Hirn im Mini-Format
Superschnell Düfte unterscheiden oder fiesen Schlupfwespen entkommen: Das vergleichsweise einfache Nervensystem der Fruchtfliegen hat so Einiges drauf. Und zur Not geht’s auch ohne Kopf.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Björn Brembs
Veröffentlicht: 01.12.2022
Niveau: leicht
- Nur 250 Mikrometer lang ist das Gehirn der Fruchtfliege. Während das menschliche Gehirn 86 Milliarden Neurone umfasst, sind es nach Schätzungen im Fliegenhirn 100.000 bis 200.000.
- Das Gehirn von Fruchtfliegen ist unterschiedlich ausgestattet, je nachdem ob sich die Fliege noch im Larvenstadium befindet oder schon erwachsen ist.
- Das Zentralnervensystem der erwachsenen Fliege besteht aus einem Oberschlundganglion, einem Unterschlundganglion, einem ventralen Nervenstrang, und dem stomatogastrischen Nervensystem.
- Das Oberschlundganglion ist der größte Nervenknoten (Ganglion) des zentralen Nervensystems und wichtig für das Lernen. Es liegt über dem Schlund und entspricht in seiner Funktion etwa dem Gehirn bei Wirbeltieren.
- Die Netzhaut von Fruchtfliegen kann den so genannten e-Vektor von polarisiertem Licht ausmachen. Mit Hilfe des e-Vektors können die Fliegen sich an der Sonne orientieren.
- Fruchtfliegen können Luftströmungen wahrnehmen. Schwankungen in der Luftströmung am Geruchsorgan beeinflussen bei ihnen die Geruchswahrnehmung und helfen den Insekten möglicherweise, die Quelle von Gerüchen auszumachen.
- Mit Hilfe von chemosensorischen Rezeptoren der Antennen können Fruchtfliegen Kohlendioxid (CO2) wahrnehmen. CO2 ist einer der wichtigsten Geruchsstoffe, um Nahrungsquellen zu finden und Artgenossen zu warnen.
Die Fruchtfliege Drosophila melanogaster ist ein ziemlich kleiner Zeitgenosse. Meist wird sie nur zwei Millimeter groß. Und so ist natürlich auch ihr Gehirn winzig; gerade einmal ein Viertel Millimeter ist die Seitenlänge, also 250 Mikrometer. Der Zellkörper eines typischen Neurons im Kopf von Fruchtfliegen hat einen Durchmesser von zwei bis vier Mikrometern. Während das menschliche Gehirn 86 Milliarden Nervenzellen umfasst, ging man beim Fliegenhirn bisher von 100.000 Neuronen, nach neueren Schätzungen könnten es 200.000 sein.
Was genau die Zellen leisten müssen, hängt davon ab, in welcher Lebensphase sich die Fruchtfliege befindet: Ist sie noch eine Larve oder hat sie sich schon in eine Fliege verwandelt? „Trotz eines relativ einfachen Gehirns zeigt die Larve komplexe Verhaltensmuster", sagt der Neurobiologe Christian Klämbt von der Uni Münster. „Sie muss zwar keinen Paarungspartner finden, aber sie braucht natürlich geeignetes Futter." Wenn die Larve durch Obstbrei krabbelt, nimmt sie ihre Umgebung wahr. Dabei vermitteln bestimmte Sinneszellen eine spezifische Fluchtreaktion. Und zwar genau dann, wenn sich parasitäre Schlupfwespen nähern, die ihre befruchteten Eier in die Larven legen wollen.
Vom Fluchtreflex zum komplexen Verhalten
„Wenn die Larven den Flügelschlag der Wespe hören und den Stachel an ihrer Haut spüren, machen sie eine Rollbewegung seitwärts", berichtet Klämbt. Dadurch verhindert sie, dass die Wespe durch die Haut stechen kann und ihr Ei in die Larve injiziert. „Die Steuerung dieser Fluchtreaktion ist im Larvengehirn in einem einfachen Schaltkreis fest verdrahtet", so Klämbt. Eine erwachsene Fliege zeigt diesen Fluchtreflex nicht mehr. Stattdessen fliegt sie bei Bedrohung einfach weg. „Die in der Larve notwendigen neuronalen Schaltkreise werden während der Metamorphose umgebaut und die Neurone können anderen Aufgaben zugeordnet werden."
Larven haben auch ein Gedächtnis und können lernen. Aber anders als die erwachsene Fliege müssen sich die Gedächtnisspuren nur sehr kurzhalten, da die Larvenstadien nur wenige Tage dauern. „Das Gedächtnis der erwachsenen Fliege ist deutlich komplexer, da es deutlich mehr sensorische Informationen verarbeiten muss“, erklärt Klämbt. So sind die Augen wesentlich größer und auch das Riechsystem nimmt an Komplexität zu.
Das Zentralnervensystem der erwachsenen Fliege besteht aus einem Oberschlundganglion, einem Unterschlundganglion, einem ventralen Nervenstrang und dem stomatogastrischen Nervensystem. Das Oberschlundganglion ist der über dem Schlund gelegene Gehirnteil des Zentralnervensystems, der größte Nervenknoten (Ganglion) des zentralen Nervensystems. Er entspricht in seiner Funktion etwa dem Gehirn bei Wirbeltieren und umfasst drei Abschnitte, darunter das Protocerebrum. Dabei handelt es sich um das Verarbeitungszentrum aller höheren Sinnesfunktionen sowie das entscheidende Steuerzentrum der meisten komplexeren Verhaltensweisen. Am Protocerebrum befinden sich die beiden optischen Loben – Gehirnlappen, die für die visuelle Verarbeitung zuständig sind.
Das Protocerebrum ist außerdem Sitz des Pilzkörpers, der für die Fruchtfliege besondere Bedeutung hat. „Man weiß schon lange, dass der Pilzkörper wichtig für das Duft-Lernen ist", sagt der Physiker und Neurowissenschaftler Martin Nawrot von der Uni Köln. „Neu ist aber die Erkenntnis, dass der Pilzkörper auch eine maßgebliche Rolle dabei spielt, die Sensorik in die Motorik zu übersetzen.“ Damit ist er letztlich an der Entscheidung beteiligt, wie sich ein Tier verhält. Für das Lernen ist dabei das Sparse-Coding (spärliche Codierung) sehr wichtig, vor allem die „räumliche Spärlichkeit“, wie Nawrot erklärt:
„Die eigentliche Geruchsinformation ist in ein paar hundert Neuronen im so genannten Antennenlappen kodiert, die alle angesichts des Geruchs aufblinken“, so Nawrot. „Dieser Geruchscode wird dann in den Pilzkörper projiziert und trifft dort auf insgesamt 4.000 Kenyon-Zellen, von denen aber pro Geruch nur ein paar aktiv werden.“ Die Kenyon-Zellen, die für das Erlernen von Gerüchen wichtig sind, bilden wiederum sehr viele Synapsen mit Ausgangsneuronen des Pilzkörpers. Und diese Synapsen verändern sich, wenn etwa auf einen Duft eine Belohnung wie Zuckerwasser folgt. „Dadurch, dass bestimmte Untergruppen von Kenyon-Zellen einem bestimmten Duft zugeordnet sind, lassen sich ganz spezifisch und effizient einzelne Düfte lernen“, so Nawrot.
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Superschnell Düfte unterscheiden
Neben der räumlichen gibt es auch eine „zeitliche Spärlichkeit“. Während Neurone im Antennenlappen ein bis zwei Sekunden für die Duftcodierung brauchen, sind die Kenyon-Zellen nur rund 50 bis 100 Millisekunden aktiv. Und auch nur dann, wenn sich die Duftintensität ändert, wenn der Duft etwa beginnt oder doppelt so stark wird. „Das ist eine wichtige Anpassung an die Umgebung“, sagt Nawrot. Denn wenn die Fliege durch eine Duftwolke fliegt, treten die einzelnen Düfte in der Wolke oft nur 50, 100 Millisekunden auf. Die Kenyon-Zellen antworten darauf spärlich, mit kurzer Aktivität. Es reicht dabei, wenn bestimmte Kenyon-Zellen einmal mit einem Aktionspotential auf einen bestimmten Duft reagiert haben, um ihn beim nächsten Mal auch schon nach 50 Millisekunden wiederzuerkennen. Dadurch können die Fliegen in der Natur ganz schnell auf kurze Dufteindrücke reagieren und genau die richtige Duftquelle wie eine Banane ansteuern. In einem Computermodell haben Martin Nawrot und seine Kollegen simuliert, wie eine Fliege durch eine Duftwolke fliegt. „Dabei wird jeder noch so kurze Duftpuls, auf den das Tier trifft, erkannt; ein irrelevanter Duft dagegen ignoriert.“
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Aktionspotenzial
Aktionspotenzial/-/action potential
In erregbaren Zellen (z. B. Neuronen oder Muskelzellen) findet man sehr schnelle Änderungen des elektrischen Potenzials über der Zellmembran. Dieses Ereignis ist die Grundlage für die Informationsleitung entlang des Axons der Nervenzelle. Das Aktionspotenzial setzt sich entlang der Zellmembran fort und entsteht nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip nur dann, wenn die Zelle ausreichend stark erregt wurde.
Kopflos agieren
Die kleinen Tiere können aber auch im wahrsten Sinne des Wortes kopflos agieren. Enthauptete Fruchtfliegen können immer noch laufen und sich putzen: Der Grund: Die Schaltkreise des so genannten ventralen Nervenstrangs reichen aus, um komplexe motorische Programme ohne Gehirnsteuerung auszuführen. Funktionell entspricht der ventrale Nervenstrang dem Rückenmark bei Wirbeltieren.
Als letzter großer Bestandteil des Nervensystems der Fruchtfliege fehlt nur noch das stomatogastrische Nervensystem. Es ist ein aus Ganglien und Nerven zusammengesetztes System. Die Teile des stomatogastrischen Nervensystems sind sowohl mit dem Gehirn als auch untereinander verbunden. Es versorgt Mundhöhle, Vorderdarm und bestimmte Hormondrüsen. Es ist wichtig für die Futteraufnahme und Verdauung.
So winzig das Nervensystem der Fruchtfliege auch ist, – leistungsfähig ist es alle Mal. Wenn's sein muss, sogar ohne Kopf.
Rückenmark
Rückenmark/Medulla spinalis/spinal cord
Das Rückenmark ist der Teil des zentralen Nervensystems, das in der Wirbelsäule liegt. Es verfügt sowohl über die weiße Substanz der Nervenfasern, als auch über die graue Substanz der Zellkerne. Einfache Reflexe wie der Kniesehnenreflex werden bereits hier verarbeitet, da sensorische und motorische Neuronen direkt verschaltet sind. Das Rückenmark wird in Zervikal-, Thorakal-, Lumbal und Sakralmark unterteilt.
Ganglion
Ganglion/-/ganglia
Bezeichnung für eine Ballung von Nervenzellkörpern im peripheren Nervensystem. Gerne findet der Begriff Nervenknoten Verwendung, wegen seines Erscheinungsbildes. (gr. Gágglion = knotenartig‚)
Zum Weiterlesen
- Scheffer LK, Xu CS, Januszewski M, et al. A connectome and analysis of the adult Drosophila central brain. Elife. 2020;9:e57443 (zum Volltext). doi:10.7554/eLife.57443
- Raji JI, Potter CJ. The number of neurons in Drosophila and mosquito brains. PLoS One. 2021;16(5):e0250381 (zum Volltext). doi:10.1371/journal.pone.0250381
- Rapp H, Nawrot MP. A spiking neural program for sensorimotor control during foraging in flying insects. Proc Natl Acad Sci U S A. 2020;117(45):28412-28421 (zum Volltext). doi:10.1073/pnas.2009821117