Frage an das Gehirn
Beeinflussen die Corona-Maßnahmen das Gehirn?
Veröffentlicht: 28.02.2021
Ich habe seit einiger Zeit vermehrt Konzentrationsstörungen, mein Kurzzeitgedächtnis leidet. Kann dies mit Covid-19 bzw. den Maßnahmen zusammenhängen?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Prof. Dr. Emrah Düzel, Direktor des Instituts für Kognitive Neurologie und Demenzforschung an der Universität Magdeburg und Standortsprecher und Leiter der Klinischen Forschung des Deutschen Zentrums für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) am Standort Magdeburg: Um es kurz zu sagen: Ja, das ist durchaus möglich. Die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung greifen in vielfältiger Weise in unser Leben ein – und das betrifft letztlich auch das Gehirn und kann sich daher auf die kognitive Leitungsfähigkeit auswirken.
Es ist bekannt, dass die Funktionalität unseres Gehirns sehr stark von der körperlichen Gesundheit abhängt. Aber nicht nur das: Bewegung, soziale Interaktion und die Möglichkeit Neues zu erleben – etwa im Museum oder in einer völlig neuen Umgebung bei Ausflügen und im Urlaub. Das alles stimuliert das Gehirn und wirkt sich positiv auf die Plastizität des Gehirns und die kognitive Leistungsfähigkeit aus. Durch die Pandemie-Maßnahmen entfallen viele dieser Stimuli oder werden stark eingeschränkt.
Gleichzeitig entsteht für viele Menschen eine extreme Stresssituation: die Doppelbelastung durch Homeoffice und Distanzlernen, Existenzängste – etwa bei Gastronomen, die über Wochen schließen müssen oder bei Künstlern, die keine Verdienstmöglichkeit mehr haben – Sorgen um die Gesundheit und die Zukunft, angespannte familiäre Situationen. Man fühlt sich der Pandemie und den damit einhergehenden Regelungen ausgeliefert. Das alles kann dafür sorgen, dass vermehrt Stresshormone ausgeschüttet werden. Hält dieser Zustand über längere Zeit an, so wie es aktuell in weiten Teilen der Bevölkerung der Fall ist, wirkt sich das permanent hohe Niveau an Stresshormonen hemmend auf die Plastizität und das Nervenwachstum aus. Die kognitive Leistungsfähigkeit wird also zusätzlich eingeschränkt.
Diese Zusammenhänge lassen sich normalerweise kaum flächendeckend in großen Bevölkerungsgruppen untersuchen. Tatsächlich bietet die Pandemie hier eine große wissenschaftliche Chance. Mit unserem Team im Institut für kognitive Neurologie und Demenzforschung in Magdeburg sowie mit Kolleginnen und Kollegen des bundesweiten klinischen Netzwerks des DZNE haben wir daher eine Bevölkerungsstudie gestartet. Die Teilnehmer absolvieren dabei per App Gedächtnistests. So untersuchen wir, wie sich die Pandemie-Maßnahmen auf das Gedächtnis auswirken. Das trägt einerseits dazu bei, die aktuelle Situation besser zu verstehen und bewerten zu können und generelle Erkenntnisse über das Zusammenspiel von Gehirnfunktionen und der Gesundheit sowie Umwelt- und Lebensstil zu gewinnen. Aber wir haben auch die Hoffnung, für zukünftige Pandemien Erkenntnisse zu gewinnen, um das Kosten-Nutzen-Verhältnis von Maßnahmen besser beurteilen und gezieltere Entscheidungen treffen zu können.
Wer noch als Freiwilliger an der Studie teilnehmen möchte, kann sich auf der Bürgerforschungsplattform "Gemeinsam Gedächtnis erforschen" über die Studie informieren und die App herunterladen.
Aufgezeichnet von Stefanie Reinberger.
Plastizität
Plastizität/-/neuroplasticity
Der Begriff beschreibt die Fähigkeit von Synapsen, Nervenzellen und ganzen Hirnarealen, sich abhängig vom Grad ihrer Nutzung zu verändern. Mit synaptischer Plastizität ist die Eigenschaft von Synapsen gemeint, ihre Erregbarkeit auf die Intensität der Reize einzustellen, die sie erreichen. Daneben unterliegen auch Größe und Vernetzungsgrad unterschiedlicher Hirnbereiche einem Wandel, der von ihrer jeweiligen Aktivität abhängt. Dieses Phänomen bezeichnen Neurowissenschaftler als corticale Plastizität.
Gedächtnis
Gedächtnis/-/memory
Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.