Funktionsstörung des Thalamus bei Legasthenie

© Dr. Christa Müller-Axt
Die linke Abbildung zeigt eine Übersichts-MRT-Aufnahme des menschlichen Gehirns. Das obere Feld (rechte Seite) zeigt die Lage des visuellen Thalamus. Eine gelbe Schattierung zeigt an, dass der visuelle Thalamus bei vielen Teilnehmenden an dieser Stelle liegt. Das untere Feld zeigt die beiden Teile des visuellen Thalamus: Der bewegungsempfindliche Teil, der bei Legasthenie verändert ist, ist rot dargestellt.

Ein Forschungsteam unter der Leitung der Neurowissenschaftlerin Prof. Katharina von Kriegstein an der Technischen Universität Dresden (TUD) konnte erstmals zeigen, dass Legasthenie mit Veränderungen in der Funktion und Struktur eines bestimmten Teils des menschlichen Gehirns, dem visuellen Thalamus, zusammenhängt. Die Ergebnisse sind Teil der größten und umfassendsten hochauflösenden MRT-Studie, die dieses Gehirngebiet untersucht. Die Studie wurde jetzt in der Fachzeitschrift "Brain" veröffentlicht. 

Quelle: Technische Universität Dresden

Veröffentlicht: 15.08.2024

Der visuelle Thalamus ist eine Schlüsselregion, die die Augen mit der Großhirnrinde verbindet. Er besteht aus zwei separaten Teilen mit unterschiedlichen Aufgaben bei der Verarbeitung visueller Informationen: ein kleinerer Teil, der auf die Erkennung von Bewegungen und sich schnell verändernden visuellen Informationen spezialisiert ist, und ein größerer Teil, der sich auf die Verarbeitung von Farben konzentriert. Frühere Post-mortem-Studien deuteten darauf hin, dass es bei der Entwicklungslegasthenie speziell in dem kleineren, bewegungsempfindlichen Teil des visuellen Thalamus zu Veränderungen kommt. Diese Ergebnisse wurden jedoch nie an lebenden Menschen bestätigt, und der Einfluss dieser Veränderungen auf Legasthenie-Symptome blieb unbekannt. Der Grund dafür liegt darin, dass der visuelle Thalamus sich tief im Gehirn befindet und seine Teile noch dazu winzig sind, wobei die kleinere nur etwa die Größe eines Pfefferkorns hat. Das macht es außerordentlich schwierig, diese Strukturen mit der herkömmlichen Magnetresonanztomographie (MRT) zu untersuchen. In der aktuellen Studie führten die Forschenden eine Reihe neuartiger Experimente an einem speziellen MRT-System am Max-Planck-Institut für Kognitions- und Neurowissenschaften (MPI-CBS) in Leipzig durch. Ausgestattet mit einem leistungsstarken Magneten ermöglichte dieses MRT-System die Untersuchung des visuellen Thalamus in einer bisher nicht gekannten Detailgenauigkeit am lebenden Menschen. Um die Anzahl der Teilnehmenden mit Legasthenie, die die strengen Sicherheitsstandards für diese MRT-Untersuchungen erfüllen, zu maximieren, wurde das Forschungsteam vom Bundesverband für Legasthenie und Dyskalkulie e.V. (BVL, https://www.bvl-legasthenie.de) unterstützt, der die Suche nach geeigneten Teilnehmer:innen auf ganz Deutschland ausdehnte. Die Ergebnisse der Studie, die auf einer Stichprobe von 25 Menschen mit Legasthenie und 24 Kontrollpersonen basieren, zeigten, dass die Entwicklungslegasthenie mit Veränderungen in der Funktion und der Struktur des bewegungsempfindlichen Teils des visuellen Thalamus verbunden ist. Darüber hinaus wurden diese Veränderungen mit Legasthenie-Symptomen in Verbindung gebracht, insbesondere bei männlichen Legasthenikern, was auf mögliche geschlechtsspezifische Unterschiede in der Pathologie der Legasthenie hinweist. 

Dr. Christa Müller-Axt, Wissenschaftlerin an der Professur für Kognitive und Klinische Neurowissenschaften der TU Dresden, erklärt die Bedeutung der Ergebnisse: "Wir haben eine seit langem bestehende Hypothese über Hirnfunktionsunterschiede bei der Entwicklungslegasthenie bestätigt und Veränderungen im visuellen Thalamus - einer winzigen Struktur tief im Inneren des Gehirns - aufgedeckt. Jahrzehntelang war es unmöglich, diese Struktur und ihre Teile am lebenden Menschen zu untersuchen. Jetzt legen wir jedoch die größte und umfassendste hochauflösende MRT-Studie zu diesem Gehirngebiet vor. Die Zusammenarbeit mit dem BVL hat entscheidend dazu beigetragen, dass wir diesen bahnbrechenden Fortschritt im Verständnis dieser Lernbeeinträchtigung erzielen konnten, der künftige Diagnose- und Behandlungsstrategien potenziell maßgeblich beeinflussen könnte." 

Mit einer Häufigkeit von 5-10 % ist die Entwicklungslegasthenie die am weitesten verbreitete Lernbeeinträchtigung, von der weltweite Millionen von Menschen betroffen sind. Menschen mit Legasthenie haben große Schwierigkeiten, angemessene Lese- und Schreibfähigkeiten zu entwickeln, was oft mit anhaltenden Schwierigkeiten in der Schule, Einschränkungen im Berufsleben und emotionalen Problemen einhergeht. Trotz der hohen Prävalenz sind die neurobiologischen Ursachen der Legasthenie nach wie vor ungeklärt. Zum Teil aufgrund der begrenzten Verfügbarkeit und der gesteigerten Kosten spezieller MRT-Systeme haben sich die meisten neurowissenschaftlichen Forschungsbemühungen bei der Erklärung der Legasthenie auf die Großhirnrinde konzentriert. Folglich ist die Rolle des Thalamus bei der Legasthenie weitgehend unerforscht geblieben. Darüber hinaus beschränkten sich frühe Post-mortem-Studien über thalamische Veränderungen bei Legasthenie auf einige wenige Fallbeispiele, so dass unklar blieb, ob diese Veränderungen bei allen Legasthenikern auftreten oder nur bei einer Teilgruppe. "Unsere Entdeckung thalamischer Veränderungen in einer großen Stichprobe von Menschen mit Legasthenie deutet darauf hin, dass diese Veränderungen in der Pathologie der Störung weiterverbreitet sein könnten, als bisher angenommen. Diese Erkenntnis ebnet den Weg für weitere Forschungsstudien, die darauf abzielen, ein umfassenderes Verständnis der der Legasthenie zugrunde liegenden Gehirnmechanismen zu erlangen. Wichtig ist, dass unsere Ergebnisse auch zeigen, dass thalamische Veränderungen mit Leseschwierigkeiten verbunden sind, insbesondere bei männlichen Legasthenikern. Dies unterstreicht die Notwendigkeit zu erforschen, wie sich thalamische Veränderungen auf das Verhalten auswirken, was für die effektive Entwicklung von Therapie- und Interventionsstrategien für Legasthenie von zentraler Bedeutung ist", erläutert Katharina von Kriegstein, Professorin für Kognitive und Klinische Neurowissenschaft an der TU Dresden. 

Thalamus dorsalis

Thalamus dorsalis/Thalamus dorsalis/thalamus

Der Thalamus ist die größte Struktur des Zwischenhirns und ist oberhalb des Hypothalamus gelegen. Der Thalamus gilt als „Tor zum Bewusstsein“, da seine Kerne Durchgangstation für sämtliche Information an den Cortex (Großhirnrinde) sind. Gleichzeitig erhalten sie auch viele kortikale Eingänge. Die Kerne des Thalamus werden zu Gruppen zusammengefasst.

Auge

Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb

Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.

Magnetresonanztomographie

Magnetresonanztomographie/-/magnetic resonance imaging

Ein bildgebendes Verfahren, das Mediziner zur Diagnose von Fehlbildungen in unterschiedlichen Geweben oder Organen des Körpers einsetzen. Die Methode wird umgangssprachlich auch Kernspin genannt. Sie beruht darauf, dass die Kerne mancher Atome einen Eigendrehimpuls besitzen, der im Magnetfeld seine Richtung ändern kann. Diese Eigenschaft trifft unter anderem auf Wasserstoff zu. Deshalb können Gewebe, die viel Wasser enthalten, besonders gut dargestellt werden. Abkürzung: MRT.

Magnetresonanztomographie

Magnetresonanztomographie/-/magnetic resonance imaging

Ein bildgebendes Verfahren, das Mediziner zur Diagnose von Fehlbildungen in unterschiedlichen Geweben oder Organen des Körpers einsetzen. Die Methode wird umgangssprachlich auch Kernspin genannt. Sie beruht darauf, dass die Kerne mancher Atome einen Eigendrehimpuls besitzen, der im Magnetfeld seine Richtung ändern kann. Diese Eigenschaft trifft unter anderem auf Wasserstoff zu. Deshalb können Gewebe, die viel Wasser enthalten, besonders gut dargestellt werden. Abkürzung: MRT.

Emotionen

Emotionen/-/emotions

Unter „Emotionen“ verstehen Neurowissenschaftler psychische Prozesse, die durch äußere Reize ausgelöst werden und eine Handlungsbereitschaft zur Folge haben. Emotionen entstehen im limbischen System, einem stammesgeschichtlich alten Teil des Gehirns. Der Psychologe Paul Ekman hat sechs kulturübergreifende Basisemotionen definiert, die sich in charakteristischen Gesichtsausdrücken widerspiegeln: Freude, Ärger, Angst, Überraschung, Trauer und Ekel.

Originalpublikation

Christa Müller-Axt, Louise Kauffmann, Cornelius Eichner, and Katharina von Kriegstein. Dysfunction of the magnocellular subdivision of the visual thalamus in developmental dyslexia. Brain.  https://doi.org/10.1093/brain/awae235 

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