Bitte nicht vergessen: Placebo-Effekt
Für viele Medikamente kann man eine Placebo-Wirkung antrainieren: Der Patient muss dann nur noch ein Scheinmedikament nehmen. Doch der Effekt hält nicht lange an, deshalb erforschen Wissenschaftler, wie sie dabei das Vergessen verhindern können. Auch mit Blick auf Abstoßungseffekte nach Organtransplantation.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Christian Büchel
Veröffentlicht: 19.09.2014
Niveau: mittel
- Nervensystem und Immunsystem arbeiten eng zusammen. Das Gehirn bekommt mit, was die Immunzellen und die Immunsubstanzen im Körper machen. Das Gehirn kann diese Zellen sogar steuern. Die Psychoneuroimmunologie erforscht solche Prozesse.
- Bereits 1975 gab es dazu ein bahnbrechendes Experiment: Ratten konnte mit klassischer Konditionierung ein Placebo-Effekt zur Immunsuppression antrainiert werden. Das zeigte, dass das Immunsystem von Gedächtnisleistungen im Gehirn beeinflusst werden kann.
- Dieser Effekt funktioniert auch beim Menschen. So soll er für Transplantationspatienten genutzt werden, deren Immunsystem heruntergeregelt werden muss. Ein Problem dabei: Der antrainierte Placebo-Effekt kann schon nach sechs Gaben des Scheinmedikaments wieder vergessen werden.
- Forscher haben eine Methode gefunden, um das Vergessen des Placebo-Effekts zu vermindern: Sie verabreichten das Medikament in so geringer Dosis, dass es eigentlich nicht wirkt – aber als Erinnerungsreiz fungiert. Das Immunsystem wurde daraufhin heruntergeregelt wie bei der vollen Dosis des Immunsuppressivums, ergab die 2013 publizierte Studie. Bis Patienten mit diesem Ansatz behandelt werden können, müssen aber noch klinische Studien durchgeführt werden.
Die Forschung des Medizinpsychologen Manfred Schedlowski beschäftigt sich damit, wie das Gedächtnis im Gehirn das Immunsystem beeinflussen kann. Einen solchen Mechanismus sollte man nicht mit dem besser bekannten Phänomen des Immunologischen Gedächtnisses durcheinander bringen. Beim Immunologischen Gedächtnis spielt das Nervensystem – soweit bisher bekannt – kaum eine Rolle; das Erinnern findet in erster Linie innerhalb des Immunsystems statt. Das Immunologische Gedächtnis ist zum Beispiel dafür verantwortlich, dass eine Impfung funktioniert: Einem Menschen wird ein abgeschwächter oder abgetöteter Krankheitserreger verabreicht. Das Immunsystem reagiert darauf mit einer Kaskade von Entzündungsreaktionen, an deren Ende Gedächtniszellen gebildet werden. Infiziert sich der Mensch nun mit dem Krankheitserreger, bemerken das die Gedächtniszellen sehr schnell. Auf diese Weise wird die Immunantwort beschleunigt – so wird der Krankheitserreger bekämpft, noch bevor er eine Krankheit auslösen kann. Das Immunologische Gedächtnis bewirkt also, dass wir immun sind gegen Erreger, die wir schon einmal hatten oder gegen die wir geimpft wurden.
Gedächtnis
Gedächtnis/-/memory
Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.
Gedächtnis
Gedächtnis/-/memory
Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.
Patient X hat eine Niere transplantiert bekommen. Damit sein Körper das fremde Organ nicht abstößt, muss sein Immunsystem unterdrückt werden. Bisher hat er dafür ein gängiges Medikament bekommen, ein so genanntes Immunsuppressivum. Doch jetzt steigt der Patient um: Er setzt das Medikament langsam ab und trinkt eine grüné Flüssigkeit, die eklig nach Mottenkugeln schmeckt. Das komische Getränk wirkt: Das Immunsystem von Patient X bleibt unterdrückt; sein Körper stößt die fremde Niere nicht ab. Dass die grüné Mottenkugel-Flüssigkeit so präzise wirkt, erscheint wie ein Wunder, denn sie enthält keinen Wirkstoff: Das Getränk ist ein Placebo, ein Scheinpräparat.
Noch ist eine solche Behandlung ein Zukunftsszenario. Doch seit einigen Jahren arbeiten Wissenschaftler intensiv an der Frage, wie man Patienten einen Placebo-Effekt gezielt antrainieren kann. „Unsere Vision ist es, die Dosis von Medikamenten drastisch zu reduzieren und damit auch die Nebenwirkungen zu verringern – bei gleichzeitiger Maximierung der therapeutischen Effekte“, sagt Manfred Schedlowski. Der medizinische Psychologe vom Universitätsklinikum Essen forscht an dem Thema seit mehr als 20 Jahren. Das Antrainieren des Placebo-Effekts ist gar nicht so schwer – das Problem ist nur, dass der Effekt auch schnell wieder vergessen wird. Und das ist die Grundlage der Forschung von Manfred Schedlowski und seinem Kollegen Harald Engler: Wie kann dieses Vergessen verhindert werden?
Der Ausgangspunkt dieser Forschung ist nicht neu, im Gegenteil: Die Wissenschaftler nutzen die klassische Konditionierung vom Begründer des Behaviorismus, Iwan Pawlow. Dessen Versuch (Lernen durch Verknüpfen) aus dem Jahr 1905 ist weltbekannt: Eine Glocke klingelt beim Füttern eines Hundes; nach einiger Zeit fließt der Speichel des Hundes nur beim Glockenläuten, selbst wenn das Futter fehlt. Im Jahr 1975 fanden die Psychologen Robert Ader und Nicholas Cohen heraus, dass auf ähnliche Weise auch das Immunsystem beeinflusst werden kann (zum Abstract): Sie verabreichten Ratten das Immunsuppressivum Cyclophosphamid und gleichzeitig bekamen die Tiere Zuckerwasser zu trinken. Nach einiger Zeit brauchten die Ratten nur süßes Wasser zu trinken, schon wurde ihr Immunsystem so heruntergeregelt, als hätten sie das echte Medikament bekommen.
Beginn der Psychoneuroimmunologie
Damals erschien dieses Experiment beinahe wie Zauberei. Die zu dem Zeitpunkt vorherrschende Lehrmeinung war nämlich, dass das Immunsystem weitgehend autonom handelt. Doch wenn Lerneffekte die weißen Blutkörperchen und die Stoffe des Immunsystems beeinflussen können, dann heißt das auch: Das Gehirn bekommt mit, was die Immunzellen in den Adern und den Geweben des gesamten Körpers so treiben. Und nicht nur das: Es kann diese Zellen sogar steuern – so wie es etwa auch die Speicheldrüse von Pawlows Hund gesteuert hat. Mit dem Ader-Cohen-Experiment wurde ein komplett neues Forschungsgebiet eröffnet: die Psychoneuroimmonologie, also die Beschäftigung mit der Frage, wie das Nervensystem und das Immunsystem mit seinen weißen Blutkörperchen und Antikörpern kommunizieren. „Heute wissen wir, dass das Gehirn das Feintuning des Immunsystems übernimmt“, sagt Manfred Schedlowski.
Das Ader-Cohen-Experiment wurde zu einem Modell, um die Kommunikation zwischen Immunsystem und Nervensystem zu untersuchen. So fanden die Forscher etwa heraus, wie das Gehirn vom Immunstatus im Körper erfährt: Die verschiedenen Immunzellen – etwa T-Zellen, B-Zellen und Makrophagen – kommunizieren ständig untereinander mittels Botenstoffen, die sie in den Blutstrom entsenden. Viele dieser Stoffe erreichen das Gehirn nicht, denn sie können die Blut-Hirn-Schranke nicht passieren. Doch in manchen Gegenden des Gehirns fehlt diese Barriere, nämlich in einigen zirkumventrikulären Organen, etwa in der Zirbeldrüse. Dort gibt es Rezeptoren für die Immun-Botenstoffe: So erfährt das Gehirn, was die weißen Blutkörperchen gerade tun.
Und für den umgekehrten Weg: Wie kann das Nervensystem das Immunsystem beeinflussen? Hier spielt der Vagusnerv eine große Rolle: ein Hirnnerv, der auch die Milz steuert. Und die Milz wiederum spielt eine wichtige Rolle im Immunsystem. Dort reifen viele weiße Blutkörperchen heran und dort können auf ein elektrisches Signal vom Vagusnerv hin Botenstoffe wie Noradrenalin ausgeschüttet werden – und das beeinflusst die Aktivität einiger Immunzellen.
Rezeptor
Rezeptor/-/receptor
Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.
Noradrenalin
Noradrenalin/-/noradranalin
Gehört neben Dopamin und Adrenalin zu den Catecholaminen. Es wird im Nebennierenmark und in Zellen des Locus coeruleus produziert und wirkt meist anregend. Noradrenalin wird oft mit Stress in Verbindung gebracht.
Nicht alltägliche Sinneseindrücke
Solche Erkenntnisse lassen sich für die Behandlung von Kranken nutzen. Schon länger ist bekannt, dass der Trick des Ader-Cohen-Experiments auch im Menschen funktioniert. Dabei kann man allerdings als auslösenden Reiz nicht einfach wie bei den Ratten Zuckerwasser geben, denn Zucker ist in unserem normalen Leben viel zu gegenwärtig, als dass er vom Hirn als spezielles Ereignis identifiziert werden könnte. „Es müssen Sinneseindrücke sein, deren Kombination man sonst im Alltag üblicherweise nicht erlebt“, sagt Manfred Schedlowski. Seine Lösung: Eine grün eingefärbte Erdbeermilch mit Lavendelgeschmack. „Die schmeckt sehr eigenartig nach Mottenkugeln.“
Auf dieses Getränk kann man einen Menschen trainieren: Wenn man es ihm einige wenige Male zu trinken gibt und immer gleichzeitig ein Immunsuppressivum verabreicht, dann verknüpft das Gehirn die beiden Ereignisse „Heruntergeregeltes Immunsystem“ und „komisches Getränk“. Wesentlich für diese Gedächtnisleistung sind der Inselcortex und die Amygdala. Anschließend reicht allein das Mottenkugel-Getränk aus, um die Wirkung des Immunsuppressivums zu erzielen: Dann ist etwa gut messbar die Funktion der T-Zellen abgeschwächt. Dabei darf der Patient sogar wissen, dass er nur ein Scheinmedikament bekommt, denn er hat die Placebo-Wirkung während der Konditionierung unterbewusst gelernt – so ist der Erfolg unabhängig von der Erwartung des Patienten.
Amygdala
Amygdala/Corpus amygdaloideum/amygdala
Ein wichtiges Kerngebiet im Temporallappen, welches mit Emotionen in Verbindung gebracht wird: es bewertet den emotionalen Gehalt einer Situation und reagiert besonders auf Bedrohung. In diesem Zusammenhang wird sie auch durch Schmerzreize aktiviert und spielt eine wichtige Rolle in der emotionalen Bewertung sensorischer Reize. Die Amygdala – zu Deutsch Mandelkern – wird zum limbischen System gezählt.
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Zu schnelles Vergessen
Das lässt hoffen für Menschen mit transplantierten Organen – wie der zu Beginn genannte fiktive Patient X. Organtransplantierte müssen derzeit ihr Leben lang Medikamente nehmen. Würde es gelingen, ihnen stattdessen ein Scheinmedikament mit gleicher Wirkung zu geben, dann ließen sich möglicherweise Nebenwirkungen der echten Medikamente vermeiden; üblich sind zum Beispiel eine geschwächte Nierenfunktion, zudem treten gehäuft Tumore auf. Doch es gibt ein Problem mit der klassischen Konditionierung, das schon Pawlow erkannt hatte: Das einmal Erlernte, etwa das Glockenläuten als Signal fürs Essen, kann auch schnell wieder vergessen werden. Extinktion wird ein solches Tilgen von Gedächtnisleistungen genannt. Das passiert auch bei der Immunsuppression: Schon nach sechs Gaben des Scheinpräparats kann die Wirkung wieder verloren sein: Das Mottenkugel-Getränk wäre dann wieder nur das, was es für untrainierte Menschen ist – eine Flüssigkeit mit ekligem Geschmack und komischer Farbe und ohne therapeutischen Nutzen.
Extinktion
Extinktion/-/extinction
Bei der Extinktion wird ein Reiz mehrfach im selben Kontext präsentiert, bis eine Gewöhnung, d.h. eine Habituation, eingetreten ist. Vgl. auch die klassische Konditionierung. Beispielsweise lernt eine Schnecke, dass eine bestimmte Berührung nicht bedrohlich ist. Diese Desensibilisierung schlägt sich auch auf Ebene der Synapsen nieder.
Geschmack
Geschmack/-/flavor
Der Sinneseindruck, den wir als „Geschmack“ bezeichnen, ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen Geruchs– und Geschmackssinn. Sinnesphysiologisch ist „Geschmack“ jedoch auf den Eindruck begrenzt, den uns die Geschmacksrezeptoren auf der Zunge und in den umgebenden Schleimhäuten zuführen. Aktuell geht man davon aus, dass es fünf verschiedene Sorten von Geschmacksrezeptoren gibt, die auf die Geschmacksqualitäten süß, sauer, salzig, bitter und umami spezialisiert sind. 2005 haben Wissenschaftler zudem einen möglichen Geschmacksrezeptor für Fett identifiziert.
Unterschwellige Medikamentendosen zur Erinnerung
Die Extinktion – das Verlernen oder Umlernen von Verhaltensweisen – ist ein Phänomen, das immer mehr Forscher untersuchen (Umlernen lernen). „Doch die meisten wollen herausfinden, wie man die Extinktion beschleunigen kann, damit etwa Erinnerungen an Traumata verblassen“, sagt Manfred Schedlowski. „Wir dagegen wollen das Vergessen verhindern, damit die erlernte Placebo-Wirkung erhalten bleibt.“ Inzwischen ist bekannt, dass Erinnerungen, die abgerufen werden, für kurze Zeit – etwa zwei bis vier Stunden – labil werden können. „Wir müssen genau in dieser Phase verhindern, dass das Erlernte verloren geht.“ Seine Idee: In jenem Zeitfenster sollte die Erinnerung an das echte Medikament und dessen Wirkung aufgefrischt werden. Mit einer 2013 publizierten Studie konnte er zeigen, dass das gelingen kann: Zunächst wurden Versuchsteilnehmer konditioniert, indem sie viermal das Medikament in Volldosierung sowie das Mottenkugel-Getränk bekamen. Anschließend bekamen die Probanden das Placebo-Getränk und zeitgleich zehn Prozent der Medikamenten-Dosis als Erinnerungsreiz. In dieser niedrigen Konzentration zeigt das Medikament normalerweise keine Wirkung, doch zur Auffrischung der Placebo-Erinnerung reichte es: Das Immunsystem wurde über längere Zeit heruntergeregelt – und das eben mit einem Zehntel der üblichen Wirkstoffmenge.
Es wird aber noch eine Weile dauern, bis Transplantationspatienten diese Technik nutzen können, um die Dosis ihrer Immunsuppressiva drastisch zu verringern. Denn erst einmal sind umfangreiche klinische Studien nötig: Vor allem muss sichergestellt werden, dass keine so genannten Nocebo-Wirkungen auftreten, also negative Wirkungen von Placebos. „Wir vermuten aber, dass es keine Nebenwirkungen gibt, weil der Placebo-Effekt auf einem anderen Signalweg als das Immunsuppressivum wirkt“, sagt Manfred Schedlowski. So wird frühestens in ein paar Jahren ein Patient X auf das grüné Mottenkugel-Getränk umsteigen können.
Extinktion
Extinktion/-/extinction
Bei der Extinktion wird ein Reiz mehrfach im selben Kontext präsentiert, bis eine Gewöhnung, d.h. eine Habituation, eingetreten ist. Vgl. auch die klassische Konditionierung. Beispielsweise lernt eine Schnecke, dass eine bestimmte Berührung nicht bedrohlich ist. Diese Desensibilisierung schlägt sich auch auf Ebene der Synapsen nieder.
zum Weiterlesen:
- Albring A et al.: Preserving Learned Immunosuppressive Placebo Response: Perspectives for Clinical Application. In: Clinical Pharmacology & Therapeutics Volume 96(2), S. 247 – 55, 2014 (zum Abstract).
- Hadamitzky M et al.: Learned Immunosuppression: Extinction, Renewal, and the Challenge of Reconsolidation. In: Journal of Neuroimmune Pharmacology. Volume 8 (1), S. 180 – 188, 2012 (zum Abstract).