Die Putzkolonne im Gehirn
Das Gehirn ist rund um die Uhr aktiv. Dabei fällt viel Müll an. Um diesen zu beseitigen, haben unsere grauen Zellen eine eigene Putzkolonne, die wir noch gar nicht so lange kennen. Vor allem während wir schlafen, laufen Reinigungsprozesse auf Hochtouren.
Veröffentlicht: 06.11.2024
Niveau: leicht
- Im restlichen Körper entfernt das Lymphsystem Abfallstoffe.
- 2012 entdeckte Maiken Nedergaard mit ihrem Team das glymphatische System, das ähnlich wie das Lymphsystem funktioniert.
- Das glymphatische System nutzt die Hirnflüssigkeit, die durch Kanäle und Zellzwischenräume im Gehirn fließt, um Stoffwechselprodukte und Toxine aufzunehmen und abzutransportieren.
- Schlaf fördert möglicherweise die Effizienz des glymphatischen Systems: Zellzwischenräume im Gehirn vergrößern sich während des Schlafs, was eine bessere Abfallentsorgung ermöglicht.
- Noradrenalin beeinflusst offenbar die Größe der Zellzwischenräume und damit die Effizienz des Abfalltransports.
- Einige Forschungsergebnisse unterstützen die Theorie, dass Schlaf die Abfallentsorgung fördert, andere stellen dies infrage.
Das Gehirn gleicht ein wenig einem modernen Firmengebäude. Die Hirnregionen sind dabei die einzelnen Abteilungen. In jedem gut funktionierenden Bürokomplex braucht es ein effizientes Reinigungssystem, um alles sauber zu halten. Auch das Gehirn hat eine eigene Reinigungscrew, die dafür sorgt, dass der Laden reibungslos läuft.
Im restlichen Körper entfernt das Lymphsystem überschüssige Flüssigkeit, Abfallstoffe, Zelltrümmer, Krankheitserreger und andere unerwünschte Substanzen aus den Geweben. Doch wie wird das Gehirn seinen Müll los? Diese Frage ist nicht ganz unwichtig, da das Gehirn einen besonders aktiven Stoffwechsel hat. Entsprechend fällt auch einiges an Abfallprodukten an.
Der Fluss des Liquors
is vor kurzem glaubten Forscher, das Gehirn habe kein eigenes Lymphsystem, das die Reinigung übernimmt. Über ein Jahrhundert lang nahm man an, der Fluss des Liquors, der Hirnflüssigkeit, übernehme diese Funktion. Die Hirnflüssigkeit umgibt Gehirn und Rückenmark, schützt sie vor Stößen und transportiert Nährstoffe zu den Nervenzellen – und Substanzen von diesen weg.
Zwar verspottet man Menschen, die nicht ganz so helle sind, gerne als Hohlköpfe. Doch tatsächlich sind wir im Grunde alle Hohlköpfe, denn tief in seinem Inneren ist das Gehirn tatsächlich hohl. Das liegt am Ventrikelsystem, einem Netzwerk miteinander verbundener Hohlräume, in denen sich die Hirnflüssigkeit befindet. Diese Ventrikel produzieren den Liquor und verteilen ihn.
Forscher gingen nun davon aus, dass sich von Nervenzellen und Gliazellen produzierte Abfallstoffe und Stoffwechselprodukte in der Hirnflüssigkeit sammeln und mit dieser in einer Art passivem Transport entfernt werden. Der Haken an dieser These: Dieser Vorgang wäre viel zu langsam, um eine effektive Müllabfuhr zu bilden. Es muss demnach anders laufen.
Das feinkörnige Bild
Erst 2012 entdeckten Forscher um die dänische Neurowissenschaftlerin Maiken Nedergaard vom University of Rochester Medical Center, dass das Gehirn ein eigenes Abfallentsorgungssystem besitzt – ähnlich dem Lymphsystem im restlichen Körper. Sie nannten es das "glymphatische System". Der Name setzt sich aus „Glia“ und „lymphatisch“ zusammen, da Gliazellen darin eine wichtige Rolle spielen. Das glymphatische System ist ein fließendes Durchlaufsystem zum Abtransport von überflüssigen und schädlichen Stoffen, bei dem auch der Liquor eine wichtige Rolle spielt.
Im Rahmen der Abfallentsorgung fließt der Liquor durch verschiedene Räume im Gehirn ▸ Verborgene Kanäle . Dazu gehören winzige Kanäle, die parallel zu den Blutgefäßen verlaufen. Sie befinden sich zwischen den Blutgefäßen und dem umgebenden Gewebe.
Anschließend tritt die Hirnflüssigkeit in das Hirngewebe ein. Hier kommen die Gliazellen, genauer Astrozyten, ins Spiel. Diese Hirnzellen besitzen wasserleitende Kanäle in ihren Endfüßchen. Durch diese Kanäle wird der Liquor in die Zellzwischenräume des Gehirngewebes verteilt, also in den Bereich, der nicht von Blutgefäßen, Nervenfasern oder Zellen eingenommen wird.
Das Entscheidende ist nun: Während die Hirnflüssigkeit durch das Hirngewebe fließt, nimmt sie Abfälle auf, die durch den Zellstoffwechsel entstehen. Wie schon die Originalstudien von Maiken Nedergaard und ihren Kollegen 2012 deutlich machten, gehört dazu Beta-Amyloid. Dieses Eiweiß genießt einen schlechten Ruf. Denn die Ansammlung und Ablagerung des Proteins wird mit der Entstehung der Alzheimer-Erkrankung in Verbindung gebracht ▸ Wenn das Gehirn vermüllt . Schließlich wird der Liquor samt Abfallstoffen entlang der Venen wieder abtransportiert. Klappt der Abtransport von Stoffen wie Beta-Amyloid nicht gut, könnte das möglicherweise dieEntstehung von neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer begünstigen.
Beta-Amyloid
Beta-Amyloid/-/beta amyloid
Ein Peptid, das aus 36 bis 42 Aminosäuren besteht und als Hauptbestandteil seniler Plaques für die Entstehung von Alzheimer verantwortlich gemacht wird. Ausgangsprodukt ist das Amyloid-Vorläuferprotein (APP). Bestimmte Enzyme in der Zellmembran zerschneiden das Vorläuferprotein in Peptide verschiedener Größe. In senilen Plaques findet man Amyloide aus 40 und aus 42 Aminosäuren, wobei zumindest in der Petrischale das 42 Aminosäuren lange Produkt besonders schnell Aggregate bildet. Die normale Funktion von Beta-Amyloid ist noch nicht abschließend geklärt.
Neurodegeneration
Neurodegeneration/-/neurodegeneration
Sammelbegriff für Krankheiten, in deren Verlauf Nervenzellen sukzessive ihre Struktur oder Funktion verlieren, bis sie teilweise sogar daran zugrunde gehen. Vielfach sind falsch gefaltete Proteine der Auslöser – wie etwa bestimmte Formen der Eiweiße Beta-Amyloid und Tau im Falle von Alzheimer. Bei anderen Krankheiten, beispielsweise bei Parkinson oder Chorea Huntington, werden Proteine innerhalb der Neurone nicht richtig abgebaut. In der Folge lagern sich dort toxische Aggregate ab, was zu den jeweiligen Krankheitserscheinungen führt. Während Chorea Huntington eindeutig genetisch bedingt ist, scheint es bei Parkinson und Alzheimer allenfalls bestimmte Ausprägungsformen von Genen zu geben, welche ihre Entstehung begünstigen. Keine dieser neurodegenerativen Erkrankungen kann bisher geheilt werden.
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Warum wir schlafen
uasi nebenbei hat Maiken Nedergaard mit ihrer Forschung zum glymphatischen System auch einen möglichen Grund dafür gefunden, warum wir überhaupt schlafen. Wie wichtig guter Schlaf ist, fällt uns in der Regel dann auf, wenn er uns fehlt. War die Nacht mal wieder viel zu kurz, schlägt das nicht nur auf die Stimmung. Meist sind wir dann geistig nicht voll auf der Höhe. Den genauen Grund dafür kennt die Wissenschaft nicht.
Einer der Funktionen von Schlaf könnte darin liegen, dass das Gehirn währenddessen den eigenen Haushalt auf Vordermann bringt. Wie Maiken Nedergard 2013 in einer Studie an Mäusen belegen konnte, wird offenbar im Zuge des Schlummerns am meisten Müll abtransportiert. Der Zwischenraum zwischen den Zellen im Gehirngewebe nahm während des Schlafs durch Schrumpfung der Zellkörper um bis zu 60 Prozent zu.
Verantwortlich dafür ist unter anderem Noradrenalin, ein Botenstoff, der das Wachheitsniveau reguliert. Er scheint gleichzeitig die Größe des Zellzwischenraums zu steuern. Noradrenalin-vermittelte Signale verändern offenbar das Zellvolumen und verkleinern dadurch den Raum zwischen den Hirnzellen. Hemmten Nedergaard und ihre Kollegen diese Signale medikamentös, vergrößerte sich der Zwischenraum zwischen den Zellen. Das führte zu einer effizienteren Beseitigung von Abfallprodukten ähnlich wie im Schlaf.
Der naheliegende Vorteil von größeren Zellzwischenräumen während des Schlafs: Durch mehr Platz zwischen den Zellen kann die Hirnflüssigkeit besser zirkulieren und die Abfallstoffe effizienter abtransportieren. Tatsächlich wurde Beta-Amyloid in der Untersuchung von Nedergaard aus den Gehirnen schlafender Mäuse doppelt so schnell beseitigt wie bei wachen Mäusen. Ein weiterer Vorteil: Der Schlaf ermöglicht es dem glymphatischen System, intensiver zu arbeiten. Denn die Energie, die im Gehirn sonst für kognitive und andere Leistungen draufgeht, steht dann für die Reinigung des Gehirns zur Verfügung. In einer Untersuchung von 2019 kam Nedergaard zu dem Ergebnis, dass vor allem im Tiefschlaf die Abfallentsorgung auf Hochtouren läuft: „Schlaf ist entscheidend für die Funktion des Abfallbeseitigungssystems des Gehirns“, sagt sie in einer Pressemitteilung . „Und diese Studie zeigt, je tiefer der Schlaf ist, desto besser."
Müllabfuhr: Im Schlaf wirklich effektiver?
Allerdings stellte kürzlich eine Studie infrage, ob Schlaf wirklich dazu dient, die Abfallentsorgung zu unterstützen. Nick Franks, Professor für Biophysik und Anästhesie am Imperial College London, und seine Kollegen kamen genau zu dem gegenteiligen Ergebnis: Stoffe im Gehirn von Mäusen wurden während des Schlafs nicht etwa stärker beseitigt – der Abtransport war sogar deutlich vermindert. "Die Idee, Schlaf könne das Gehirn von Stoffwechselprodukten befreien, war verlockend", sagt Nick Franks. Aber die Daten, die dies untermauern sollten, seien meist indirekt gewesen. "Man hat gemessen, wie schnell bestimmte Nachweismoleküle in das Gehirn gelangten. Und hat dies als Ersatz für das, was hinausging, angesehen.“ Seine eigenen Daten seien direkter. Tatsächlich hatten die Wissenschaftler um Franks Markermoleküle ins Gehirn injiziert und gemessen, wie schnell sie wieder austraten. Schlaf und Narkosemittel hemmten die Ausscheidung. "Daher ist es unwahrscheinlich, dass die Ausscheidung von Stoffwechselprodukten der Hauptgrund dafür ist, dass wir schlafen müssen."
Ob im Schlaf wirklich der Großputz stattfindet, ist also nicht ganz klar. Dafür häufen sich die Belege, dass das Gehirn tatsächlich über eine eigene Putzkolonne verfügt. Ähnlich wie ein modernes, gut funktionierendes Firmengebäude.