Frage an das Gehirn
Wie verlässlich sind Erinnerungen?
Veröffentlicht: 12.11.2012
Oft sind wir uns ganz sicher: So und nicht anders ist es gewesen. Bis wir eines Besseren belehrt werden. Wie zuverlässig ist unser Gedächtnis also überhaupt?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Antwort von Melanie Steffens, Professorin für Psychologie am Institut für Psychologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena:
Erinnerungen sind oft sehr unzuverlässig. Unser Gedächtnis ist kein Archiv unverfälschter Dokumente. Erinnerungen werden nachträglich oft verzerrt, beispielsweise durch neue Informationen. Das belegen unter anderem Untersuchungen von Augenzeugenberichten. Stellt man bei der polizeilichen Befragung etwa Suggestivfragen wie: „Haben Sie gesehen, dass der Täter einen Vollbart hatte?“, kann das die Erinnerungen verzerren. In dem Moment der Befragung kurz nach der Tat weiß der Zeuge, dass er sich nicht an einen Vollbart erinnern kann. Verstreicht aber eine gewisse Zeit, kann er oft nicht mehr die beiden Quellen — das tatsächlich Beobachtete und die Informationen aus der Suggestivfrage auseinanderhalten. Er glaubt dann plötzlich doch, er habe einen Täter mit Vollbart gesehen. Psychologen sprechen hier von der so genannten Quellenverwechslung.
Auf ähnliche Weise kommt es auch zu unbeabsichtigten Plagiaten. Eine Idee, von der man gelesen hat, hält man nach einiger Zeit mitunter für die eigene. Besonders bei Bildern fällt es schwer, verschiedene Quellen auseinanderzuhalten. Bilder, die man sich nur vorgestellt hat oder die man in einem anderen Kontext gesehen hat, kann man oft nicht von eigenen Erinnerungsbildern unterscheiden. Man glaubt sich etwa an Ereignisse beim Fall der Berliner Mauer zu erinnern, die man lediglich wiederholt im Fernsehen gesehen hat. Die Gefahr, Quellen zu verwechseln, besteht besonders dann, wenn man nur noch über Bruchstücke der Erinnerung verfügt, weil etwa das Geschehene schon lange her ist.
Darüber hinaus lassen sich Erinnerungen auch gezielt implantieren. Im Rahmen von Studien bekamen Probanden beispielsweise Stichwörter zu Erlebnissen aus ihrer Kindheit und sollten sich an diese zurückerinnern. Die Stichwörter stammten aus Berichten von Verwandten der Probanden. Was die Versuchspersonen nicht wussten — jeweils ein Ereignis aus der Kindheit war so nie geschehen. Anschließend wurden die Versuchspersonen mit der Anweisung nach Hause geschickt, noch einmal über die Kindheitserlebnisse nachzudenken und zu versuchen, sich an mehr zu erinnern. Nach einem zeitlichem Abstand glaubten sich die Probanden an Dinge zu erinnern, die laut ihren Verwandten und auch ihrer ursprünglichen Meinung nie stattgefunden hatten. In manchen Studien traf das auf bis zu 60 Prozent der Teilnehmer zu.
Das Implantieren klappte vor allem mit Hilfe von Fotomontagen. Zeigte man beispielsweise einem erwachsenen Probanden ein manipuliertes Bild, auf dem er als Kind mit seinem Vater in einem Heißluftballon zu sehen ist, glaubte er sich sogar an die Angst zu erinnern, die er in dem Ballon hatte. Auch hier kann man die Quellen verwechseln, die bildlichen Vorstellungen, die man sich von den Ereignissen gemacht hat und den tatsächlichen Erinnerungen.
Viel Macht übt auch die Kraft der Suggestion aus. Behaupten die Forscher mit ihrer ganzen Expertenautorität gegenüber Probanden, sie würden sich in den nächsten Tagen besser an die Ereignisse aus ihrer Kindheit erinnern, tut dies seine Wirkung. Bei jüngeren und stärkeren Erinnerungen ist es allerdings schwerer sie zu beeinflussen.
Aufgezeichnet von Christian Wolf
Gedächtnis
Gedächtnis/-/memory
Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.