Question to the brain
Gibt es Menschen, die bewegte Bilder hören können?
Published: 20.12.2012
Manche Menschen können Zahlen farbig sehen oder Töné schmecken. Man nennt das Phänomen Synästhesie. Unsere Leserin hat selbst überrascht festgestellt, dass sie schwarze Linien auf weißem Grund, die sich bewegen, als Geräusche wahrnimmt!
The editor's reply is:
Prof. Peter Weiss-Blankenhorn, Universitätsklinik Köln und Forschungszentrum Jülich:
Diese Form der Synästhesie gibt es tatsächlich. Sie wurde 2008 in einer Arbeit von Melissa Saenz und Christof Koch beschrieben. Die beiden haben vier Personen untersucht, die Geräusche hörten, wenn sie bewegte Muster sahen oder – wie im Experiment – rhythmische visuelle Muster, also eine Abfolge von kürzeren und längeren Lichtblitzen, ähnlich wie Morsezeichen. Die vier hörten dabei Geräusche, die sie als Piepsen, Klopfen oder Scharren beschrieben.
Ziel des Versuchs war, durch einen objektiven Test zu beweisen, dass diese Menschen tatsächlich synästhetisch begabt sind und das nicht nur behaupten. Wie macht ein guter Wissenschaftler das? Er muss eine Versuchsanordnung finden, bei der Synästhetiker entweder besser oder schlechter abschneiden als Menschen, die keine Synästhesie haben. Saenz und Koch ließen ihre Probanden akustische und visuelle Rhythmen vergleichen, die sich ähnelten. Sie mussten sagen, ob jeweils zwei Sequenzen, die sie hörten oder sahen, gleich oder ungleich waren. Und bei diesem Test schnitten die vier Synästhetiker im visuellen Test tatsächlich viel besser ab als die Personen ohne Synästhesie. Die Töné, die sie zusätzlich zu den optischen Reizen hörten, erleichterten ihnen die Unterscheidung der Rhythmen. Es ist ja bekannt, dass Menschen Rhythmen besser hören als sehen können. Das Ohr ist darauf spezialisiert, winzige Zeitdifferenzen wahrzunehmen, zum Beispiel um eine Schallquelle zu orten.
Man weiß also, dass es diese Synästhesie gibt, aber nicht, wie häufig sie ist. Denn, soweit ich weiß, gibt es nicht mehr als diese eine Forschungsarbeit dazu. Es ist sicher eine seltene Form der Synästhesie. Die häufigste ist die „Graphem-Farb-Synästhesie“, mit der sich auch unsere Forschungsgruppe beschäftigt. Bei diesen Synästhetikern lösen Grapheme – das heißt Zeichen oder Ziffern – alleine oder auch in Wörtern und Zahlen einen Farbeindruck aus: Die Sieben ist zum Beispiel immer gelb. Analog müsste man die hier beschriebene Synästhesie „visuelle Muster-Hör-Synästhesie“ nennen oder „visuell induzierte Ton-Synästhesie“. Es hat sich aber noch kein Name etabliert.
Synästhesie ist erblich, und die Frage, ob die Gene, die dafür verantwortlich sind, einen evolutionären Vorteil bringen, wird immer wieder diskutiert. Wenn man ein bewegtes Objekt, etwa einen vorbeifliegenden Vogel, nicht nur sieht, sondern auch hört, könnte das natürlich nützlich sein. Es gibt aber bisher keine Hinweise darauf, dass Synästhetiker sich erfolgreicher fortpflanzen als andere Menschen. Meine Meinung dazu: Es sind Varianten der Wahrnehmung, die zumindest nicht schaden. Schon deshalb könnten sie durch Zufall erhalten bleiben.
Aufgezeichnet von Judith Rauch
Mehr dazu:
Milde Musik und zickige Zahlen
Synästhesieforum (zur Webseite)
Synästhesie
Synästhesie/-/synesthesia
Synästhesie ist Verknüpfung zweier oder mehrerer Sinneswahrnehmungen zu einer subjektiven Empfindung. Bei Synästhetikern wird beispielsweise die Zahl sieben stets mit rot in Verbindung gebracht. Synästhesien scheinen eine erbliche Komponente zu haben, sie treten jedoch auch krankheitsbedingt (z.B. Schizophrenie) oder drogeninduziert (beispielsweise durch Halluzinogene) auf.
Ohr
Ohr/Auris/ear
Das Ohr ist nicht nur das Organ des Hörens, sondern auch des Gleichgewichts. Unterschieden werden das äußere Ohr mit Ohrmuschel und äußerem Gehörgang, das Mittelohr mit Trommelfell und den Gehörknöchelchen sowie das eigentliche Hör– und Gleichgewichtsorgan, das Innenohr mit der Gehörschnecke (Cochlea) und den Bogengängen.