Stromausfall im Gehirn
Extreme Versorgungsprobleme machen krank. Wenn die Mitochondrien keine Energie mehr liefern, drohen neurodegenerative Erkrankungen wie Multiple Sklerose oder Parkinson.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Manuel A. Friese
Veröffentlicht: 15.03.2023
Niveau: leicht
- Neurone zählen zu den energieintensivsten Zellen in unserem Körper.
- Der Stoffwechsel der Nervenzellen ist in hohem Maß abhängig von der Sauerstoff- und der Blutversorgung. Das zeigt sich besonders offensichtlich beim Schlaganfall.
- Energieprobleme können auch zu neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer und Parkinson führen.
- Auch Axone sind betroffen. Ein Versorgungsengpass kann letztlich die Bildung von Myelin, der elektrischen Isolierung der Axone, stören.
- Bei neurodegenerativen Erkrankungen ist die Autophagie, ein Recyclingprozess in Zellen, gestört. Das kann letztlich auch zu einem Zelltod aufgrund von Energieverlust führen.
Das Gehirn ist ein Sensibelchen. Das zeigt sich insbesondere, wenn die Energieversorgung versiegt. Ganz offensichtlich ist das bei einem Schlaganfall. Durchblutungsstörungen im Zuge eines Schlaganfalls bedeuten für die Nervenzellen den Untergang. Doch warum sind Neurone so sensibel? "Neurone zählen zu den energieintensivsten Zellen in unserem Körper", sagt der Biologe Martin Korte, Leiter des Zoologischen Instituts an der TU Braunschweig. Obwohl unser Gehirn nur zwei Prozent der Körpermasse ausmacht, verbraucht es 20 Prozent der Körperenergie.
"Weil Neurone eine so hohe metabolische Abhängigkeit von der Sauerstoff- und der Blutversorgung haben, sind sie anfällig für Erkrankungen, vor allem solche der Blutgefäße." Das zeige sich etwa bei der vaskulären Demenz. Sie ist nach der Alzheimer-Krankheit die zweithäufigste Demenz-Form. Sie entsteht durch Durchblutungsstörungen im Gehirn und ist meist die Folge mehrerer kleiner Schlaganfälle. Die vaskuläre Demenz beginnt üblicherweise im höheren Lebensalter.
Der große Energiehunger der Neurone bringt zusätzlich noch ein Problem mit sich. Die Mitochondrien, die Kraftwerke der Zellen, sind durch den hohen Energiebedarf von Neuronen sehr aktiv. "Dadurch entstehen vergleichsweise viele Sauerstoffradikale", sagt Martin Korte. "Und die schädigen Neurone zumindest potentiell stärker als andere Zellen." Der Tod von Nervenzellen ist vor allem vor dem Hintergrund ein so herber Verlust, dass er sich nicht so leicht wettmachen lässt. Einige Organe wie zum Beispiel die Leber und die Haut können regenerieren, wenn sie beschädigt sind. Dem Gehirn gelingt das nur bedingt. „Neurone im Erwachsenengehirn können sich in den allermeisten Hirnarealen nicht mehr erneuern", so Korte.
Marin Korte selbst beschäftigt sich mit den Mechanismen hinter der Alzheimer-Erkrankung. Und hier offenbart sich, in welcher Form das Gehirn ins Ungleichgewicht gerät. Im gesunden Gehirn kommt es zwar immer wieder zu einem Abbau von Synapsen im Rahmen des Vergessens. Es werden aber auch bei Lernvorgängen Synapsen aufgebaut. Damit entsteht eine Balance zwischen Ab- und Aufbau neuronaler Strukturen.
"Bei Alzheimer kommt es dagegen einseitig zu einem Abbau von Strukturen", sagt Korte. Er und seine Kollegen untersuchen den Wachstumsfaktor BDNF, der das Überleben von Neuronen sichert. BDNF steigert aber auch die synaptische Plastizität, also die Formbarkeit der Synapsen. Dagegen senken sogenannte p75-Rezeptoren die synaptische Plastizität. Sie spielen eine unglückliche Rolle bei Morbus Alzheimer, indem Beta-Amyloid an diese Rezeptoren andockt und sie aktiviert. Beta-Amyloid ist das Eiweißmolekül, das sich im Gehirn von Alzheimer-Patienten ungünstig ablagert und senile Plaques bildet.
Neben den Dendriten und Synapsen sind auch die Axone bei neurodegenerativen Erkrankungen betroffen und reagieren sensibel auf Energieknappheit. Dazu muss man etwas weiter ausholen: Axone sind mit einer Myelinschicht umhüllt, damit elektrische Signale schneller reisen können. Das Myelin wird von Oligodendrozyten gebildet. „Und dieses Myelin beinhaltet kleine Kanäle, die durch die Fettschicht durchgehen und mit dem Axon verbunden sind“, sagt der Bioinformatiker Karsten Hiller von der TU Braunschweig. Die Oligodendrozyten könnten bestimmte Stoffe – Pyruvat oder Laktat, welches von beidem ist noch unklar – in die Axone leiten und Mitochondrien erzeugen daraus viel ATP. „Das benötigen die Axone als Energieträger, um elektrische Potentiale weiterzuleiten und axonale Transportprozesse aufrechtzuerhalten.“ Dabei entsteht als Zwischenprodukt Acetyl-CoA, welches durch weitere Prozesse der Neuronen zur Bildung von N-Acetyl-Aspartat genutzt werden kann. Dieses schicken die Nervenzellen dann zurück an die Oligodendrozyten, die N-Acetyl-Aspartat wiederum verwenden, um die Myelinschicht zu bilden ▸ Oligodendrozyten: Tankstellen der Nervenbahnen
Myelin
Myelin/-/myelin
Myelin ist eine fetthaltige Substanz, die aus Gliazellen gebildet wird. Sie umhüllt die Axone (lange faserartige Fortsätze) von Nervenzellen und isoliert diese, so dass Nachrichten nicht ungehindert auf benachbarte Nervenzellen übergehen können. Zudem wird so die Signalleitung enorm beschleunigt.
Oligodendrozyten
Oligodendrozyten/-/oligodendrocytes
Zellen des Zentralen Nervensystems, die die Myelinscheide um die Nervenzellen bilden und so deren Leitungsgeschwindigkeit erhöhen. Sie gehören zu den Gliazellen.
Axon
Axon/-/axon
Das Axon ist der Fortsatz der Nervenzelle, der für die Weiterleitung eines Nervenimpulses zur nächsten Zelle zuständig ist. Ein Axon kann sich vielfach verzweigen, und so eine Vielzahl nachgeschalteter Nervenzellen erreichen. Seine Länge kann mehr als einen Meter betragen. Das Axon endet in einer oder mehreren Synapse(n).
Axon
Axon/-/axon
Das Axon ist der Fortsatz der Nervenzelle, der für die Weiterleitung eines Nervenimpulses zur nächsten Zelle zuständig ist. Ein Axon kann sich vielfach verzweigen, und so eine Vielzahl nachgeschalteter Nervenzellen erreichen. Seine Länge kann mehr als einen Meter betragen. Das Axon endet in einer oder mehreren Synapse(n).
Mitochondrien
Mitochondrien/-/mitochondria
Mitochondrien sind Organellen im Inneren einer Zelle, sie werden auch als „Kraftwerk“ der Zellen bezeichnet, da sie diese mit Energie versorgen. Sie haben eine eigene DNA, die nur über die Mutter vererbt wird.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Weniger Myelin
An dieser Stelle kommen nun die Energieprobleme ins Spiel. Denn wenn es Neuronen von der Energieversorgung her schlecht geht, können sie weniger N-Acetyl-Aspartat bilden. Die reduzierte Menge führt dann zu einem Engpass in den Oligodendrozyten und beeinträchtigt die Myelin-Bildung. Das wiederum könnte zumindest zum Teil auch das Krankheitsgeschehen bei Multipler Sklerose erklären. „Im Gehirn von Patienten mit Multiple Sklerose wurden teilweise reduzierte Mengen an N-Acetyl-Aspartat gemessen", sagt Karsten Hiller. "Damit könnte ein gestörter neuronaler Energiestoffwechsel mit zu den Veränderungen in den Myelin-Strukturen beitragen." Denn bei MS wird die Myelin-Schicht beschädigt oder sogar zerstört.
Wenn es an der Energieversorgung hapert oder diese schwankt, können Nervenzellen zu einem Trick greifen. Zur Autophagie. Bei diesem Vorgang frisst sich die Zelle quasi selbst, zumindest partiell. Sie löst Teile von sich selbst in Einzelbausteine auf, um so Material für neue Synthesen zur Verfügung zu haben. Auf diese Weise entsorgt die Zelle unter anderem fehlerhafte Proteine und reagiert auf eine schwankende Energieversorgung um sich daran anzupassen. In der Zelle werden dabei kleine Vesikel wie Müllbeutel mit den fehlerhaften Proteinen und Zellbestandteile gepackt. Die Müllbeutel fusionieren mit anderen Vesikeln. Diese enthalten wiederum Enzyme, die die Zellsubstanzen zerstören. Der Müll wird quasi abgeholt und recycelt. Letztlich handelt es also sich um nichts anderes als ein effektives Recyclingsystem.
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Der Recyclingprozess reguliert dabei auch die ATP-Freisetzung. „Eine gestörte Autophagie führt zu einer verminderten ATP-Versorgung der Zelle“, sagt Köster. Als wäre das nicht genug, kommt noch etwas anderes hinzu: Die Zelle nutzt die Autophagie, um fehlerhafte Mitochondrien zu entsorgen. „Klappt nun diese Entsorgung der fehlerhaften Mitochondrien nicht mehr richtig, verbrauchen diese geschädigten Mitochondrien weiterhin Glukose“, so Köster. Und das ohne dabei ATP zu produzieren. Gleichzeitig setzen sie aber Moleküle frei, die für einen erhöhten Stress in der Zelle sorgen. So kommen allmählich Energieverlust und zellulärer Stress zusammen. „Das könnte auch einer der Gründe sein, die zum Zelltod bei neurodegenerativen Erkrankungen führen."
In vielen Fragen zu Problemen der Energieversorgung und ihren Folgen für neurodegenerative Erkrankung steht die Forschung noch am Anfang. Gerade wenn es um den Energiestoffwechsel bei einzelnen Bestandteilen von Neuronen – Dendriten, Zellkörper, Axone und Synapsen – geht. Genau das haben Forscher wie Martin Korte, Karsten Hiller und Reinhard Köster im Visier. Im Projekt „Homeo-Hirn“ wollen die Wissenschaftler die Homöostase von Gehirnzellen genauer untersuchen und dafür neue Messinstrumente entwickeln. ▸ Forschung an der lebenden Zelle
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