Naturkatastrophen können zu Veränderungen der Gehirngröße führen
Umfassendste Studie ihrer Art zeigt, wie sich die relative Gehirngröße von Säugetieren in den letzten 150 Millionen Jahren verändert hat
Veröffentlicht: 28.04.2021
Tiere, die ein im Verhältnis zu ihrer Körpergröße großes Gehirn besitzen, sind einer weit verbreiteten Theorie zufolge besonders intelligent. Diese Vorstellung beruht jedoch auf nie überprüften Annahmen darüber, wie sich Gehirn- und Körpergröße gemeinsam entwickeln. Jetzt haben Forscher des Max-Planck-Instituts für Verhaltensforschung in Konstanz und der Stony Brook University in New York die Gehirnmasse und Körpergröße von mehr als 1000 heute lebenden sowie ausgestorbenen Arten verglichen - der größte Datensatz, der jemals für Säugetiere zusammengestellt wurde. Die Ergebnisse zeigen, dass die meisten Unterschiede in der Gehirngröße zwischen den heute lebenden Arten durch Veränderungen in Folge gigantischer Naturkatastrophen erklärt werden können. Außerdem wird deutlich, dass sich Gehirngröße und Körpergröße nicht immer parallel entwickelt haben. Die Ergebnisse legen daher nahe, dass die relative Gehirngröße nicht immer Rückschlüsse auf die Intelligenz eines Organismus erlaubt.
Forschende der Stony Brook University und des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie haben eine Zeitleiste zur Entwicklung von Gehirn und Körpergröße bei Säugetieren in den letzten 150 Millionen Jahren erstellt. Das Team aus 22 Forschenden, darunter Biologen, Evolutionsstatistiker und Anthropologen, hat dazu das Gewicht der Gehirne von 1400 lebenden und ausgestorbenen Säugetieren miteinander verglichen. Für die 107 untersuchten Fossilien - darunter uralte Wale und der älteste jemals gefundene Schädel eines Affen aus der Alten Welt - verwendeten sie Messungen des Hirnschädelvolumens welches mit dem Hirngewicht korreliert ist. Diese Messungen wurden dann zusammen mit der Körpergröße analysiert, um das Verhältnis zwischen Gehirn- und Körpergröße über die langen Zeiträume zu vergleichen.
Die Ergebnisse zeigen, dass das Verhältnis zwischen Hirn- und Körpergröße - das lange Zeit als Indikator für die Intelligenz von Tieren galt - im Laufe der Evolution keiner stabilen Skala gefolgt ist. Arten mit verhältnismäßig besonders großen Gehirnen wie Menschen, Delfine und Elefanten erreichten diese Proportionen auf unterschiedliche Weise: Elefanten nahmen zwar an Körpergröße zu, aber die Hirngröße stieg noch stärker. Delfine hingegen verringerten generell ihre Körpergröße, während die Hirngröße wuchs. Bei Menschenaffen findet sich ein allgemeiner Trend hin zu größeren Körpern und Gehirnen. Im Gegensatz dazu weisen die Vorfahren der zur menschliche Linie gehörenden Homininen im Verhältnis zu heute lebenden Menschenaffen eine relative Abnahme der Körpergröße und eine Zunahme der Gehirngröße auf.
Für die Autoren der Studie deuten diese komplexen Muster darauf hin, dass der Vergleich der Gehirn- mit der Körpergröße nicht immer ein gutes Maß für die Intelligenz einer Art darstellt. „Auf den ersten Blick mag es unwichtig wirken den evolutionären Verlauf der Körpergröße zu berücksichtigen", sagt Jeroen Smaers, Evolutionsbiologe an der Stony Brook University und Erstautor der Studie. "Schließlich haben viele der Säugetiere mit großen Gehirnen wie Elefanten, Delfine und Menschenaffen auch eine große relative Gehirngröße. Aber das ist nicht immer der Fall. Der kalifornische Seelöwe zum Beispiel hat eine geringe relative Gehirngröße, ist aber trotzdem bemerkenswert intelligent."
Intelligenz
Intelligenz/-/intelligence
Sammelbegriff für die kognitive Leistungsfähigkeit des Menschen. Dem britischen Psychologen Charles Spearman zufolge sind kognitive Leistungen, die Menschen auf unterschiedlichen Gebieten erbringen, mit einem Generalfaktor (g-Faktor) der Intelligenz korreliert. Demnach lasse sich die Intelligenz durch einen einzigen Wert ausdrücken. Hierzu hat u.a. der US-Amerikaner Howard Gardner ein Gegenkonzept entwickelt, die „Theorie der multiplen Intelligenzen“. Dieser Theorie zufolge entfaltet sich die Intelligenz unabhängig voneinander auf folgenden acht Gebieten: sprachlich-linguistisch, logisch-mathematisch, musikalisch-rhythmisch, bildlich-räumlich, körperlich-kinästhetisch, naturalistisch, intrapersonal und interpersonal.
Selektionsdruck auf die Körpergröße
Unter Berücksichtigung der Evolutionsgeschichte zeigt die aktuelle Studie, dass das tiefe Gehirn-Körpergrößen-Verhältnis des Kalifornischen Seelöwen ein Resultat von starken Selektionsdrücken auf die Körpergröße ist – wahrscheinlich, weil sich die Tiere auf eine halb-aquatische ökologische Nische spezialisiert haben, also ins Wasser zurückgekehrt sind. Ihre geringe relative Gehirngröße wäre demnach eine Folge der Selektion auf größere Körpergröße, nicht der Selektion auf ein kleineres Gehirn.
"Wir haben das alte Dogma umgestoßen, dass die relative Gehirngröße einer Art ein Maß für ihre Intelligenz ist", sagt Kamran Safi, Forscher am Max-Planck-Institut für Verhaltensbiologie und Letztautor der Studie. "Manchmal können relativ große Gehirne das Endergebnis einer allmählichen Verringerung der Körpergröße, infolge Anpassung an einen neuen Lebensraum oder eine neue Art der Fortbewegung sein - mit anderen Worten, sie haben überhaupt nichts mit Intelligenzzunahme zu tun."
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Sammelbegriff für die kognitive Leistungsfähigkeit des Menschen. Dem britischen Psychologen Charles Spearman zufolge sind kognitive Leistungen, die Menschen auf unterschiedlichen Gebieten erbringen, mit einem Generalfaktor (g-Faktor) der Intelligenz korreliert. Demnach lasse sich die Intelligenz durch einen einzigen Wert ausdrücken. Hierzu hat u.a. der US-Amerikaner Howard Gardner ein Gegenkonzept entwickelt, die „Theorie der multiplen Intelligenzen“. Dieser Theorie zufolge entfaltet sich die Intelligenz unabhängig voneinander auf folgenden acht Gebieten: sprachlich-linguistisch, logisch-mathematisch, musikalisch-rhythmisch, bildlich-räumlich, körperlich-kinästhetisch, naturalistisch, intrapersonal und interpersonal.
Bei Kleinsäugern nimmt die relative Hirngröße ab
Dies sind aber alles Beispiele von großen Säugetieren. Bei Kleinsäugern sieht das Bild ein bisschen anders aus. Anstatt der Vielfalt von evolutionären Wegen, auf welchen große Arten zu ihren verhältnismäßig großen Gehirnen gelangt sind, ist der Verlauf unter den Arten, wie goldenen Maulwürfen, Beuteltieren oder Fledermäusen, am unteren Ende der Gehirn-Körpergröße-Skala viel einheitlicher.
“Überraschend ist, dass wir bei Säugern mit kleinen Gehirnen in evolutionären Verlauf durchgehend eine disporportionale Größenabnahme des Gehirns im Vergleich zur Körpergröße finden. Es scheint beinahe, als ob es eine bestimmte minimale Körpergröße gibt, die nicht unterschritten werden kann”, sagt die Fledermausbiologin Dina Dechmann, Forscherin am Max Planck Institut für Verhaltensbiologie und Koautorin der Studie. “Im Falle der Fledermäuse, den einzigen fliegenden Säugetieren, ist das auch einleuchtend. Fledermäuse bewegen sich am energetischen Limit und da ist es sinnvoll, das energetisch teuere Gehirn zu verkleinern und "unnötigen Ballast", d.h. Funktionen die nicht benötigt werden, über Bord zu werfen.”
Starke Veränderungen nach Massenaussterben
Die Ergebnisse zeigen zudem, dass sich die Hirngröße nach zwei katastrophalen Ereignissen in der Erdgeschichte sprunghaft am stärksten veränderte: nach dem Massenaussterben vor 66 Millionen Jahren und einer Kimaveränderung vor 23 bis 33 Millionen Jahren. Nach dem Massenaussterben am Ende der Kreidezeit verschob sich das Verhältnis von Gehirn- und Körpergröße bei Gruppen wie Nagetieren, Fledermäusen und Fleischfressern, als sie in die leeren Nischen eindrangen, die die Dinosaurier hinterlassen hatten.
Etwa 30 Millionen Jahre später führte eine Abkühlung des Klimas zu noch tiefgreifenderen Veränderungen, wobei sich die Verhältnisse von Gehirn- und Körpergrößen bei Robben, Bären, Walen und Primaten verschoben. "Es war eine große Überraschung für uns, dass ein Großteil der Variation in der relativen Gehirngröße von heute lebenden Säugetiere durch Veränderungen erklärt werden kann, die ihre Vorfahren nach diesen katastrophalen Ereignissen durchmachten", sagt Jeroen Smaers. Dazu gehört auch die Evolution der größten Säugetiergehirne, wie die der Delfine, Elefanten und Menschenaffen, die alle ihre extremen Proportionen nach der Klimaveränderung vor 23 bis 33 Millionen Jahren entwickelten.
Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die Bemühungen, die Evolution der Intelligenz wirklich zu erfassen, intensivere Untersuchungen neuroanatomischer Merkmale erfordern, wie zum Beispiel von Gehirnregionen, die für höhere kognitive Prozesse benötigt werden. "Die relative Gehirngröße ist natürlich nicht völlig unabhängig von Intelligenz", sagt Smaers, "aber sie könnte in erster Linie ein Hinweis auf Anpassungen an großräumige Umweltveränderungen sein."
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Sammelbegriff für die kognitive Leistungsfähigkeit des Menschen. Dem britischen Psychologen Charles Spearman zufolge sind kognitive Leistungen, die Menschen auf unterschiedlichen Gebieten erbringen, mit einem Generalfaktor (g-Faktor) der Intelligenz korreliert. Demnach lasse sich die Intelligenz durch einen einzigen Wert ausdrücken. Hierzu hat u.a. der US-Amerikaner Howard Gardner ein Gegenkonzept entwickelt, die „Theorie der multiplen Intelligenzen“. Dieser Theorie zufolge entfaltet sich die Intelligenz unabhängig voneinander auf folgenden acht Gebieten: sprachlich-linguistisch, logisch-mathematisch, musikalisch-rhythmisch, bildlich-räumlich, körperlich-kinästhetisch, naturalistisch, intrapersonal und interpersonal.
Originalpublikation
JB Smaers, RS Rothman, DR Hudson, AM Balanoff, B Beatty, DKN Dechmann, D de Vries, JC Dunn, JG Fleagle, CC Gilbert, A Goswami, AN Iwaniuk, WL Jungers, M Kerney, DT Ksepka, PR Manger, CS Mongle, FJ Rohlf, NA Smith, C Soligo, V Weisbecker & K Safi; The evolution of mammalian brain size; Science Advances; 28 April, 2021
https://advances.sciencemag.org/lookup/doi/10.1126/sciadv.abe2101