Wer ist das?
Es scheint so alltäglich: Wir sehen Freunde auf der Straße und grüßen sie erfreut. Wie aber die Gesichtserkennung im Detail funktioniert, ist noch nicht bekannt – die Forscher stehen vor immer neuen Fragen. Doch wir wissen, was geschieht, wenn sie ausfällt.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Werner Sommer, Prof. Dr. Michael Bach
Veröffentlicht: 19.09.2017
Niveau: mittel
- Bei der Erkennung von Gesichtern ist das Gehirn besonders gut. Bereits Neugeborene wenden sich bevorzugt Gesichtern zu.
- Wenn diese Fähigkeit gestört ist, spricht man von Gesichtsblindheit oder Prosopagnosie.
- Bei der Erkennung von Gesichtern ist der Gyrus fusiformis im Schläfen- und Hinterhauptslappen besonders aktiv –das ist er aber auch bei anderen Formen.
- Die genaue Verarbeitung von Gesichtern und die Art, wie wir sie unterscheiden, ist noch nicht hinreichend geklärt. Es gibt unterschiedliche Theorien.
- 1923 beschrieb der französische Psychiater Joseph Capgras erstmals den Fall einer Frau, deren Ehemann durch einen Hochstapler ersetzt worden war – wie sie meinte. Das nach dem Entdecker benannte Capgras-Syndrom ist sehr selten und als Doppelgänger werden meist nahe Verwandte bezichtigt. Die Illusion scheint nur im direkten Kontakt aufzutreten, nicht am Telefon.
- Wie der amerikanische Neurologe Vilayanur S. Ramachandran annimmt, ist bei Capgras-Patienten die Verbindung zwischen Temporallappen und emotionalen Zentren gestört, so dass trotz korrekter Gesichtserkennung keine Gefühlsregung aufkommen kann. Das lässt sich per Messung des Hautwiderstandes bestätigen, einer Methode, welche als Indikator für die die emotionale Erregung dient. In der Folge kommt es zu einer Konfabulation: Die Betroffenen können sich das Ausbleiben der emotionalen Reaktion nur erklären, indem sie im Gegenüber einen Doppelgänger vermuten.
Capgras-Syndrom
Doppelgängerillusion/-/Capgras syndrome
Wahrnehmungsstörung, in der geliebte Personen – z. B. Eltern oder Kinder – als „nicht echt“ erlebt werden. Die Patienten nehmen oft an, sie seien durch Doppelgänger oder Roboter ersetzt worden.
Manche Menschen sollte man im eigenen Interesse besser auf Anhieb erkennen: den Chef, den Partner, die Schwiegermutter. Denn nur wer weiß, wen er vor sich hat, kann sich angemessen verhalten – und damit Ärger oder Peinlichkeiten vermeiden. Diese Notwendigkeit sozialen Zusammenlebens hat sich seit Beginn der Gattung Homo kaum verändert. Immer noch leben wir in einer Art Rudel und müssen wissen, wer in der Hierarchie über oder unter uns steht. Wer uns wohl gesonnen ist und wer nicht. Wer uns bekannt ist und deshalb keine Gefahr für die Gemeinschaft bedeutet.
Wichtigstes Kennzeichen anderer Menschen ist das Gesicht mit seinen prominenten Merkmalen: dem Abstand der Augen, der Höhe der Stirn, der Form von Nase und Kinn. Die Summe dieser Merkmale ist höchst individuell. Und in ihrem Facettenreichtum stellt sie eine echte Herausforderung für Wahrnehmung und Gedächtnis dar. Trotzdem ist das Gehirn ausgesprochen gut in der Gesichtserkennung. Nur zum Vergleich: Erst allmählich lernen Fotoprogramme einen alten Schulkameraden im Bild auch nach 30 Jahren korrekt zu erkennen. Für unser Gehirn ist das eine Kleinigkeit.
Das Gesicht, ein besonderes Objekt?
Von Anfang an hat das Gehirn eine Vorliebe für Gesichter: Bereits Neugeborene wenden sich bevorzugt Gesichtern zu, selbst wenn diese nur schematisiert dargestellt sind. Stehen diese künstlichen Gesichter allerdings auf dem Kopf, werden sie ab dem Alter von fünf Monaten nicht lange beachtet. Vielleicht weil sie nicht als Gesicht erkannt werden? Säuglingen kann man diese Frage nicht stellen, Erwachsenen schon. Zeigt man ihnen Fotos von Gesichtern, Häusern und Flugzeugen – mal aufrecht, mal um 180° gedreht –, werden die Objekte stets zuverlässig erkannt. Nicht aber die Gesichter. Diesen Inversionseffekt können Sie am bekannten Thatchereffekt, dargestellt im Bild, selbst überprüfen – die meisten Menschen bemerken am gedrehten Bild selbst grobe Veränderungen nicht.
Gesichter scheinen also besondere Objekte zu sein. Das spiegelt sich im Gehirn wieder, wie als erster der Nervenarzt Joachim Bodamer erkannte. Kurz nach dem zweiten Weltkrieg beschrieb er drei schwer hirnverletzte Patienten, die weder die eigenen Angehörigen, noch sich selbst im Spiegel erkannten. Bodamer nannte diese Störung Gesichtsblindheit oder Prosopagnosie, nach den griechischen Begriffen prosopon für "Gesicht" und agnosie für "Nichterkennen". Der verstorbene Neurologe und Autor Oliver Sacks hat sie in seinem neuropsychologischen Bestseller „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“ einem breiten Publikum bekannt gemacht.
Wie wir inzwischen wissen, kann die Gesichtsblindheit medizinische, aber auch genetische Ursachen haben. So gehen der inzwischen emeritierte Ingo Kennerknecht und seine früheren Kollegen vom Institut für Humangenetik der Universität Münster davon aus, dass diese vererbbare Form sogar recht verbreitet ist: Die Forscher selbst haben sie jedenfalls bei zwei Prozent ihrer Versuchspersonen diagnostiziert.
Modul zur Gesichtserkennung
Hat die Evolution das menschliche Gehirn also mit einem Gesichtserkennungsmodul ausgestattet? Wenn eine Fähigkeit durch Krankheit oder Verletzung eines bestimmten Teils des Gehirns ausfällt, weist dies oft auf ein spezialisiertes Areal hin. Und der Gyrus fusiformis – eine Region im unteren Bereich von Schläfen- und Hinterhauptslappen – ist tatsächlich ein Hirnbereich, der bei der Betrachtung von Gesichtern besonders aktiv wird. Daher wird er als "Fusiform Face Area", kurz "FFA" bezeichnet.
Doch diese Erkenntnisse stellen Forscher vor neue Fragen. So regt sich dieses Areal nicht nur bei menschlichen Gesichtern, sondern auch beim Anblick von Vogelkopf-ähnlichen Kunstgebilden, den so genannten Greebles (siehe Bild), sofern man vorher gelernt hat, sie zu unterscheiden. Und erstaunlicherweise können auch Gesichtsblinde diese Greebles identifizieren, während sie laut weiterer Studien Probleme bei der Erkennung anderer Objekte haben – Nachbars Katze zum Beispiel. Das stärkt eine zweite Theorie, nach der das FFA ganz allgemein für die Unterscheidung sehr ähnlicher Objekte zuständig ist. Wozu eben auch Gesichter gehören.
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Wie wichtig ist Erfahrung?
Neben der Theorie der fest verdrahteten Gesichtserkennung im Gehirn gibt es eine weitere, nach der der Mensch diese Fähigkeit erwirbt. Das haben Alan Wong, Isabel Gauthier und ihre Kollegen von der Vanderbilt University untersucht: Sie baten zwei Gruppen von Versuchspersonen, sich andere Kunstfiguren, die Ziggerins, einzuprägen. Die eine Gruppe schuf sich als Merkhilfe Kategorien entsprechend der Form. Die andere gab den Ziggerins individuelle Namen. Beide Methoden führten im Erinnerungstest zu ähnlich guten Ergebnissen, doch nur wenn das Ding einen Namen bekam, wurde es ähnlich wie ein Gesicht verarbeitet.
Diese Erkenntnis stellt die Exklusivität von Gesichtern im Gegensatz zu anderen Objekten in Frage: Sind wir vielleicht nur deshalb Experten der Gesichtserkennung, weil wir diese Fähigkeit permanent trainieren? Das vermutet neben Wong und Kollegen auch Maximilian Riesenhuber von der Georgetown University. Als Beleg nennt er den Inversionseffekt jenseits von Gesichtern: Auch Experten für Autos, Hunde oder Schmetterlinge fällt es schwer, ihre bevorzugten Objekte korrekt zu identifizieren, sobald das entsprechende Bild um 180° gedreht ist.
Riesenhuber vermutet, dass bei der Gesichtserkennung nicht etwa einzelne Merkmale wie Nasenlänge und Augenpartie ineinander verrechnet werden. Vielmehr konzentrieren sich die Neurone im FFA auf die Gesamtgestalt des Gesichts und rechnen dann erst die Unterschiede heraus. Doch auch dieses Modell hat Kritiker. Der populärste ist vermutlich Christoph von der Malsburg vom Frankfurt Institute for Advanced Studies. Er weist auf unsere Fähigkeit hin, Gesichter auch bei unterschiedlicher Beleuchtung und Perspektive zu erkennen. Dazu brauche es hochkomplexe Modelle und einen enormen Aufwand, den er in der Studie von Riesenhuber nicht erfasst sieht. Wie die Gesichtserkennung also tatsächlich funktioniert, ist nach wie vor nicht beantwortet.
Parallelverarbeitung
Doch wie auch immer sie im Detail vonstattengeht, die Gesichtserkennung wäre unvollständig, führte sie nicht zu einem entsprechenden Verhalten. Dazu entwickelten die Psychologen Haydn Ellis († 2006) und Michael Lewis von der Cardiff University ein inzwischen recht bekanntes Modell der Objekterkennung. Als dessen Grundlage vermuten sie einen Zusammenhang zwischen der Gesichtsblindheit und dem Capgras-Syndrom (siehe Info-Box). Nach ihrer Vorstellung wird bei der Verarbeitung visueller Reize im Gehirn zunächst zwischen Gesichtern und anderen Objekten unterschieden. Im zweiten Schritt beginnt die Gesichtserkennung, während parallel dazu der Gesichtsausdruck analysiert wird. Ein System im Gehirn stellt also die Identität der Person fest und liefert die dazugehörigen Daten. Ein anderes sorgt zeitgleich für eine emotionale Reaktion auf diese Person. Bei der Prosopagnosie ist das erste System gestört, beim Capgras-Syndrom das zweite.
All das zeigt nur einmal mehr, wie komplex die Prozesse in unserem Gehirn tatsächlich sind, während wir uns einfach nur freuen, wenn wir Freunde sehen.
Capgras-Syndrom
Doppelgängerillusion/-/Capgras syndrome
Wahrnehmungsstörung, in der geliebte Personen – z. B. Eltern oder Kinder – als „nicht echt“ erlebt werden. Die Patienten nehmen oft an, sie seien durch Doppelgänger oder Roboter ersetzt worden.
zum Weiterlesen:
- Wong, A., et al.: Beyond Shape: How You Learn about Objects Affects How They Are Represented in Visual Cortex. PLOS one. 2009; 4(12):e8405 (zum Text).
- Hereditäre Prosopagnosie; URL: http://www.prosopagnosia.de/; zur Webseite.
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
Veröffentlichung: am 03.11.2010
Aktualisierung: am 19.09.2017

