegel, dass er nur den gesunden Arm, nicht aber den amputierten sehen kann. Wenn er nun die gesunde Hand bewegt, sieht er diese auf die amputierte Hand projiziert. Auf diese Weise erhält das Gehirn den Eindruck, der amputierte Körperteil wäre wieder vorhanden und intakt.
Bislang gibt es nur wenige methodisch strengere Studien zur Wirksamkeit dieser Behandlung. In einer Untersuchung von Herta Flor verringerten sich die Phantomschmerzen bei ihren Probanden im Schnitt um fast 30 Prozent. Darüber hinaus konnten die Forscher zeigen, dass sich genau diejenigen Hirnareale normalisierten, die sich aufgrund der Amputation umorganisiert hatten. Wie die Therapie das vollbringt, ist nicht ganz klar. Möglicherweise ist es für das Gehirn einfacher, das verlorene Glied wieder in seine neuronalen Karten aufzunehmen, wenn die Körperwahrnehmung und die visuelle Wahrnehmung übereinstimmen. Aber noch etwas anderes offenbarte sich in Flors Studie. Die Therapie hilft längst nicht jedem. “Bei der Spiegeltherapie ist es so, dass Personen, die eine schlechte Körperzugehörigkeit des Körperteils im Spiegel haben oder nicht das Gefühl haben, die Bewegung selbst anzustoßen, schlechter abschneiden”, sagt Flor. Ähnliche Resultate kann man übrigens über ein Training mit einer speziellen Prothese erzielen. Auch hier bilden sich bei einem Teil der Patienten die Umbauten in der Hirnrinde zurück, und die Phantomschmerzen nehmen ab. “Ich glaube schon, dass Therapien, die eine Normalisierung zentraler Veränderungen zum Ziel haben, besonders effektiv sind”, sagt Herta Flor.
So geisterhaft die Empfindungen der Patienten auch scheinen, die Wissenschaft bekommt sie nach und nach wohl doch zu fassen.
Wahrnehmung
Wahrnehmung/Perceptio/perception
Der Begriff beschreibt den komplexen Prozess der Informationsgewinnung und –verarbeitung von Reizen aus der Umwelt sowie von inneren Zuständen eines Lebewesens. Das Gehirn kombiniert die Informationen, die teils bewusst und teils unbewusst wahrgenommen werden, zu einem subjektiv sinnvollen Gesamteindruck. Wenn die Daten, die es von den Sinnesorganen erhält, hierfür nicht ausreichen, ergänzt es diese mit Erfahrungswerten. Dies kann zu Fehlinterpretationen führen und erklärt, warum wir optischen Täuschungen erliegen oder auf Zaubertricks hereinfallen.
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Der Cortex cerebri, kurz Cortex genannt, bezeichnet die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
zum Weiterlesen:
Foell, J., et al. (2014): Mirror therapy for phantom limb pain: brain changes and the role of body representation. Eur J Pain, 18(5), pp.729-39
Makin, T. et al. (2015): Reassessing cortical reorganization in the primary sensorimotor cortex following arm amputation. Brain, 138, pp.2140-6.
Makin, T. et al. (2013): Phantom pain is associated with preserved structure and function in the former hand area. Nature Commun, 4, p.1570.