Frage an das Gehirn
Wie entsteht ein Gedanke?
Veröffentlicht: 05.12.2015
Was ist eigentlich ein Gedanke — und wie kommt er in den Kopf?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Wie entsteht ein Gedanke?
Prof. Dr. med. Dr. phil. Henrik Walter: Die Beantwortung dieser Frage verlangt, dass wir uns erst einmal darüber verständigen müssen, was ein Gedanke überhaupt ist. Eine kniffelige Frage. Ein Neurowissenschaftler würde vermutlich einfach sagen: Ein Gedanke ist eine neuronale Repräsentation im Gehirn, das sich als Aktivitätsmuster zeigt. Weiter würde er wohl behaupten, dass, um den gleichen Gedanken haben, verschiedene Personen sehr ähnliche Aktivitätsmuster im Gehirn haben müssen. Aber ich glaube, diese Ansicht ist nicht ganz richtig. Ein Gedanke ist weniger ein bestimmter neuronaler Zustand im Kopf, sondern ein zeitlich ausgedehnter Prozess, dessen Gehalt über das Gehirn hinausgeht. Die Vorstellung, wir könnten zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Aktivitätsmuster im Gehirn identifizieren, das identisch mit einem Gedanken ist, ist irreführend. Vielmehr müssen wir uns vorstellen, dass das Gehirn unablässig damit beschäftigt ist, seinem Träger, dem Menschen, dabei zu helfen, existierende Dinge in der Welt zu erkennen und vor allem, wiederzuerkennen, um zu überleben. Dabei geht es in der Regel nicht um Kategorien oder abstrakte Gegenstände, sondern um konkrete Einzeldinge.
Überlegen wir uns mal, was dabei passiert. Wenn wir zum Beispiel an einen Hund denken, denken wir oft an einen ganz konkreten Hund, etwa den Dackel Waldi von Frau Müller oder einen Schäferhund als Prototyp. Dazu gibt es, je nach Kontext, noch ganz verschiedene spezifische Arten, an einen Hund zu denken. So kann man an einen Organismus mit vier Beinen und einem weichen Fell denken, der einem freudestrahlend zur Begrüßung die Hand leckt. Oder an einen vierbeinigen Organismus, der rumläuft, bellt und den Postboten beißt. Woran man – zumindest im Alltag – nicht denkt, ist eine Kategorie „Hund“, die durch notwendige und hinreichende Eigenschaften definiert ist. Wenn wir an Hunde denken, üben wir die Fähigkeit aus, konkrete Einzeldinge in der Welt auf zuverlässige Weise zu reidentifizieren.
Viele Philosophen in der Philosophie des Geistes gehen davon aus, dass sich mentale Zustände wie ein Gedanke durch zwei besondere Eigenschaften auszeichnen: Bewusstsein und Intentionalität. Da man auch unbewusste Gedanken haben kann, können wir das Bewusstsein hier einmal vernachlässigen. Was ist also Intentionalität? Man könnte diesen Fachterminus mit „Bedeutungshaftigkeit“ übersetzen, in unserem Zusammenhang also als die Eigenschaft eines neuronalen Aktivitätsmusters, sich auf etwas zu beziehen, etwas zu bedeuten. Die Fähigkeit, einen Gedanken an etwas zu haben, entspricht dann der Fähigkeit, einen Hund in der Welt verlässlich wieder zu erkennen. Meine Ansicht, dass wir uns dabei im Alltag eher auf konkrete Einzeldinge als auf Kategorien oder definierende Eigenschaften beziehen, wird deutlich, wenn man untersucht, wie Kinder anfangen zu denken und zu sprechen. Sie erkennen keine abstrakten Begriffe, Klassen oder Kategorien, sondern die konkreten Einzeldinge: den Dackel Waldi, das Mädchen Fritzi, die Elfe Lillifee oder das Einhorn Onchao, alles, was für sie eine konkrete Bedeutung hat. Und so ist es in der Regel auch für uns Erwachsene. Wir haben natürlich auch die Fähigkeit, diszipliniert in, an oder mit Kategorien, Konzepten und Abstrakta zu denken, aber wenn wir nicht gerade Logik oder Wissenschaft betreiben, gehen wir mit den sprachlichen Bezeichnungen, also den Worten, für Kategorien, Konzepten und Abstrakta ebenso um wie Kinder mit Dingen in der Welt. Dabei sind unsere Gedanken in Wirklichkeit oft unklarer und verworrener, als wir selbst gerne glauben.
Um zu verstehen, wie Bedeutung in den Kopf kommt, also wie ein Gedanke entsteht, müssen wir uns klarmachen, dass das Gehirn nicht für sich allein existiert, sondern immer nur als Bestandteil eines Organismus, der mit seiner Umwelt interagiert und dauernd dafür sorgen muss, den tragfähigen Kontakt zum inneren Milieu und zur äußeren Realität nicht zu verlieren. Alles, was im Gehirn gedanklichen Gehalt hat, bezieht diesen letztlich aus vergangenen oder aktuellen Interaktionen mit der – auch sprachlich verfassten – Umwelt, wozu auch die evolutionäre Vergangenheit gehört. Die Bedeutung eines Gedankens und damit der Gedanke selbst entsteht also vereinfacht gesagt aus der aktiven Interaktion von Gehirn mit seinem Körper und der Umwelt des Organismus, dem sie angehören.
Aufgezeichnet von Maike Niet