Brüchige Brücke zwischen Kopf und Körper
Das Rückenmark ist die fingerdicke Brücke zwischen Gehirn und Körper. Wird sie geschädigt oder im Zuge von Erkrankungen wie ALS oder Tumoren brüchig, hat das fatale Folgen – von Empfindungsstörungen bis hin zu Lähmungen.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Norbert Weidner
Veröffentlicht: 31.08.2019
Niveau: leicht
- Bei Polio sorgt ein winziger Erreger für großen Schaden. Das Poliovirus zerstört Motoneurone des Vorderhorns des Rückenmarks. Dadurch erhalten die Muskeln keine Signale mehr vom Gehirn und Rückenmark und verkümmern, bis es zu einer Lähmung kommt.
- Eine der mit Abstand schwerwiegendsten Formen von durch das Rückenmark verursachten Lähmungen ist die Querschnittlähmung. Meist werden dabei die Nervenfasern im Zuge eines Unfalls durchtrennt oder gequetscht und die Signale aus dem Gehirn können nicht länger zu den Muskeln wandern.
- Bei Amyotropher Lateralsklerose zeigen motorische Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark eine schädliche Anreicherung von Eiweißen, was zu einer Degeneration der Motoneurone führt.
- Auch Tumore bedrohen das empfindliche Rückenmark, drücken von außen oder innen auf das Rückenmark. Dadurch wird die lokale Durchblutung in Teilen des Rückenmarks so eingeschränkt, dass es zu Störungen der Sensibilität, Missempfindungen, Blasenstörungen und Lähmungen führen kann.
- Neben der Motorik und der Weiterleitung von Sinnesempfindungen werden im Rückenmark auch Schmerzen erfasst und moduliert. Daher setzt man bei der Therapie chronischer Schmerzen auch am Rückenmark an.
Ob Schlaganfall, Hirntrauma oder multiple Sklerose: Sie alle können zu einer spastischen Lähmung führen. Die Ursache liegt darin, dass die Motoneurone in der Hirnrinde und im Hirnstamm in Mitleidenschaft gezogen werden. Es kommt zu einem Ungleichgewicht im erregenden und hemmenden Input von Motoneuronen. Dieses Ungleichgewicht führt zu einer Überaktivierung der Muskeln. Durch eine gesteigerte Antwort von Motoneuronen im Rückenmark ist der Muskeldehnungsreflex erhöht: Bei einer Muskeldehnung wird daher reflexartig eine Muskelverspannung ausgelöst. Die Muskeln sind permanent verkrampft und steif und schränken die normale Beweglichkeit ein.
Schon auf Gemälden aus dem antiken Ägypten aus der Zeit von 1403 bis 1365 vor Christus ist die Erkrankung dargestellt: Man sieht Kinder mit verkümmerten Gliedmaßen, die an einem Stock gehen. Früher war Polio eine überaus gefürchtete Kinderkrankheit, schließlich kann sie Zellen im Rückenmark zerstören und Lähmungen nicht nur der Muskeln, sondern sogar der Atmung auslösen. Ab 1988 gelang es der Weltgesundheitsorganisation, den größten Teil der Welt durch massive Impfkampagnen von Polio zu befreien. Sieht man von einigen eingeschleppten Infektionen ab, gab es in Deutschland nach 1990 keine Fälle von Kinderlähmung mehr.
Hinter den Schäden bei der Kinderlähmung steckt ein winziger Erreger: Das Poliovirus hat einen Durchmesser von lediglich 25 bis 30 Millionstel Millimeter (Nanometer) und gelangt durch verunreinigtes Trinkwasser oder Lebensmittel in den Körper. Dort infiziert es die ersten Zellen, mit denen es in Kontakt kommt – den Rachen und die Darmschleimhaut. Dann kapert das Virus die Maschinerie der Wirtszelle und beginnt sich zu vermehren.
Bei über 95 Prozent der Infizierten verläuft die Infektion ohne Symptome. Doch in rund einem Prozent der Fälle breitet sich das Poliovirus entlang bestimmter Nervenfaser-Bahnen aus. Gern vermehrt es sich in den Motoneuronen des Vorderhorns des Rückenmarks – und zerstört sie. Das führt zu einer Schwäche der Muskeln, die ursprünglich von den abgestorbenen Neuronen durchdrungen waren: sie erhalten keine Signale mehr von Gehirn und Rückenmark. Letztendlich verkümmern die Muskeln, werden schlaff, lassen sich nur schlecht kontrollieren und fallen schließlich einer Lähmung zum Opfer.
Eine Frage der Höhe
Heute ist Polio zum Glück kaum noch ein Thema. Doch ähnlich folgenreich ist die Querschnittlähmung. Meist werden dabei die Nervenfasern im Zuge eines Unfalls so durchtrennt oder gequetscht, dass die Signale aus dem Gehirn nicht länger zu den Muskeln der Extremitäten wie auch des Darms und der Harnblase gelangen und umgekehrt Empfindungsreize von Armen und Beinen nicht mehr zum Gehirn geleitet werden. Geht es um das Ausmaß der Querschnittlähmung, entscheiden Schwere und Höhe der Verletzung über die Folgen: Je höher im Rückenmark die Verletzung liegt – und je kompletter das Rückenmark auf einer bestimmten Höhe verletzt ist –, desto mehr Muskeln sind von der Lähmung betroffen und desto ausgeprägter sind Empfindungsstörungen. Bei einer Verletzung unterhalb der Halswirbel, der so genannten Paraplegie, können die Betroffenen Arme und Hände noch bewegen, die Beine sind jedoch gelähmt. Noch einschränkender ist eine Tetraplegie. Bei dieser Rückenmarksverletzung über dem ersten Brustwirbel oder in der Halswirbelsäule können die Patienten weder Arme noch Beine bewegen. Bei Verletzungen oberhalb des 4. Halswirbels ist auch das Zwerchfell gelähmt; die Betroffenen müssen künstlich beatmet werden.Dazu wird bei allen Schädigungen des Rückenmarks das autonome Nervensystem verletzt. Folge sind Blasen- und Darmentleerungsstörungen sowie eine beeinträchtigte Sexualfunktion.
Flächenbrand im Zentralen Nervensystem
Künstliche Beatmung droht auch Patienten mit Amyotropher Lateralsklerose (ALS). Sie verlieren nach und nach die Kontrolle über Arme und Beine, können kaum oder gar nicht mehr schlucken und auch nicht sprechen. Ohne künstliche Beatmung sterben viele dieser Patienten im Lauf von drei bis fünf Jahren an den Folgen einer Lähmung der Atemmuskulatur. Der berühmte Astrophysiker Stephen Hawking konnte nur so lange überleben, weil er künstlich beatmet wurde.
" Bei ALS zeigen motorische Nervenzellen im Gehirn eine schädliche Anreicherung von Eiweißen wie TDP-43“, sagt der Neurologe Thomas Meyer von der Berliner Charité. Eigentlich ist TDP-43 eine gute Sache, hilft das Eiweiß doch dabei, im Zellkern Erbinformationen abzulesen. Doch manchmal ist das Protein zu viel des Guten, lagert sich auf schädliche Weise ab und führt zu einer Degeneration der Motoneurone. Die Anreicherungen dieser Eiweiße sind auchim Rückenmark, in den Motoneuronen des Vorderhorns, nachweisbar. "Hier scheint also der gleiche neurodegenerative Mechanismus am Werk zu sein", sagt Thomas Meyer.
Diese Eiweißablagerungen gehen vom Gehirn aus und breiten sich wie ein Flächenbrand auf das Rückenmark aus. "Nach einer neueren Hypothese scheint aber auch die Entstehung der ALS im Rückenmark möglich", erklärt Thomas Meyer. So ist eine Variante der ALS unter dem Namen „Progressive Muskelatrophie“ bekannt, die sich ausschließlich im Rückenmark abspielt. "Ungefähr 10 Prozent der ALS-Patienten leiden unter dieser Form."
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Neurodegeneration
Neurodegeneration/-/neurodegeneration
Sammelbegriff für Krankheiten, in deren Verlauf Nervenzellen sukzessive ihre Struktur oder Funktion verlieren, bis sie teilweise sogar daran zugrunde gehen. Vielfach sind falsch gefaltete Proteine der Auslöser – wie etwa bestimmte Formen der Eiweiße Beta-Amyloid und Tau im Falle von Alzheimer. Bei anderen Krankheiten, beispielsweise bei Parkinson oder Chorea Huntington, werden Proteine innerhalb der Neurone nicht richtig abgebaut. In der Folge lagern sich dort toxische Aggregate ab, was zu den jeweiligen Krankheitserscheinungen führt. Während Chorea Huntington eindeutig genetisch bedingt ist, scheint es bei Parkinson und Alzheimer allenfalls bestimmte Ausprägungsformen von Genen zu geben, welche ihre Entstehung begünstigen. Keine dieser neurodegenerativen Erkrankungen kann bisher geheilt werden.
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Trauma durch Tumor
Gefahren für das Rückenmark lauern an vielen Ecken und Enden. Nicht nur Verletzungen durch Unfälle oder neurodegenerative Erkrankungen, auch Tumore bedrohen die empfindliche Brücke zwischen Kopf und Körper. So genannte primäre Rückenmarkstumoren können bösartig oder gutartig sein. Ein Drittel dieser Wucherungen haben ihren Ursprung in den Zellen innerhalb des Rückenmarks. Diese Tumoren können sich innerhalb des Rückenmarks ausdehnen und zu einem mit Flüssigkeit gefüllten Hohlraum führen. Die meisten primären Rückenmarkstumore entspringen aber Zellen, die sich um das Rückenmark befinden, wie beispielsweise den Zellen der Meningen – der Bindegewebsschichten, die das Rückenmark umgeben.
„Bedrängungen des Rückenmarks durch Tumore äußern sich in Ausfallerscheinungen“, sagt der Neurochirurg Andreas Unterberg, Direktor der Neurochirurgischen Klinik des Universitätsklinikums Heidelberg. Entweder üben sie von außen oder von innen Druck auf das Rückenmark aus. „Dadurch wird die Durchblutung in Teilen des Rückenmarks so eingeschränkt, dass die lokale Funktion nicht mehr aufrechterhalten werden kann.“ Das kann sich in Störungen der Sensibilität, Missempfindungen, Blasenstörungen und wenn es mehr wird, in Lähmungen äußern. "Bei Tumoren etwa, die auf der Höhe der Brustwirbelsäule das Rückenmark bedrängen, kann erst das eine Bein schwächer werden, dann das zweite. Wenn der Tumor höher sitzt, können auch die Arme betroffen sein." Im Endeffekt handelt es sich um eine Querschnittlähmung ohne Unfall.
Ärzte können mit Hilfe einer Kernspintomografie eine Diagnose stellen. In den weitaus meisten Fällen lässt sich damit klären, was den Ausfallerscheinungen zugrunde liegt. Denn es könnte sich auch um Entzündungen des Rückenmarks handeln oder um Traumen wie Wirbelkörperfrakturen, die dazu führen, dass das Rückenmark gequetscht und geschädigt wird, erklärt Underberg. Eine andere mögliche Ursache im Bereich des Halses ist die zervikale Spinalkanalstenose. „Hierbei ist der Kanal in der Wirbelsäule verengt, durch den das Rückenmark verläuft, etwa durch knöcherne Einengungen."
Einengungen des Spinalkanals sorgen bei den Betroffenen für Empfindungsstörungen: "Man läuft wie auf Watte." Dann sind die Propriozeption – die Selbstwahrnehmung – erst der Füße, dann der Beine gestört. Die Propriozeption liefert beim Gesunden verlässliche Informationen über Position und Bewegungen des Körpers – eine extrem wichtige Funktion. Durch die Einengung bekommt der Patient allmählich zusätzlich auch eine Ataxie, eine Störung der Bewegungskoordination. Sie äußert sich in unkontrollierten Bewegungen.
Türhüter der Schmerzen
Das Rückenmark ist die Brücke zwischen Gehirn und Körper. Neben der Motorik und der Weiterleitung von Sinnesempfindungen erfasst dieser Teil des Zentralen Nervensystems auch Schmerzen und moduliert sie. "Das Rückenmark ist letztlich für eine Schmerzregulation zuständig, die als „Gating“ bezeichnet wird", sagt Thomas Meyer, der Berliner Neurologe. "Mechanismen steuern dabei schon auf Rückenmarksebene, ob der Schmerz überhaupt ins Gehirn weitergeleitet wird." Rückenmark und Gehirn teilen untereinander die Arbeit auf: Das Rückenmark übernimmt eine Art Vorsortierung der Schmerzen. Das Gehirn interpretiert dann die Schmerzsignale. "Dennoch spielt auch das Rückenmark durch das Gating eine Rolle bei chronischen Schmerzen." Das macht man sich bei der Therapie mit Rückenmarkstimulatoren zu Nutze, um die Schmerzweiterleitung zu unterdrücken und damit das Erleben der Schmerzen zu reduzieren. Und auch Opiate, die gegen chronische Schmerzen zum Einsatz kommen, setzen im Rückenmark an.“
Zum Weiterlesen
- Kuo, C-L, Hu, G-C.: Post-stroke Spasticity: A Review of Epidemiology, Pathophysiology,
and Treatments. Intern. J of Gerontology 12 (2018): 280-281 (zum Volltext: https://www.sciencedirect.com/science/article/pii/S1873959818300073 ) - Mehndiratta, MM et al: Poliomyelitis: historical facts, epidemiology, and current challenges in eradication. Neurohospitalist 2014 Oct;4(4):223-229. (abstract https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/25360208)
- Neurological Aspects of Spinal Cord Injury, Herausgeber: Weidner, N., Rupp, R., Tansey, K.