Gehirn rechnet mit Wellen

Forschern des Ernst Strüngmann Instituts in Frankfurt am Main unter der Leitung von Wolf Singer ist ein Durchbruch beim Verständnis grundlegender Gehirnprozesse gelungen. Die Forscher liefern erstmals überzeugende Beweise dafür, dass die für das Gehirn charakteristischen rhythmischen Muster einen wichtigen Zweck für die Informationsverarbeitung erfüllen. Obwohl diese oszillatorischen Dynamiken seit vielen Jahrzehnten in Aufnahmen von Gehirnaktivität beobachtet wurden, blieb ihr Sinn bis jetzt weitgehend unklar.
Veröffentlicht: 06.02.2025
Die Studie hat das Potenzial, das bisherige Verständnis von Gehirnaktivität richtungweisend zu verändern. Durch Computersimulationen rekurrenter Netzwerke zeigt sie, dass Netzwerke mit oszillierenden Knoten nicht nur eine überlegene Leistung im Vergleich zu nicht-oszillierenden Netzwerken aufweisen, sondern auch viele der experimentell beobachteten Phänomene reproduzieren. Die vorgestellten Ergebnisse erlauben es, diesen Phänomenen eine funktionale Relevanz zuzuordnen und zeigen, dass oszillatorische Dynamik nicht lediglich eine unvermeidliche Begleiterscheinung neuronaler Interaktionen ist, sondern eine zentrale Rolle für die effiziente Informationsverarbeitung im Gehirn spielt.
Zudem ergeben die Untersuchungen, dass die Heterogenität in Netzwerkparametern, wie zum Beispiel unterschiedliche Oszillationsfrequenzen und Leitungsverzögerungen, die Netzwerkleistung weiter verbessert. Dies deutet darauf hin, dass die in biologischen Netzwerken beobachtete Heterogenität nicht Folge von Ungenauigkeit der Natur ist, sondern eine wichtige Eigenschaft der Netzwerke, die für die robuste und effiziente Verarbeitung von Sinnesreizen mit stark variierenden Eigenschaften optimiert sind.
„Unsere Ergebnisse stellen die traditionelle Sichtweise der Gehirndynamik infrage, die häufig von einer eher lokalisierten Informationsverarbeitung ausgeht“, erklärte Felix Effenberger, Erstautor der Studie. „Stattdessen schlagen wir vor, dass das Gehirn Wellen verwendet, um Berechnungen auf eine stark verteilte und parallelisierte Weise durchzuführen. Die durch wellenbasierte Dynamik erzeugten Interferenzmuster ermöglichen eine ganzheitliche Repräsentation und distributive Kodierung sowohl räumlicher als auch zeitlicher Beziehungen zwischen Reizmerkmalen.“
Netzwerke als Medium für die Ausbreitung von Wellen
Die Frankfurter Forscher bieten damit eine neue Interpretation neuronaler Dynamik an, bei der die Netzwerke des Gehirns als Medium für die Ausbreitung von Wellen dienen, und nicht als komplexe Schaltkreise mit klar definierten sequenziellen und gerichteten Signalflüssen funktionieren. Letzteres bestimmt die bisher gängigen Theorien der Neurowissenschaften – und trifft auch für die meisten KI-Systeme zu. Die ESI Wissenschaftler schlagen vor, dass die Netzwerke im Gehirn die Überlagerungs- und Interferenzmuster von Wellen nutzen, um Information auf eine hochgradig verteilte Weise zu repräsentieren und zu verarbeiten. Hierzu nutzen die Netzwerke die besonderen Eigenschaften gekoppelter Oszillatoren wie Resonanz, Synchronisation und Phasenverschiebungen.
„Dies ist ein bedeutender Fortschritt im Verständnis der Informationsverarbeitung im Gehirn“, sagte Wolf Singer, Seniorautor der Studie. „Die vorgeschlagene Strategie der Informationsverarbeitung ist ideal für kognitive Funktionen geeignet, welche die gleichzeitige Auswertung zahlreicher verschachtelter Beziehungen zwischen räumlichen und zeitlichen Merkmalen von Sinnessignalen erfordern. Solche Probleme müssen für alle Wahrnehmungsprozesse gelöst werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass diese Strategie von der Großhirnrinde angewandt wird. Unsere Hypothese, dass das Bindungsproblem - die Zuordnung von Merkmalen zu einzelnen Wahrnehmungsobjekten - über die Synchronisation oszillatorischer Aktivität gelöst werden kann, wäre damit bestätigt."
Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz
Neben neuen Erkenntnissen für die Neurowissenschaften zeichnet die Studie auch einen möglichen Weg für eine signifikante Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz – so zum Beispiel in Form neuartiger, deutlich energieeffizienterer Technikkomponenten. Die Autoren schlagen einen radikalen Schritt weg von den bisherigen digitalen Konzepten vor und sehen erhebliche Perspektiven etwa in analogen, von Gehirndynamiken inspirierten Chips.
Gleichzeitig sagen sie voraus, dass ihre Ergebnisse die Entwicklung neuartiger Systeme der Künstlichen Intelligenz vorantreiben könnte, die auf analogen statt digitalen Signalen beruhen, sehr energieeffizient sind, und schneller und mit weniger Daten lernen können. Die aktuellen Studienergebnisse stellen damit einen bedeutenden Fortschritt für das Verständnis von Gehirnprozessen dar und eröffnen neue Perspektiven sowohl für die Neurowissenschaften als auch für die Weiterentwicklung Künstlicher Intelligenz.
Intelligenz
Intelligenz/-/intelligence
Sammelbegriff für die kognitive Leistungsfähigkeit des Menschen. Dem britischen Psychologen Charles Spearman zufolge sind kognitive Leistungen, die Menschen auf unterschiedlichen Gebieten erbringen, mit einem Generalfaktor (g-Faktor) der Intelligenz korreliert. Demnach lasse sich die Intelligenz durch einen einzigen Wert ausdrücken. Hierzu hat u.a. der US-Amerikaner Howard Gardner ein Gegenkonzept entwickelt, die „Theorie der multiplen Intelligenzen“. Dieser Theorie zufolge entfaltet sich die Intelligenz unabhängig voneinander auf folgenden acht Gebieten: sprachlich-linguistisch, logisch-mathematisch, musikalisch-rhythmisch, bildlich-räumlich, körperlich-kinästhetisch, naturalistisch, intrapersonal und interpersonal.
Originalpublikation
Felix Effenberger, Pedro Carvalho, Igor Dubinin, and Wolf Singer; The functional role of oscillatory dynamics in neocortical circuits: A computational perspective; PNAS, 122 (4) e2412830122
Source