„Ich warne davor, einen Roman mit Spritz zu lesen“

Copyright: Grafikerin Meike Ufer
Speedreading
Autor: Ulrich Pontes

Das Lesen deutlich zu beschleunigen, versprechen spezielle Schnelllesetechniken und neuerdings die App „Spritz“. Was ist davon zu halten, und welche Temposteigerungen sind realistisch? Im Interview gibt der Leseforscher Ralph Radach Auskunft.

Veröffentlicht: 27.06.2014

Niveau: mittel

Das Wichtigste in Kürze
  • Die App Spritz will das Lesen beschleunigen. Dabei kombiniert sie Techniken, die in der Leseforschung schon seit Jahrzehnten angewendet werden. Sie taugen aber nicht automatisch dazu, ohne Verständniseinbußen schnelleres Lesen zu ermöglichen. Sinnvoll erscheint dagegen die Anwendung von Spritz auf sehr kleinen Displays etwa von Smartwatches und mit kurzen Texten.
  • Wie beim Laufen kann der Mensch auch beim Lesen sein Tempo in gewissen Grenzen anpassen – und wählt im Normalfall eine eher gemütliche Geschwindigkeit. Ohne Verständniseinbußen 50 bis 100 Prozent schneller zu lesen als normal, kann jeder lernen.
  • Solch eine Geschwindigkeitssteigerung setzt ein gewisses Training voraus – Schnelllese-Kurse machen deshalb durchaus Sinn. Welche Techniken tatsächlich funktionieren, muss man sich allerdings im Einzelnen anschauen.
Fixationen und Sakkaden

Grundlegend für alle Versuche, die Lesegeschwindigkeit durch spezielle Techniken zu steigern, ist das Verständnis des Lesevorgangs: Zwar hat man beim Lesen selbst vielleicht den Eindruck, die Augen kontinuierlich durch den Text zu bewegen. Allerdings ist eindeutig erwiesen, dass der Blick in Wirklichkeit kleine, schnelle Sprünge vollzieht, häufig von einem Wort zum nächsten, oft aber auch innerhalb eines Wortes oder über mehrere kurze Wörter hinweg. Die visuelle Informationsaufnahme ist dabei nur während Phasen relativer Ruhe des Auges (Fixationen) möglich, nicht aber während der schnellen Bewegungen (Sakkaden) dazwischen.

Auge

Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb

Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.

So funktioniert Spritz

Die App Spritz zerlegt einen Text in seine einzelnen Wörter und blendet diese nacheinander in schneller Abfolge in einem kleinen Fenster ein (Rapid Serial Visual Presentation). Der Blick kann also an einem Punkt verharren und muss nicht durch den Text wandern. Ein Buchstabe etwa in der Wortmitte (Optimal Recognition point) wird dabei jeweils hervorgehoben. Fokussiert man auf diese Stelle, soll das Wort besonders gut erkennbar sein. Durch dieses Verfahren soll die Lesegeschwindigkeit deutlich steigen: Während durchschnittliche Leser normalerweise etwa 250 Wörter pro Minute (wpm) schaffen, lässt sich bei Spritz die Geschwindigkeit bis auf 800 wpm hochregeln. Bei etwa 500 wpm noch mitzukommen, bereitet auch den meisten ungeübten Nutzern keine großen Schwierigkeiten. An Desktopcomputern kann man Spritz übrigens mit jeder beliebigen Website nutzen, indem man ein Bookmarklet zu den Favoriten oder Lesezeichen seines Browsers hinzufügt.

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Herr Prof. Radach: Techniken zum Schnelllesen – auch Speedreading genannt – und neuerdings die mit großem Mediengetöse vorgestellte App „Spritz“ versprechen das Lesetempo zu steigern. Kann man mit Spritz tatsächlich schneller lesen?

Ralph Radach: Ja und nein. Meiner Überzeugung nach muss man die Art der Präsentation bei Spritz und die Frage nach dem Lesetempo trennen. Die Wörter eines Textes werden bei Spritz einzeln und nacheinander jeweils an derselben Stelle eingeblendet: Die Darstellungstechnik heißt in der Leseforschung Rapid Serial Visual Presentation (RSVP): Sie wird dort seit über dreißig Jahren eingesetzt, und wie alles hat sie Vor– und Nachteile. Richtig ist nun, dass Sie mit Spritz mehr Wörter pro Minute lesen können, als sie es sonst normalerweise könnten. Nur: RSVP ist dafür nicht nötig, da riskieren sie eher, dass das Verständnis leidet.

Wenn die zugrunde liegende Technik so alt ist – was ist das Neue an Spritz?

Da ist eigentlich wenig Innovatives dran. Bewundernswert ist vor allem der Hype, den Spritz verursacht hat. Was die RSVP-​Technik angeht, gibt es eine Reihe von Apps, die schon vorher da waren. Zum Beispiel „fastr“ für Apple-​Geräte, das jedes E-​Book als RSVP darstellt – in jeder beliebigen Breite. Begrenzt man die Breite auf ein Wort, hat man fast dasselbe wie bei Spritz, mit jeder beliebigen Geschwindigkeit. Bei Spritz kommt dann als zweite Komponente hinzu, nämlich dass der so genannte „Optimal Recognition Point“ markiert wird. Tatsächlich ist es für die Schnelligkeit der Worterkennung hilfreich, wenn man nicht irgendeine Stelle, sondern eine Position in der Wortmitte oder knapp links davon mit den Augen fixiert. Das hat damit zu tun, dass die Informationsaufnahme umso einfacher erfolgt, je näher sich ein Buchstabe an der Fovea befindet, also dem Bereich des schärfsten Sehens. Auch diese Technik ist in der Wissenschaft aber schon mindestens dreißig Jahre bekannt. Was Spritz jetzt gemacht hat, ist, diese zwei „klassischen“ Ideen zusammenzubringen.

Auge

Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb

Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.

Wenn es vielleicht auch nicht neu ist – die Erklärung, dass Spritz Augenbewegungen unnötig macht und somit Zeit sparen hilft, klingt bestechend.

Tatsächlich wird im Kontext von Speedreading manchmal behauptet, dass beim Lesen viel Zeit mit Blickbewegungen verbraucht wird. Dass sich da viel einsparen ließe, ist aber schlicht falsch. Zum einen beanspruchen die Blickbewegungen nicht viel Zeit: Wir machen beim Lesen ungefähr drei bis vier Fixationen pro Sekunde, während derer das Auge mehr oder weniger auf einem Punkt ruht und Informationen aufnimmt. Die dauern im Durchschnitt jeweils etwa 200 bis 300 Millisekunden. Die Bewegungen dazwischen dauern jeweils um die 20 bis 40 Millisekunden. Pi mal Daumen sind es also zehn, höchstens 15 Prozent der Gesamtlesezeit, die mit Blickbewegungen zugebracht werden. Zum anderen ist experimentell glasklar nachgewiesen, dass die linguistische Informationsverarbeitung während der Blickbewegungen weitergeht. Die Tatsache der Bewegung an sich ergibt also überhaupt keinen zeitlichen Nachteil.

Und diese Informationsverarbeitung ist der Engpass?

Jedenfalls lässt sich nachweisen, dass das Lesen auch ganz gut funktioniert, wenn man die Fixationsdauer verkürzt. Das geht mit einer speziellen Technik: Per Infrarotkamera registriert man, auf welche Position das Auge fixiert, und lässt das entsprechende Wort beispielsweise nach 60 Millisekunden verschwinden – dann funktioniert Lesen fast ohne Beeinträchtigung. Das heißt also, man lässt sich beim Lesen mehr Zeit, als man für die visuelle Informationsaufnahme bräuchte. Die Zeit wird also für etwas anderes gebraucht, eben für die linguistische Informationsverarbeitung, also das Verstehen. Das heißt, dass es hier grundsätzlich einen Zielkonflikt gibt: Je weniger Zeit ich mir pro Wort und Satz nehme, umso mehr leidet das Verständnisniveau. Oder wie es Woody Allen auf den Punkt gebracht hat: „Ich habe einen Kurs im Schnelllesen mitgemacht und habe ‚Krieg und Frieden‘ (monumentaler vierteiliger Roman von Lew Tolstoi, Red.) in zwanzig Minuten gelesen. Es handelt von Russland.“

Auge

Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb

Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.

Sind also alle Versprechungen haltlos, die Lesegeschwindigkeit merklich zu steigern, ohne das Verständnis zu opfern? Was ist mit den Speedreading-​Kursen, wie sie viele Veranstalter anbieten, und den dort trainierten Techniken?So ein Speedreading-​Kurs, wenn er didaktisch gut gemacht ist, funktioniert durchaus. Es ist auf jeden Fall möglich, die natürliche Lesegeschwindigkeit um 50 oder 100 Prozent zu erhöhen, eventuell auch etwas mehr, ohne dass das Verständnis zusammenbricht. Wir haben das auch experimentell versucht: Wir haben Leute darin trainiert, ihre Lesegeschwindigkeit in einer Reihe von Schritten insgesamt zu verdoppeln. Das hat geklappt, ohne dass das Verständnis groß gelitten hat. Allerdings hat sich im Vergleich zweier entsprechender Gruppen gezeigt, dass man gar nicht unbedingt spezielle Techniken trainieren muss, sondern dass die Instruktion „Lies schneller!“ mit konzentriertem Üben im Prinzip schon ausreichen kann. Die Frage ist: Weshalb lesen die Leute langsamer als sie eigentlich müssten? Meine Antwort: Weil sie es können. Es ist wie beim Laufen: Wenn ich kann, laufe ich gemütlich – obwohl ich im Prinzip mein ganzes Leben auch sozusagen im Dauerlauf verbringen und damit viel Zeit sparen könnte.

Speedreading-​Techniken und –Trainings sind also sinnlos?

Da muss man differenzieren. Einerseits gibt es die Techniken, die versprechen, Tempobremsen zu lösen indem man sich etwa das Zurückspringen im Text oder das innerliche, stille Mitsprechen abgewöhnt. Diese Faktoren verlangsamen das Lesen tatsächlich. Und dann gibt es Techniken, die positiv eine Beschleunigung bewirken sollen. Sinnvoll erscheint es beispielsweise zu lernen, Wörter gruppenweise zu lesen, etwa „das schöné Bild“ auf einmal statt mit drei oder sogar mehr Fixationen aufzunehmen. Unsinn sind dagegen Übungen zur Blickspannenerweiterung. Denn die Blickspanne –die Region innerhalb der Buchstaben erkannt werden – lässt sich nicht einfach trainieren. Allerdings: Auch für die grundsätzlich sinnvollen Techniken gilt, dass ihr Nutzen für die Lesegeschwindigkeit nicht mit hohem wissenschaftlichen Standard erwiesen ist. Trotzdem: Systematisches, konzentriertes Training ist in jedem Fall nötig, wenn das Verständnis nicht leiden soll. Gut gemachte Speedreading-​Kurse sind also keinesfalls sinnlos, im Gegenteil.

Und Spritz?

Da fehlt der Trainings-​Aspekt völlig – der Nutzer ist mit der Technik allein und muss sehen, wo das Verständnis bleibt. Spritz ist eine coole App, keine Frage, aber ich sehe darin ein Nischenprodukt. Hilfreich ist es vor allem für kleine Displays – wenn man etwa auf der Armbanduhr eine SMS lesen will. Ich würde sagen: Wenn sich das auf einen Satz beschränkt, perfekt. Der Inhalt eines Satzes hat Platz im Arbeitsgedächtnis und es ist völlig realistisch, das mittels RSVP schnell anzuschauen und hinterher zu durchdenken. Aber ich warne davor, einen Roman in diesem Modus lesen zu wollen: Das ist erstens kein Vergnügen und zweitens behält man nur einen Bruchteil.

Arbeitsgedächtnis

Arbeitsgedächtnis/-/working memory

Eine Form des Kurzzeitgedächtnisses. Es beinhaltet gerade aufgenommene Informationen und die Gedanken darüber, also Gedächtnisinhalte aus dem Langzeitgedächtnis, die mit den neuen Informationen in Verbindung gebracht werden. Das Konzept beinhaltet nach Alan Baddeley eine zentrale Exekutive, eine phonologische Schleife und ein visuell-​räumliches Notizbuch.

Zum Weiterlesen:

  • Deutsche Gesellschaft für Schnell-​Lesen, URL: http://​www​.dgfsl​.de/​i​n​d​e​x​.html /​[Stand: 27.06.2014]; zur Webseite.
  • Musch, J., Rösler, P.: Schnell-​Lesen: Was ist die Grenze der menschlichen Lesegeschwindigkeit? In: Dresler, Martin (Hrsg.). Kognitive Leistungen, S. 89 – 106, Heidelberg 2011.
  • Schotter, E. et al: Don’t believe what you read (only once). Psychological Science 2014; 25(6):1218 – 1226. (zum Abstract).
  • Radach, R et al: Blickbewegungen beim Lesen, Leseentwicklung und Legasthenie. Lernen und Lernstörungen 2012; 1(3):185 – 204 (zum Text).

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