Frage an das Gehirn

Wann entscheidet die Masse besser als der Einzelne?

Fragesteller/in: Thomas St. per E-Mail

Veröffentlicht: 24.05.2013

Man hört so viel von Schwarmintelligenz. Aber ich bin skeptisch: Können viele Laien besser urteilen als ein Experte?

Die Antwort der Redaktion lautet:

Stefan Krause, Professor für Informatik an der FH Lübeck:

Schwarmintelligenz zur Lösung eines Problems ist grundsätzlich immer dann besonders geeignet, wenn niemand mit Sicherheit die richtige Antwort wissen kann, jeder aber eine ungefähre Vorstellung von der Lösung hat. Wenn es beispielsweise darum geht, den Erfolg einer Wahl oder eines neuen Produktes einzuschätzen. Ein Gegenbeispiel wäre etwa, die Stabilität einer Brücke einzuschätzen. Hier sind Expertenwissen und die Berechnungen eines Statikers gefragt.

Damit Schwarmintelligenz erfolgreich ist, muss eine Reihe von Bedingungen erfüllt sein. Niemand muss zwar als Einzelner die richtige Antwort wissen. Sie entsteht ja erst aus dem Gesamtbild, das sich ergibt. Jedoch müssen die Fehler der Einzelnen durch Ungenauigkeit und nicht durch eine systematisch falsche Vorstellung entstehen. Das Problem muss also entweder dem gesunden Menschenverstand zugänglich sein, oder die Mitglieder der Gruppe müssen Vorwissen besitzen, damit sie keinen systematischen Fehler begehen.

In einem unserer Experimente haben wir Tausende von Menschen schätzen lassen, wie viele Murmeln sich in einem großen Glas befanden. Bei dieser Aufgabe konnte jeder Einzelne eine vernünftige Antwort geben, fast kaum einer lieferte aber die richtige Antwort. Der Durchschnitt der Antworten allerdings kam dem tatsächlichen Ergebnis von 562 erstaunlich nahe. Bei einer Einschätzung einer mathematischen Wahrscheinlichkeit funktionierte die Schwarmintelligenz hingegen nicht. Hier unterliefen den Freiwilligen systematische Fehler. In so einem Fall bedarf es eines Experten mit Kenntnissen der Wahrscheinlichkeitsrechnung.

Damit Schwarmintelligenz funktioniert, müssen zudem die einzelnen Meinungen der Gruppenmitglieder relativ vielfältig und unabhängig sein. Ansonsten besteht nämlich die Gefahr, dass alle in der Gruppe mit einer ähnlichen Methode an ein Problem herangehen und damit alle denselben Fehler machen. Umgekehrt kann man auch kleinen systematischen Fehlern vorbeugen, indem einzelne Mitglieder in der Gruppe mit einer ganz anderen Herangehensweise als Korrektiv dienen.

Letztlich entfaltet sich Schwarmintelligenz so richtig, wenn sich die Meinungen, Herangehensweisen und Ansätze durchmischen. Schwarmintelligenz beim Menschen ist daher selten in Reinheit zu beobachten. Denn Menschen neigen dazu, sich abzusprechen und einen Konsens zu bilden. Alternative, vermeintlich verrückte Ansätze ignorieren sie gerne.

Von der Art des Problems hängt es dabei ab, wie groß die Gruppe sein muss. Zwar steigt die Meinungsvielfalt in einer größeren Gruppe – und Vielfalt ist für Schwarmintelligenz eben wichtig. Lässt sich ein Problem jedoch nur durch Diskussion lösen, muss die Gruppe wiederum „klein“ genug sein, um eine sinnvolle Diskussion zu ermöglichen, bei der nicht nur wenige wortstarke Meinungsführer die Gruppe beeinflussen. Wie bereits erwähnt, dürfen sich die Mitglieder untereinander nicht zu stark beeinflussen, sonst hat am Ende jeder die gleiche Meinung und das Potenzial der Gruppe wird nicht ausgeschöpft. Tiere haben es hier gewissermaßen einfacher: Zugvögel beispielsweise haben vielleicht jeder für sich eine unterschiedliche Vorstellung davon, wie man nach Afrika kommt, pendeln sich aber in der Gruppe auf einen „mittleren“ Kurs ein, ohne die anderen direkt zu überreden.

Ein letzter Punkt ist noch wichtig: die Menschen in einer Gruppe müssen auch das gemeinsame Ziel erreichen wollen. Sie müssen ein gemeinsames Interesse haben.

Aufgezeichnet von Christian Wolf

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