Immer in Bewegung
Evolutionär betrachtet ist das Bewegungssehen eine unserer wichtigsten Fähigkeiten – die Menschen hätten sich kaum so erfolgreich auf der Erde verbreitet, wenn sie bewegte Objekte nicht wahrnehmen könnten. Eine integrative Glanzleistung des Gehirns.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Uwe Ilg
Veröffentlicht: 13.01.2017
Niveau: mittel
- Bewegung wird vom visuellen System auf zwei Arten analysiert: Bei retinaler Bewegung reizt das Objekt nacheinander benachbarte Rezeptoren der Retina, bei der Augenbewegung bleibt das Objekt an derselben Stelle der Retina, weil sich der Kopf des Betrachtenden mitbewegt.
- Die Verarbeitung erfolgt über die so genannte Wo-Bahn der visuellen Wahrnehmung, konkret geht es über den seitlichen Kniehöcker (CGL) und über die Areale V1 und V2 zum posterioren Parietalkortex.
- Im primären visuellen Cortex V1 sind viele Nervenzellen auf richtungsspezifische Reize spezialisiert, in anderen Bereichen der Wo-Bahn gibt es auch geschwindigkeitssensitive Nervenzellen.
- Viele räumliche Informationen werden auch erlernt, etwa dass nähere Gegenstände größer erscheinen als solche, die weiter weg sind.
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
Eine Bewegung im Augenwinkel – und wir reagieren sofort und wenden den Kopf. Beides, Wahrnehmung und Reaktion, sind tief in uns verankert und der Auslöser bekommt sofortige Aufmerksamkeit. Der Grund liegt auf der Hand: Wilde Tiere, die sich nähern, oder fallende Gegenstände – von bewegten Objekten kann immer Gefahr ausgehen. Deshalb ist es seit jeher überlebenswichtig, dass Menschen Bewegungen wahrnehmen können. Und einige Tiere – zum Beispiel Frösche – sehen Objekte tatsächlich erst, wenn sie sich bewegen. Es verwundert daher nicht, dass diese besondere Art von Wahrnehmung auch innerhalb des Sehsystems einen großen Teilbereich einnimmt.
Der Pfad zur Verarbeitung von Bewegung beginnt bereits mit den M-Ganglienzellen – das M steht für magno – der Retina. Am anderen Ende der Sehbahn, im visuellen Cortex, sind bewegungsspezifische Neurone sogar der häufigste Zelltyp. Und schon ab einer Winkelgeschwindigkeit von etwa 0,2 Grad pro Sekunde kann der Mensch Bewegungen sehen. Das entspricht etwa einem Motor, der über 30 Minuten für eine einzige Umdrehung benötigt.
Das visuelle System analysiert Bewegung auf zwei Arten: Man spricht von retinaler Bewegung, wenn dasselbe Objekt nacheinander benachbarte Rezeptoren auf der Netzhaut erregt. Beim Augenbewegungssystem bleibt das Objekt auf der Retina an der gleichen Stelle, während die Augen oder der ganze Kopf ihm folgen. In diesem Fall werden beide Bewegungen – die eigene und die des Objekts – gegeneinander verrechnet, wozu auch die Kommandos an die sechs Augenmuskeln mit einbezogen werden. Von der Retina gelangen die Impulse zum Corpus geniculatum laterale, wo sie die magnozelluläre Verarbeitungsbahn über die Areale V1 und V2 zum posterioren Parietalkortex weiterleitet. Genauer: Die Impulse gelangen dort zu den Regionen MT, das heißt mediotemporaler Cortex, eine Region, die auch als V5 bezeichnet wird, und MST, also dem medio-superior temporalen Areal – die so genannte Wo-Bahn der visuellen Wahrnehmung.
Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit/-/attention
Aufmerksamkeit dient uns als Werkzeug, innere und äußere Reize bewusst wahrzunehmen. Dies gelingt uns, indem wir unsere mentalen Ressourcen auf eine begrenzte Anzahl von Reizen bzw. Informationen konzentrieren. Während manche Stimuli automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können wir andere kontrolliert auswählen. Unbewusst verarbeitet das Gehirn immer auch Reize, die gerade nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen.
Wählerische Neurone
Im primären visuellen Cortex V1 sind viele Nervenzellen, so genannte komplexe Zellen, auf richtungsspezifische Reize spezialisiert. Und zwar auf ganz bestimmte: Nur wenn der Reiz ihrer bevorzugten Richtung entspricht — zum Beispiel von rechts oben nach links unten, feuern diese Nervenzellen in voller Stärke. Bei anders gerichteten Reizen reagieren sie nicht. Alle möglichen Richtungen von einem bis 360 Grad sind durch solche Neurone repräsentiert.
Die Weiterverarbeitung entlang der Wo-Bahn erfolgt nun in MT und MST, wo richtungs– und geschwindigkeitssensitive Zellen die Mehrheit bilden. Im MT liegt ihre Zahl bei fast 100 Prozent. Neurone, die die gleiche Bewegungsrichtung bevorzugen, bilden hier Säulen. Sie reagieren stark auf kohärente und fließende Bewegung der Umgebung, wie zum Beispiel in einem schnellen Auto oder im Flugzeug. Das bedeutet auch: Wird die MT-Region zerstört, verlieren die Betroffenen die Fähigkeit, Bewegungsrichtungen zu unterscheiden und bewegten Reizen kontinuierlich mit den Augen zu folgen.
Der Neurobiologe Semir Zeki vom University College London beschrieb dazu den Fall der Patientin L.M., die „Schwierigkeiten hatte, sich eine Tasse Tee oder Kaffee einzugießen, weil die Flüssigkeit ihr wie gefroren erschien“. Diese Bewegungsblindheit, diese Akinetopsie, wie Zeki sie bezeichnete, machte es L.M. auch unmöglich, über eine Straße zu gehen: „Wenn ich das Auto erstmals anschaue, scheint es weit weg. Aber dann, wenn ich die Straße überqueren will, ist es plötzlich ganz nah.“ Auch mit zunehmendem Alter können Menschen häufig schlechter zwischen Richtungen unterscheiden.
Cortex
Großhirnrinde/Cortex cerebri/cerebral cortex
Cortex bezeichnet eine Ansammlung von Neuronen, typischerweise in Form einer dünnen Oberfläche. Meist ist allerdings der Cortex cerebri gemeint, die äußerste Schicht des Großhirns. Sie ist 2,5 mm bis 5 mm dick und reich an Nervenzellen. Die Großhirnrinde ist stark gefaltet, vergleichbar einem Taschentuch in einem Becher. So entstehen zahlreiche Windungen (Gyri), Spalten (Fissurae) und Furchen (Sulci). Ausgefaltet beträgt die Oberfläche des Cortex ca 1.800 cm2.
Empfohlene Artikel
Eine Sache der Interpretation
Um die komplexen Eindrücke, die das Auge liefert, richtig zu interpretieren, benötigt das Gehirn häufig auch den Input anderer sensorischer Systeme wie Hör– und Tastsinn. Schließlich ist es nicht immer ganz leicht zu entscheiden, ob sich ein Ding in der Umgebung oder der Mensch selbst bewegt. So verrechnet das Gehirn beispielsweise von vornherein die Augenbewegungen und die Bewegungsreize aus der Retina miteinander, um ein richtiges Wahrnehmungsergebnis zu erhalten. Dies nennt man das Reafferenzprinzip.
Darüber hinaus spielen auch Erfahrung und Lernen eine Rolle: Wir wissen, dass wir uns offenbar selbst bewegen, wenn wir „wandernde“ Gebäude oder Bäume wahrnehmen, da diese sich normalerweise niemals vom Fleck rühren. Bei einem Zug ist die Zuordnung nicht so klar, weshalb oft eine Scheinbewegung empfunden wird, wenn die Waggons auf dem Nachbargleis losfahren. Das geschieht sehr langsam. Zu langsam für die Bewegungssensoren im Innenohr, und so muss sich das Gehirn allein auf visuelle Reize verlassen. Dabei entsteht oft das Gefühl, es wäre unser Zug, der abfährt. Auch eine schnelle Abfolge stehender Bilder im Bereich von 60 bis 200 Millisekunden empfindet das Gehirn als Scheinbewegung – darauf beruhen Fernsehen und Kino.
Auge
Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb
Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.
Bewegung sorgt für Tiefenschärfe – und für Illusionen
Die Informationen zu Bewegung und Geschwindigkeit nutzt das Gehirn auch für die räumliche Wahrnehmung. Ein Beispiel dafür ist die so genannte Bewegungsparallaxe: Aus dem Seitenfenster eines fahrenden Zuges betrachtet bewegen sich Gegenstände in der Nähe viel schneller als solche, die weiter weg sind. Zum Horizont hin geht die wahrgenommene Bewegung gegen Null.
Die Konzentration auf bewegte Gegenstände kann aber auch zu unerwünschten Effekten führen: Wer lange auf einen Wasserfall oder Fluss blickt und danach auf ein anderes Objekt, dem scheint sich dieses in die entgegen gesetzte Richtung zu bewegen und dabei zu verflüssigen. Die Wasserfalltäuschung ist — analog zu Nachbildern – offenbar auf Ermüdung der Rezeptoren zurückzuführen, welche auf die Bewegungsrichtung des Wassers reagieren. Die Aktivität der entsprechenden Neurone fällt dann kurzfristig unter das Niveau, mit dem sie auch ungereizt feuern. Die benachbarten, für die Gegenrichtung spezialisierten Zellen bleiben unterdessen weiter bei ihrer Spontanaktivität, welche dann kurzfristig die Feuerrate der eigentlich zuständigen Zellen übersteigt. Dadurch entsteht der Eindruck einer gegenläufigen Bewegung. Der Effekt der Wasserfalltäuschung wurde bereits vor über 2300 Jahren von Aristoteles beschrieben.
Doch trotz aller Anfälligkeit für Täuschungen hat sich die menschliche Verarbeitung von Bewegung bewährt – auch wenn die Gefahr heute weniger von wilden Tieren, als vielmehr von fahrenden Autos ausgeht.
Veröffentlichung: am 03.11.2010
Aktualisierung: am 13.01.2017