Frage an das Gehirn
Gibt es wirklich immer mehr Narzissten?
Veröffentlicht: 30.10.2022
Es scheint immer mehr Narzissten zu geben. Nimmt die Diagnose tatsächlich zu oder wird der Begriff einfach nur inflationär eingesetzt?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Prof. Dr. med. Stephan Doering, Klinikleiter, Klinik für Psychoanalyse und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien: Die Frage, ob die Diagnose eines Narzissmus zunimmt, ist gar nicht so leicht zu beantworten. Das Bewusstsein für psychische Erkrankungen, auch in der Bevölkrung, hat in den letzten Jahren zugenommen. Außerdem hat sich die diagnostische Herangehensweisen in der Psychiatrie oder Psychotherapie weiterentwickelt. Wir können daher nur sehr schwer Studien von heute mit Studien von vor 30 oder 50 Jahren vergleichen, da man damals gar nicht die diagnostischen Zugänge von heute hatte. Insofern lässt sich diese Frage rein empirisch, also basierend auf Daten, so nicht beantworten.
Wir sind daher auf Annahmen angewiesen, die wir als Fachleute treffen. Ich persönlich bin immer skeptisch, wenn es plötzlich heißt, eine bestimmte Störung nimmt stark zu oder die psychisch Kranken werden immer mehr. Ich bin eher geneigt anzunehmen dass, abgesehen von Modediagnosen, die jede Zeit mit sich bringt, es doch eher so ist, dass unser Bewusstsein, unsere Fähigkeit eine Krankheit zu erkennen und die Bereitschaft in der Bevölkerung darüber zu sprechen, zunimmt.
Bei den Narzissten vermute ich eine Modeerscheinung: Viele Menschen werden als narzisstisch gestört angesehen, die es gar nicht sind. Gleichzeitig denke ich, dass es von den wirklich betroffenen Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung immer schon etwa so viele gegeben hat wie heute. Nur damals hat man sie entweder nicht so genannt oder nicht als solches erkannt. Sie wurden stattdessen als unangenehm, schwierig oder unsympathisch bezeichnet. Heute haben wir dagegen ein Wort dafür, jemand der selbstbezogen ist, andere schlecht behandelt und ausbeutet ist ein Narzisst.
Es ist noch wichtig darauf hinzuweisen, dass der Narzissmus keine Krankheit ist, sondern der Narzissmus an sich ist erstmal etwas sehr Gesundes. Es ist eine Form der Selbstliebe, dass ich mich selbst positiv sehen kann, dass ich stolz sein kann und den Wunsch habe etwas zu erreichen, erfolgreich zu sein und mich dann auch freuen kann an meinen Erfolgen. Das ist ein gesunder Narzissmus. Es gäbe keine Höchstleistungen, weder im Sport, noch in der Kunst oder Politik oder sonst wo ohne Narzissmus. Bei wenig Narzissmus fehlt einem etwas. Pathologisch wird der Narzissmus erst dann, wenn er so verhärtet, dass ich keine Infragestellung meiner Person, meines Selbstwertes mehr ertragen kann. Der gesunde Narzissmus ist auslenkbar. Das Selbstwertgefühl steigt an, wenn ich erfolgreich bin, wenn ich stolz auf mich bin, dann finde ich mich toll. Und wenn ich einen Misserfolg habe, wenn ich etwas verkehrt mache, dann schäme ich mich, dann sinkt mein Selbstwert. Diese Flexibilität ist wie beim Blutdruck oder der Herzfrequenz etwas Gesundes. Das hat zur Folge, dass ich, wenn ich heute einen Erfolg habe und gelobt werde, übermorgen mit meinem Selbstwert wieder im Nullbereich liegen sollte und gar nicht mehr darüber nachdenken muss, wie mein Selbstwert ist. Es ist also wie eine Kurve die immer zur Mitte zurückkehrt und die meiste Zeit bin ich mit meinem Alltagsgeschäft beschäftigt und muss nicht über meinen Selbstwert nachdenken. Das wäre das Gesunde.
Wenn ich aber immerzu über meinen Selbstwert nachdenken muss, liegt ein narzisstisches Problem vor und wenn ich das dann radikal löse und sage, ich bin besser als alle anderen oder aber auch das Gegenteil entscheide, alle anderen sind besser als ich, dann habe ich eine narzisstische Störung mit all den Konsequenzen. Das, was häufig als narzisstische Persönlichkeitsstörung beschrieben wird sind die grandiosen Narzissten, die immer glauben sie sind die Besten, die Bewunderung einfordern, die alle anderen schlecht machen damit sie selbst gut dastehen, denen jedes Mittel unter Umständen recht ist, um die Besten zu sein oder zu werden. Das sind die typischen Medien- oder Bilderbuchnarzissten, die so großartig sind.
Wir sehen heute den Narzissmus als ein Kontinuum an, von den Grandiosen bis hin zu den Vulnerablen, also denen auf der anderen Seite. Die Grandiosen, wenn es pathologisch ist, sind die mit der narzisstischen Persönlichkeitsstörung wie man es immer wieder zitiert und beschrieben findet. Die vulnerablen Narzissten dagegen sind eher unsichere Menschen, die es vermeiden hinauszugehen, sich mit anderen zu messen, die an ihrem Selbstwert zweifeln und sich deswegen zurückziehen um ja nicht erkannt zu werden.
Zusammenfassend kann man sagen, dass das charakteristische für einen Narzissten eine übermäßige Beschäftigung mit dem Selbstwert und die Unfähigkeit die meiste Zeit die Nulllinie zu erreichen ist.
Aufgezeichnet von Stefanie Flunkert