110 Hirne
Die chronisch traumatische Enzephalopathie (CET) war lange Zeit ein Waisenkind unter den Erkrankungen des Gehirns. Erst die Arbeit einer Pathologin zeigte, wie groß das Problem wirklich ist.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Petra Wahle
Veröffentlicht: 15.06.2022
Niveau: leicht
- 2017 lieferte die Neuropathologin Ann McKee von der Boston University of Medicine den Beweis, dass Kopfverletzungen, etwa wiederholte Schläge auf den Kopf, im Zusammenhang stehen mit der chronisch traumatischen Enzephalopathie (CTE)
- CTE ist eine degenerative Hirnerkrankung und zählt im weitesten Sinne zu den Demenzen. Charakteristisch ist der langsame Zerfall von Hirnzellen.
- Das Risiko steigt beispielsweise bei American-Football-Spielern mit der Härte der Liga – und mit der Schwere und Häufigkeit von Kopfverletzungen.
- Bereits bei jugendlichen Sportlern steigt nach Kopfverletzungen das Risiko für psychische Probleme.
- Im Gehirn von verstorbenen CTE-Patienten finden Pathologen Ansammlungen des Tau-Proteins – in Konzentrationen, die mit denen bei fortgeschrittener Alzheimer-Demenz vergleichbar sind.
- Vermutlich sammelt sich durch die Verletzungen, die bei Schlägen auf den Kopf entstehen, immer mehr Zellmüll an. In der Folge kommt es zu fortschreitender Nervenschädigung.
- Noch lässt sich der Zerfall nicht aufhalten. Umso wichtiger ist es, dass Mannschaftsärzte die geistige Leistungsfähigkeit von Sportlern im Auge behalten – insbesondere nach Gehirnerschütterungen.
Tatort-Fans wissen Bescheid: Wenn in Münster der Fall mal wieder ins Stocken gerät, und selbst Kommissar Frank Thiel nicht mehr weiterweiß, schlägt die Stunde des Pathologen. Ein ums andere Mal findet Prof. Dr. Dr. Karl-Friedrich Boerne bei der Leichenschau den entscheidenden Hinweis zur Aufklärung des Verbrechens. Aber wäre Boerne nicht so unbescheiden, dann müsste selbst er den Hut ziehen vor der Arbeit, die Prof. Ann McKee von der Boston University of Medicine ganz real geleistet hat. Vor nunmehr fünf Jahren veröffentlichte die Neuropathologin und Expertin für neurodegenerative Erkrankungen im Fachblatt JAMA , eine Studie, die eine ganze Nation erschüttert hat – und deren Schlussfolgerungen bis heute nachhallen.
„110 Hirne“ titelte die New York Times noch am Tag der Veröffentlichung. Hinterlegt war der Text mit den Porträts Dutzender verstorbener American Football-Spieler und mit gefärbten Hirnschnitten, auf denen selbst Laien die Schäden erkennen konnten. Oft wirkte die Großhirnrinde verdünnt, die flüssigkeitsgefüllten Hohlräume (Ventrikel) im Inneren der Schädel waren vergrößert. Der jüngste Spieler war mit 23 Jahren gestorben, der älteste mit 89. Obwohl sie auf unterschiedlichen Positionen gespielt hatten, fand McKee eine glasklare Gemeinsamkeit: Mit einer einzigen Ausnahme waren von den 111 American Football-Spielern, die in der höchsten und härtesten Liga gespielt hatten, alle mit CTE gestorben. CTE steht für chronische traumatische Enzephalopathie und ist – wie die New York Times es formulierte – jene degenerative Hirnerkrankung, die mit wiederholten Schlägen auf den Kopf in Verbindung steht.
Die CTE – ein Waisenkind der Neurologie?
Wie eng dieser Zusammenhang ist, war bis dato unklar. Angesichts zahlreicher anderer und viel häufigerer degenerativer Hirnerkrankungen wie Alzheimer oder Parkinson gab es nur wenig Interesse für die CTE. Selbst in einem 800 Seiten dicken Standardlehrbuch des Fachgebietes fand sie noch vor 15 Jahren keine Erwähnung. Seitdem hatten sich bei einer ganzen Reihe von Kontaktsportarten zwar die Zeichen gemehrt, dass sie ein Risiko für langfristige geistige Beeinträchtigungen mit sich bringen. Allein: Wie groß dieses Risiko wirklich ist, und ob man dagegen ernsthafte Maßnahmen ergreifen müsse, war höchst umstritten.
Den Durchbruch brachte McKees Arbeit. Sie gilt heute nicht nur als anerkannter wissenschaftlicher Beweis für den Zusammenhang zwischen Kopfverletzungen und CTE, sondern auch als Meilenstein und Endpunkt einer viel zu langen Phase, in der Funktionäre, Manager, aber auch die Spieler selbst das Problem verdrängten.
Charakteristisch für die CTE ist der langsame Zerfall von Hirnzellen. Die Auslöser sind in der Regel Verletzungen des Kopfes wie Gehirnerschütterungen, aber auch Explosionen, wie sie Soldaten im Gefecht erleben können. Die CTE gehört im weiteren Sinne zur Krankheitsgruppe der Demenzen, bei denen eine beeinträchtigte Funktion des Gehirns dazu führt, dass die Patienten Probleme mit dem Gedächtnis, dem Denken und dem Lernen bekommen.
Zwei Namen für dieselbe Krankheit?
Tatsächlich hatte ein weiterer Pathologe – Harrison Martland – bereits 1928 festgestellt, dass viele Boxer offenbar langfristig Gehstörungen erleiden und zu zittern beginnen, dass es mit dem Gedächtnis bergab ging, und dass die alten Kämpfer psychische Probleme entwickelten. Er nannte das Phänomen Dementia pugilistica nach dem lateinischen Wort für Boxer, Pugil. Heute geht man davon aus, dass es sich um frühe Beschreibungen der CTE handelt.
Zu den Anzeichen der Krankheit gehören Stimmungsstörungen wie Depressionen, Reizbarkeit oder Hoffnungslosigkeit. Das Verhalten kann impulsiv und/oder aggressiv sein. Weiterhin können Gedächtnisstörungen oder andere Anzeichen einer Demenz auftreten. Die Patienten entwickeln zudem häufig Bewegungsstörungen, die denen von Parkinson-Kranken ähneln.
Die Ärzte unterschieden zwei verschiedene klinische Verläufe: Die erste Variante beginnt bereits im jungen Erwachsenenalter mit Stimmungs- und Verhaltensproblemen, während die geistigen Fähigkeiten erst später nachlassen. Bei der zweiten Variante, die sich erst relativ spät im Leben entwickelt, ist es genau umgekehrt: Erst lässt die Denkfähigkeit nach, dann folgen die Stimmungsschwankungen und Verhaltensprobleme.
Offensichtlich entwickelt aber längst nicht jeder, der einmal auf den Kopf geschlagen wurde oder eine Gehirnerschütterung erlitten hat, auch eine CTE. Nach aktuellen Schätzungen sind es bei den Sportlern beispielsweise „nur“ etwa drei Prozent jener, die mehrere – auch kleine – Gehirnerschütterungen hatten.
Dies wirft die Frage auf, ob weitere äußere Risikofaktoren dazukommen müssen, oder ob Menschen unterschiedlich empfindlich auf die gleichen Verletzungen reagieren. Auch hier lieferte die Studie Ann McKees entscheidende Hinweise. Sie hatte nämlich neben den 111 Hirnen von Profispielern aus der US nationalen Football League auch 91 weitere untersuchen können, die allesamt von ihren Besitzern noch zu Lebzeiten oder posthum von Verwandten einer Gewebesammlung für die Hirnforschung vermacht worden waren. 16 dieser Hirne stammten von Schülern, 53 hatten in einer College-Mannschaft gespielt, 22 in einer halb-professionellen beziehungsweise der kanadischen Liga.
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Kopfballspieler und menschliche Rammböcke
In der Gesamtbilanz war CTE bei 177 von 202 der untersuchten Sportler diagnostiziert worden, ein Anteil von 87 Prozent. In den verschiedenen Gruppen waren die Schäden durch CTE aber unterschiedlich groß. In den unteren Spielklassen waren mehrere Männer von CTE verschont geblieben oder hatten vergleichsweise milde Spuren der Krankheit. Je mehr Spielpraxis und je höher die Liga, desto häufiger aber waren schwere Schäden durch die CTE. Bei den Profis war sie bei 99 Prozent der untersuchten Sportler die Todesursache. Andere Studien hatten übereinstimmend gezeigt, dass langfristige Hirnschäden bei jenen Sportlern besonders häufig sind, die aufgrund ihrer Position viele Kopfbälle spielen oder deren Aufgabe es ist – wie im American Football – als „Rammbock“ (Lineman) gegnerische Angriffe zu stoppen.
Die Forscher um Ann McKee betonen, dass ihrer Untersuchung keine repräsentative Stichprobe zugrunde liegen. Vielmehr handelt es sich um Menschen, bei denen bereits zuvor ein Verdacht auf Hirnschäden bestand. Entsprechend vorsichtig formulieren die Wissenschaftler auch ihre Schlussfolgerung: „Ein hoher Anteil verstorbener American-Football-Spieler, die ihre Hirne der Forschung zur Verfügung gestellt haben, zeigten in der neuropathologischen Untersuchung Hinweise auf CTE, was nahelegt, dass die Krankheit mit dem früheren Footballspiel zusammenhängt.“
Andere sehen die Spitze eines Eisbergs. Und warnen: Wenn manche Spieler nach Jahren Anzeichen für eine CTE entwickeln, ist es bereits zu spät, um den Verlauf zu stoppen. Gerade erst wurde eine Studie mit mehr als 150.000 Kindern und Jugendlichen veröffentlicht, die in Kanada eine Gehirnerschütterung erlitten hatten. Beim Vergleich mit 300.000 weiteren Kindern, die „nur“ Knochenbrüche erlitten hatten, stellte sich heraus, dass die erste Gruppe in der siebenjährigen Nachbeobachtungszeit ein um 40 Prozent höheres Risiko für psychische Probleme aller Art hatte. Einweisungen in psychiatrische Kliniken waren um 50 Prozent häufiger gewesen. Auch die Selbstmordrate schien erhöht, obwohl sich dies aufgrund kleiner Fallzahlen nicht eindeutig belegen ließ.
Derartige Studien haben dann auch zu Forderungen geführt, die vom verpflichtenden Kopfschutz im Jugendsport bis hin zum vollständigen Verbot mancher Kontaktsportarten führen. Doch jeder weiß, dass hier auch sehr viel Geld auf dem Spiel steht. Weder der Trainer noch der Spieler will in der entscheidenden Phase des Endspiels einer Weltmeisterschaft auswechseln, „nur“ weil man sich nach einem Zusammenprall kurzfristig benommen fühlt.
Präzisere Schutzmaßnahmen könnten sich ergeben, wenn der genaue Verlauf der Krankheit besser bekannt wäre. Wenn es eindeutige Warnzeichen gäbe, so die Hoffnung, könnte man die Spieler rechtzeitig vom Platz nehmen, und müsste dennoch nicht vollständig auf die Sportspektakel verzichten.
Löcher und Proteinhäufchen
Tatsächlich wird die CTE auch vor diesem Hintergrund in Tierversuchen erforscht. So beobachteten Forscher um Prof. David Wassarman von der Universität Wisconsin an der Fruchtfliege Drosophila melanogaster schon früh, was häufige Schläge auf den Kopf bewirken können: In Dünnschnitten des Gehirns der „misshandelten“ Fliegen fanden sich sowohl große wie auch kleinste Löcher. „Es sieht aus wie Schweizer Käse“, so Wassarman. Die molekularen Mechanismen, die dabei im Fliegenhirn ablaufen, seien sehr wahrscheinlich auch für das Verständnis der CTE beim Menschen relevant. „Die Nervenzellen sind fast identisch mit denen des Menschen, und es spielen sich darin die gleichen Reaktionen ab.“ Außerdem könnten auch Genanalysen Hinweise liefern. Immerhin, so Wassarman, fänden sich drei Viertel aller Erbgutveränderungen, die bei Krankheiten des Menschen auftreten, in ähnlicher Form auch bei Drosophila.
Den direkten Weg ging der Neuropathologe und ehemalige Leichenbeschauer Bennet Omalu. Er gilt als Pionier für Fallstudien an American Football-Spielern. Sein berühmtester Fall war Mike Webster (Spitzname „Iron Mike“), ehemaliger Center-Spieler der Pittsburgh Steelers, der nach seiner Karriere bis zum Tod im Jahr 2002 mit Sprachstörungen, Stimmungsschwankungen und Selbstmordgedanken zu kämpfen hatte. Obwohl das Gehirn bei der Obduktion oberflächlich normal aussah, führte Omalu auf eigene Kosten weitere Feinanalysen des Gewebes durch. Dabei fand er – wie später auch bei einem weiteren Spieler – große Mengen abnormaler Ablagerungen des Proteins Tau . Obwohl beide Spieler nicht älter als 50 Jahre wurden, wären die Tau-Konzentration so hoch gewesen, wie bei einem 90-jährigen mit fortgeschrittener Alzheimer-Krankheit, so Omalu. Diese spezifische Veränderung gilt heute als Schlüsselmerkmal beider Krankheiten, wogegen Ablagerung des „Alzheimer-Proteins“ ( Beta-Amyloid ) bei der CTE nur selten zu finden sind.
Das vorläufige Bild der CTE ist, dass die Schläge auf den Kopf zu einer Art Keimbildung führen. Während sich immer mehr Zellmüll ansammelt, schreitet die Schädigung der Nerven voran. In bedeutend größerem Detail sind solche langjährigen Verfallsprozesse auch für die Alzheimer-Krankheit dokumentiert. Die schlechte Nachricht lautet: Trotz dieser Entdeckung ist es bis heute nicht gelungen, den Zerfall im Gehirn aufzuhalten. „Wir wissen einfach nicht, welche Menge an Schlägen auf den Kopf es braucht, um die degenerative Kaskade in Gang zu setzten“, beschreibt der Neuropathologe Daniel Perl von der Uniformed Services University of the Health Sciences das Dilemma. Alles, was die Mannschaftsärzte tun können, ist die geistige Leistung ihrer Spieler möglichst früh mit Psychotests zu vermessen und nach einer Gehirnerschütterung zu prüfen, ob sie sich verschlechtert hat. Unterschwellige Schäden, aus denen sich eine CTE entwickeln könnte, werden dabei aber womöglich übersehen.
So bleibt die Bilanz trotz einiger Fortschritte unbefriedigend. Immerhin, fasst McKee klar und deutlich zusammen: „Wir müssen nicht länger darüber reden, ob es im American Football ein Problem gibt. Es gibt ein Problem.“
Zum Weiterlesen
- Mez J, Daneshvar DH et al. Clinicopathological Evaluation of Chronic Traumatic Encephalopathy in Players of American Football. JAMA. 2017;318(4):360-370 ( zum Volltext ). https://doi.org/10.1001/jama.2017.8334 .
- Ledoux AA, Webster RJ et al. Risk of Mental Health Problems in Children and Youths Following Concussion. JAMA Netw Open. 2022;5(3):e221235 ( zum Volltext ). https://doi.org/10.1001/jamanetworkopen.2022.1235 .