Frage an das Gehirn
Ist Hyperaktivität erblich?
Veröffentlicht: 29.01.2013
Wie groß ist die Gefahr, dass ein Kind hyperaktiv wird, wenn Vater und Großvater an einer Hyperaktivitätsstörung leiden? Wie kann man solch ein Kind am besten davor schützen?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Prof. Dr. med. Martin Ohlmeier, Gründer der ersten ADHS-Ambulanz in Hannover, nun Klinikdirektor des Ludwig-Noll-Krankenhauses in Kassel:
Grundsätzlich kann man sagen, dass die Wahrscheinlichkeit für ein Kind erhöht ist, eine Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) zu entwickeln, wenn ein Elternteil betroffen ist. Allerdings sollte man zurückhaltend sein, diese Erkrankung ausschließlich als „genetisch“ zu definieren. Obwohl es eine genetische Komponente gibt, lässt sich schwer voraussagen, ob und in welcher Form Symptome auftreten. Denn zusätzlich zur Genetik spielt immer auch der Einfluss von Umweltfaktoren eine wichtige Rolle.
Verschiedene Gene, die für ADHS mitverantwortlich sind, gelten heute als identifiziert. Als hauptverantwortlich gilt ein gestörter Stoffwechsel des Botenstoffs Dopamin. Bei ADHS wird Dopamin nach Ausschüttung über die sogenannten Dopamintransporter vermehrt in die ausschüttenden Zellen zurücktransportiert. Außerdem reagieren die Rezeptoren der nachgeschalteten Zelle weniger empfindlich. Dies erklärt auch die Wirkung von Medikamenten wie Ritalin. Ritalin (Inhaltsstoff: Methylphenidat) hemmt die Dopamintransporter und sorgt somit für eine höhere Dopamin-Konzentration an den Rezeptoren.
Was nun die Umweltfaktoren angeht, so wissen wir heute, dass zum Beispiel der Konsum von Alkohol oder Zigaretten während der Schwangerschaft das Risiko des Kindes erhöht, an ADHS zu erkranken. Selbst bei genetischer Voraussetzung führen also unter Umständen erst die zusätzlichen Umweltfaktoren, in diesem Fall Alkohol und Nikotin, dazu, dass die Symptome klinisch relevant werden.
Kritisch anzumerken ist hierbei, dass es viele Varianten von ADHS gibt: in der mildesten Form handelt es sich eher um eine „Persönlichkeitsbetonung“, die von den Betroffenen oft nicht als Krankheit empfunden wird. Bei der starken Form leiden die Betroffenen dagegen oft sehr unter den Symptomen (Hyperaktivität, Aufmerksamkeitsstörung und emotionale Instabilität), weil sie nicht leistungsfähig sind und es auch im sozialen Bereich ständig zu Schwierigkeiten kommt.
Man kann also bei einer familiären Vorbelastung nur schwer vorhersagen, ob ein Kind eine ADHS entwickeln wird, und wenn ja, wie ausgeprägt die Symptome sein werden. Man sollte in Ruhe abwarten, wie sich das Kind entwickelt.
Wenn sich ein Kind, dessen Eltern an ADHS leiden, allerdings als sehr impulsiv und hyperaktiv herausstellt, sollte man unter anderem im Auge behalten, ob eine besonders hohe Risikobereitschaft besteht. Die Betroffenen neigen aufgrund ihrer „Reizoffenheit“ und Impulsivität oft zu riskanten Verhaltensweisen. Auch das Risiko eines Drogenkonsums ist erhöht. Wir wissen heute, dass Kinder und Jugendliche, die unter ausgeprägten ADHS-Symptomen leiden, nicht selten feststellen, dass die Symptome nach Konsum bestimmter Drogen abnehmen. Zum Beispiel Cannabis: die Betroffenen werden dann ruhiger, können sich besser konzentrieren und abends besser einschlafen. Häufig fehlt dabei allerdings das Bewusstsein dafür, dass sie Cannabis eigentlich konsumieren, um sich „selbst zu behandeln“.
Die ADHS-betroffenen Kinder bzw. Jugendlichen sind also besonders schützenswert, damit sie nicht auf Grund ihrer Impulsivität und „Reizoffenheit“ in schwierige Situationen geraten. Problematisch wird es, wenn sich zusätzlich zur ADHS eine Suchterkrankung oder eine Depression entwickelt.
Aufgezeichnet von Jochen Müller
Gen
Gen/-/gene
Informationseinheit auf der DNA. Den Kernbestandteil eines Gens übersetzen darauf spezialisierte Enzyme in so genannte Ribonukleinsäure (RNA). Während manche Ribonukleinsäuren selbst wichtige Funktionen in der Zelle ausführen, geben andere die Reihenfolge vor, in der die Zelle einzelne Aminosäuren zu einem bestimmten Protein zusammenbauen soll. Das Gen liefert also den Code für dieses Protein. Zusätzlich gehören zu einem Gen noch regulatorische Elemente auf der DNA, die sicherstellen, dass das Gen genau dann abgelesen wird, wenn die Zelle oder der Organismus dessen Produkt auch wirklich benötigen.
Dopamin
Dopamin/-/dopamine
Dopamin ist ein wichtiger Botenstoff des zentralen Nervensystems, der in die Gruppe der Catecholamine gehört. Es spielt eine Rolle bei Motorik, Motivation, Emotion und kognitiven Prozessen. Störungen in der Funktion dieses Transmitters spielen eine Rolle bei vielen Erkrankungen des Gehirns, wie Schizophrenie, Depression, Parkinsonsche Krankheit, oder Substanzabhängigkeit.
Rezeptor
Rezeptor/-/receptor
Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.
Auge
Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb
Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.
Depression
Depression/-/depression
Phasenhaft auftretende psychische Erkrankung, deren Hauptsymptome die traurige Verstimmung sowie der Verlust von Freude, Antrieb und Interesse sind.