Frage an das Gehirn
Gibt es das perfekte Gedächtnis?
Veröffentlicht: 03.09.2017
Ist es möglich, dass sich ein Mensch an jede Situation im Leben erinnert?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Prof. Dr. Martin Korte, Technische Universität Braunschweig: Höchstwahrscheinlich nicht. Es wäre auch nicht sehr sinnvoll. Schließlich ist unser Gehirn dazu da, unsere Umwelt wahrzunehmen und zu interpretieren. Je schneller wir alle dafür relevanten Informationen abrufen können, umso besser. Das wird aber umso schwieriger, je mehr Informationen man hat – so wie große Datenbanken auch viel Zeit brauchen um zu Lösungen zu kommen. Wir können aber nicht minutenlang in einer bestimmten Situation verharren, um zu überlegen, was wir als nächstes tun. Wir müssen die Information schnell haben und das geht eben nur, wenn unser Gedächtnis von Anfang an hochselektiv ist.
Entscheidend ist also, dass wir uns Dinge merken, mit denen wir etwas Wichtiges assoziieren und die optimalerweise noch einen emotionalen Gehalt haben. Wir behalten Informationen, mit denen wir glauben, in Zukunft besser planen zu können. Ein triviales Beispiel: Ein Zebra trifft an einer Wasserstelle auf ein Rudel Löwen. Die Assoziation zwischen dieser Wasserstelle und den Löwen ist eine für das Zebra überlebenswichtige Information. Schließlich will es nicht gefressen werden. Ein paar Tage lang wird das Zebra dort nicht mehr vorbeigehen und auch danach wird es an dieser Stelle aufmerksamer sein.
Damit ein Gehirn effizient arbeiten kann, ist es also zunächst einmal entscheidend, Unwichtiges von Wichtigem zu trennen und sich dann letzteres zu merken. Doch was unser Hirn in einer bestimmten Situation für wichtig hält, ist eine andere Frage. Wohl jeder war schon einmal in einer Situation, in der man sich im Nachhinein wünscht, man hätte damals besser aufgepasst. Es ist ja auch oft ein Aufmerksamkeits- und kein Gedächtnisproblem.
Es gibt aber Menschen, die ein besonders gutes Gedächtnis haben. Ein paar davon haben ein phänomenales autobiographisches Gedächtnis, eine Art Hypermemory. Wir nennen das hyperthymestisches Syndrom. Das klingt wie eine Krankheit – ist es auch ein bisschen. Denn die betroffenen Menschen sind nicht so glücklich damit, dass sie sich an enorm viele Situationen in ihrem Leben erinnern können. Wenn man sie fragt, was sie an einem bestimmten Tag gemacht haben, wissen sie beispielsweise noch, dass sie Pizza gegessen haben und abends ausgegangen sind – auch, wenn das 23 Jahre, 4 Monate und 21 Tage her ist. Doch selbst diese Menschen können sich nicht an jede Situation im Laufe des Tages erinnern und auch nicht an jeden Tag. Das bekannteste Beispiel ist Jill Price. Die US-Amerikanerin kann sich ab ihrem 15. Lebensjahr an drei, vier, fünf Ereignisse pro Tage erinnern. Aber den kompletten Tagesablauf weiß sie nicht mehr.
Wie das möglich ist, weiß man noch nicht genau. Man weiß, dass im Schläfenlappen der vordere Pol und der untere Teil des Stirnlappens besonders aktiv sind, wenn wir uns an persönliche Lebensereignisse erinnern. Bei Menschen mit einem phänomenalen autobiographischen Gedächtnis sind diese Gehirnbereiche leicht vergrößert. Die Schwierigkeit ist nun, herauszufinden, ob sie von Geburt an größer waren oder ob sie sich infolge der häufigeren Nutzung vergrößerten.
Neurowissenschaftler haben auch einige Menschen untersucht, die in anderen Bereichen ein besonders gutes Gedächtnis haben, wie beispielsweise Kim Peek. Der US-Amerikaner mit einer so genannten Insel-Begabung, kannte aus über 12.000 Büchern jedes einzelne Wort und jedes Komma. Bildgebende Verfahren zeigten, dass er Teile seines Gehirns, welches Normal-Sterbliche für das implizite, nicht-deklarative Gedächtnis verwenden, für das bewusste Gedächtnis nutzte. Doch der Preis dafür war hoch. Kim konnte sich beispielsweise sehr schlecht in sozialen sowie in unübersichtlichen Situationen, wie im Straßenverkehr, zurechtfinden. Ich glaube, für uns ist das auch eine Erinnerung daran, wie viele Gedächtnisprozesse wir bewältigen, die wir gar nicht bemerken.
Aufgezeichnet von Nicole Paschek