Frage an das Gehirn
Wo sitzt das Ich im Gehirn?
Veröffentlicht: 31.05.2013
Kann man das Ich im Gehirn irgendwo verorten? Und lässt es sich unterscheiden vom Selbst-Bewusstsein?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Dr. Michael Czisch, Leiter der Arbeitsgruppe Neuroimaging, Max-Planck-Institut für Psychiatrie in München:
Das Ich und das Selbst-Bewusstsein sitzen nicht an einer bestimmten Stelle im Gehirn. Zumal man unter Bewusstsein verschiedene Dinge verstehen kann: zum einen die Selbst-Wahrnehmung, also die Fähigkeit, über sich und seine Gedanken zu reflektieren; zum anderen den Zustand des Wachseins an sich, währenddessen man seinen Körper und Reize aus der Umgebung wahrnimmt.
Für die Selbst-Wahrnehmung galten lange Zeit drei Hirn-Regionen als verantwortlich: die Insel, der anteriore Gyrus cinguli und der mediale präfrontale Cortex. Allerdings hat eine 2012 veröffentlichte Fallstudie diese Ansicht in Frage gestellt: Ein Patient, bei dem all diese Regionen schwer geschädigt waren, konnte sich durchaus selbst wahrnehmen. Die Selbst-Wahrnehmung sitzt also nicht in den drei Hirn-Regionen selbst, sondern sie ist das Ergebnis, wenn verschiedene Regionen im Gehirn in einem komplexen Netzwerk sinnvoll miteinander wechselwirken.
Eine zentrale Rolle spielt hierbei das sogenannte Default Mode Netzwerk, kurz DMN. Dieses Netzwerk ist eine Gruppe von Hirnregionen, die aktiver ist, wenn wir uns nicht mit der Außenwelt beschäftigen, sondern mit inneren Gedanken und Erinnerungen. Zu diesem Netzwerk gehört auch der mediale präfrontale Cortex. Der war beim eben erwähnten Patienten geschädigt. Deswegen hatte die Person zum Teil persönliche Erinnerungen verloren, aber ansonsten wurde dessen Selbst-Wahrnehmung nicht weiter eingeschränkt. Andere Teile des DMN waren nämlich nicht betroffen.
Auch für die zweite Bedeutung des Bewusstseins ist das Default Mode Network wichtig. Wenn wir schlafen oder eine Narkose bekommen, dann sind die einzelnen Regionen des Netzwerks weniger aktiv und weniger stark miteinander verknüpft. Vor allem der Informationsfluss zwischen weit voneinander entfernten Hirnregionen scheint reduziert zu sein.
In der Anästhesie wurde zum Beispiel untersucht, was passiert, wenn jemand mit einer Narkose sein Bewusstsein verliert. Studien mit der Positronen-Emissions-Tomographie haben gezeigt, dass speziell zwei Hirnregionen die Aktivität reduzieren: der Thalamus und der posteriore cinguläre Cortex. Der Thalamus gilt als „Tor zum Bewusstsein“. Im Wachen werden Informationen durch den Thalamus weitergeleitet – unter Narkose oder im Schlaf wird diese Weiterleitung blockiert.
Das heißt aber nicht, dass nun im Thalamus das Ich oder das Selbst-Bewusstsein sitzt. Im Traumschlaf nämlich ist der Thalamus wiederum besonders aktiv, wenn auch das Bewusstsein eingeschränkt ist. So träumen wir manchmal in der ersten Person, also mit einer Ansicht von innen heraus; und mal träumen wir in der dritten Person, also so, als ob wir uns von außen beobachten. Daran ist wiederum der Parietallappen beteiligt. Dieser Teil der Großhirnrinde ist bekannt dafür, den Körper in einem Raum zu verorten.
Spannend – und noch komplexer – wird es, wenn man einen sogenannte luziden Traum hat: Dabei träumt man, aber man ist sich bewusst, dass man träumt. In diesem Zustand werden einige Teile der Hirnrinde viel aktiver als im gewöhnlichen Traum. Beteiligt ist dann der dorsolaterale präfrontale Cortex, dem die Funktionen der Selbsteinschätzung und der willentlichen Kontrolle zugesprochen werden. Besonders aktiv ist auch der Praecuneus, eine Gehirnregion, die seit längerem mit Selbstwahrnehmung in Zusammenhang gebracht wird.
Deswegen muss man zusammenfassen: Es gibt nicht den einen Ort im Gehirn für das Ich oder das Selbst-Bewusstsein. Vielmehr ist es umgekehrt: Das Ich und das Bewusstsein setzen einen Zustand voraus, in dem unser Gehirn Informationen innerhalb eines komplexen Netzwerks sinnvoll verarbeiten kann.
Aufgezeichnet von Franziska Badenschier
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.