Frage an das Gehirn
Funktionsstörungen anhand von Neurotranmittern erkennen – geht das?
Veröffentlicht: 12.04.2020
Geraten Neurotransmittersysteme aus dem Gleichgewicht, können Denk- und Konzentratsionsstörungen die Folge sein. Aber kann man diese auch durch Messen von Neurotransmittern diagnostizieren?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Antwort von Frank Faltraco, Leitender Oberarzt in der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie an der Universitätsmedizin Rostock: Die kurze Antwort auf diese Frage ist – jedenfalls bislang – nein! In der Klinik ist so etwas noch nicht möglich. Man kann die Konzentration von Neurotransmittern zwar in Tierversuchen mit elektrischen oder chemischen Sonden direkt im Gehirn messen, aber das überleben die Tiere meistens leider nicht.
Weniger invasiv lässt sich immerhin die Dichte von Transportermolekülen und Rezeptormolekülen ermitteln, die mit Neurotransmittern wie Dopamin interagieren. Das funktioniert mit bildgebenden Verfahren, der Positronen-Emissions-Tomographie (PET) oder der Single Photon Emissions Computertomographie (SPECT), bei der schwach radioaktiv markierte Substanzen verabreicht werden, die an dieselben Moleküle andocken wie der Neurotransmitter. Die räumliche und zeitliche Verteilung dieser Substanzen lässt sich in der Bildgebung sichtbar machen und kann sogar indirekt Aufschluss darüber geben, wo gerade Neurotransmitter mit den Transportern und Rezeptoren interagieren. Das ist aber nicht das gleiche wie eine direkte Messung von Neurotransmittern im Gehirn!
Für die Zukunft ist dennoch vorstellbar, dass man solche Verfahren auch einsetzen könnte, um Denk- und Konzentrationsstörungen zu diagnostizieren. Es gibt schon erste Studien dazu, zum Beispiel zur Untersuchung des Neurotransmitters Noradrenalin bei ADHS. Auch an der Entwicklung minimalinvasiver elektrochemischer Sonden, die in das menschliche Gehirn eingeführt werden, um Neurotransmitter direkt vor Ort zu messen, wird gearbeitet, aber derzeit ist das von einer klinischen Anwendung noch weit entfernt.
Angebote im Internet, die damit werben, die „Gehirnchemie“ mithilfe von Blut- und Urinproben direkt messen zu können, sind zumeist nichtausreichend wissenschaftlich validiert. Wenn man genau nachliest, werden Vorstufen oder Abbauprodukte von Neurotransmittern im Körper gemessen und nicht die Konzentration der Botenstoffe selbst im Gehirn. Da gibt es höchstens einen indirekten Zusammenhang.
Man darf auch nicht vergessen, dass die Neurotransmitterkonzentration nur eine Facette von psychischen und neurologischen Erkrankungen ist. So wissen wir etwa aus Tierversuchen, dass die Neurotransmitterkonzentration im Gehirn nach Gabe von Medikamenten gegen Depression schnell steigt. Bis eine positive Wirkung auf das Gemüt einsetzt, vergehen aber mehrere Wochen, also müssen auch noch andere Mechanismen eine Rolle spielen. Es kommt eher auf die Funktion komplexer Kaskaden an, als nur auf die Neurotransmitterkonzentration.
Für eine seriöse klinische Diagnostik von Denk- und Konzentrationsstörungen bleibt es vorerst bei den klassischen Verfahren. Wir verwenden psychologische Fragebögen, manchmal auch Bildgebung von Gehirn, und schließen organische Ursachen, die auch für die beobachteten Symptome verantwortlich sein könnten, aus. Erst wenn dann etwas übrig bleibt, kann man bei der Diagnose einer psychischen Störung ankommen.
Aufgezeichnet von Nora Schulz