Stress beeinträchtigt das episodische Gedächtnis
Stress beeinträchtigt die Struktur und Funktion des Gehirns, was zu kognitiven Defiziten und einem erhöhten Risiko für psychiatrische Störungen wie Depression, Schizophrenie, Angstzuständen und posttraumatischen Belastungsstörungen führen kann. Dr. Alessio Attardo hat mit seinem Team vom Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München und vom Leibniz-Institut für Neurobiologie (LIN) Magdeburg nun einen Mechanismus entdeckt: wiederholter Stress destabilisiert die Synapsen in der für das episodische Gedächtnis wichtigen Hippocampus-Region CA1, sodass die Neuronen zunächst hyperaktiv sind, anschließend Nervenverbindungen verschwinden und sich somit die Kodierung verändert.
Published: 24.10.2022
Der erste Kuss, der Schulabschluss, ein Autounfall: Im episodischen Gedächtnis werden sowohl positive als auch negative Erfahrungen unseres Lebens abgespeichert. Es umfasst aber nicht nur die Erinnerungen an unsere persönlichen Lebensstationen, sondern auch an markante Ereignisse des öffentlichen Lebens, die uns geprägt haben, wie zum Beispiel den Fall der Mauer. Mit Hilfe des episodischen Gedächtnisses können wir komplexe Alltagserfahrungen in einen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang stellen.
Durch Stress wird diese Form des Erinnerns jedoch erheblich verändert. Alessio Attardo suchte mit seinem Forscherteam den neuronalen Mechanismus: „In unserer Studie haben wir den Zusammenhang zwischen Veränderungen in den Aktivitätsmustern und der strukturellen Plastizität der Neuronen untersucht. Wir konnten mit unseren Experimenten zeigen: Wiederholter Stress erhöht bei den untersuchten Mäusen zunächst die neuronale Aktivität, doch anschließend geht die räumlich-zeitliche Struktur der Aktivitätsmuster verloren und die Enkodierung der Erinnerung im Hippocampus leidet.“
Für das Experiment trainierten die Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen Mäuse, die Position einer versteckten Plattform in einem kleinen Schwimmbecken zu erlernen. Mit Hilfe von Miniaturmikroskopen und der Zwei-Photonen-Bildgebung konnten sie Veränderungen in den Aktivitätsmustern von Tausenden von Neuronen erkennen, während sich die Mäuse frei bewegten. Die veränderte Aktivität ging mit einer Abnahme von erregenden Synapsen einher, weil vorhandene Synapsen durch den Stresseinfluss destabilisiert wurden und die Neubildung von synaptischen Kontakten drastisch abnahm.
Attardo erläutert: „Interessanterweise wurde der Verlust von Verbindungen in den Neuronen des Hippocampus erst nach mehreren Tagen Hyperaktivität deutlich, und die Desorganisation der Kodierung im Hippocampus zeigte sich erst nach einem erheblichen Kontaktverlust. Akuter Stress hingegen führte eher zu einer Stabilisierung der erregenden Synapsen, die in zeitlicher Nähe zum Stressereignis entstanden.“ Dies deutet darauf hin, dass Stress nicht gleich Stress ist, und dass die nach akutem Stress stabilisierten Synapsen möglicherweise an der Speicherung der negativen Stress-Wirkung beteiligt sind, nicht aber an der eigentlichen Lernaufgabe.
Die zellulären Mechanismen und Netzwerkveränderungen, durch die wiederholter oder lang anhaltender Stress bzw. Akutstress seine schädlichen Auswirkungen entfaltet, sind noch nicht vollständig geklärt. „Unsere Studie wirft ein Licht auf dieses Problem, indem sie zum ersten Mal zeigt, dass der Verlust neuronaler Konnektivität den Übergang zwischen früher neuronaler Hyperaktivität und späterer Beeinträchtigung der Hippocampusfunktion bei wiederholter Stressbelastung vermittelt“, so Attardo. Die Ergebnisse könnten das Potenzial haben, neue Therapien zur Linderung der negativen Auswirkungen von wiederholtem Stress zu ermöglichen.
Gedächtnis
Gedächtnis/-/memory
Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.
Gedächtnis
Gedächtnis/-/memory
Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.
Plastizität
Plastizität/-/neuroplasticity
Der Begriff beschreibt die Fähigkeit von Synapsen, Nervenzellen und ganzen Hirnarealen, sich abhängig vom Grad ihrer Nutzung zu verändern. Mit synaptischer Plastizität ist die Eigenschaft von Synapsen gemeint, ihre Erregbarkeit auf die Intensität der Reize einzustellen, die sie erreichen. Daneben unterliegen auch Größe und Vernetzungsgrad unterschiedlicher Hirnbereiche einem Wandel, der von ihrer jeweiligen Aktivität abhängt. Dieses Phänomen bezeichnen Neurowissenschaftler als corticale Plastizität.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Hippocampus
Hippocampus/Hippocampus/hippocampual formatio
Der Hippocampus ist der größte Teil des Archicortex und ein Areal im Temporallappen. Er ist zudem ein wichtiger Teil des limbischen Systems. Funktional ist er an Gedächtnisprozessen, aber auch an räumlicher Orientierung beteiligt. Er umfasst das Subiculum, den Gyrus dentatus und das Ammonshorn mit seinen vier Feldern CA1-CA4.
Veränderungen in der Struktur des Hippocampus durch Stress werden mit Schmerzchronifizierung in Zusammenhang gebracht. Der Hippocampus spielt auch eine wichtige Rolle bei der Verstärkung von Schmerz durch Angst.
Synapse
Synapse/-/synapse
Eine Synapse ist eine Verbindung zwischen zwei Neuronen und dient deren Kommunikation. Sie besteht aus einem präsynaptischen Bereich – dem Endknöpfchen des Senderneurons – und einem postsynaptischen Bereich – dem Bereich des Empfängerneurons mit seinen Rezeptoren. Dazwischen liegt der sogenannte synaptische Spalt.
Originalpublikation
Alireza Chenani, Ghabiba Weston, Alessandro F. Ulivi, Tim P. Castello-Waldow, Rosa-Eva Huettl, Alon Chen & Alessio Attardo; Repeated stress exposure leads to structural synaptic instability prior to disorganization of hippocampal coding and impairments in learning; Translational Psychiatry volume 12, Article number: 381 (2022)
https://www.nature.com/articles/s41398-022-02107-5