Frage an das Gehirn
Warum lieben wir Musik?
Veröffentlicht: 18.07.2015
Mich würde interessieren, warum wir Menschen überhaupt so eine Affinität zur Musik haben? Ob es einen evolutionsbiologischen Ursprung gibt?
Die Antwort der Redaktion lautet:
Tecumseh Fitch, Department für Kognitionspsychologie, Universität Wien: Die Frage nimmt schon an, dass unsere Liebe zur Musik evolutionär entstanden sein muss. Aber da muss ich sagen: Wir wissen es nicht. Was es gibt, sind verschiedene Hypothesen.
Die älteste Hypothese besagt, dass sich Musik durch sexuelle Selektion entwickelt haben könnte. Der Zweck wäre dann gewesen, das andere Geschlecht zu beeindrucken und Mitglieder des eigenen zu verscheuchen – auch eine Form des Beeindruckens. Dann hätte menschlicher Gesang eine ganz ähnliche Funktion wie der von Vögeln. Schon Darwin hat diese Idee ausgearbeitet. Aber die Indizien dafür sind gar nicht so zahlreich.
Heutzutage ist die Vorstellung verbreiteter, dass Musik dem Gruppenzusammenhalt dient. Es gibt einige Hinweise darauf, dass sie hilft, Bindungen in der Gruppe zu stärken und besser zusammenzuarbeiten. Diese Denkrichtung geht auf Forscher wie Robin Dunbar oder Ian Cross zurück und ist heute eine der führenden Hypothesen.
Alternativ könnte Musik der Eltern-Kind-Interaktion dienen. Unsere Liebe zur Musik als Erwachsene wäre dann ein Überbleibsel der Kommunikation zwischen Mutter und Baby. Ich sehe darauf starke Hinweise. Mütter auf der ganzen Welt singen ihren Kindern vor. Wiegenlieder helfen den Babys einzuschlafen und Spiellieder halten sie wach. Viele Daten dazu hat Sandra Trehub gesammelt; Dean Falk ist eine der prominentesten Vertreterinnen dieser Idee.
Und dann gibt es noch die Überlegung, dass Musik vielleicht gar keine eigene Anpassung darstellt, sondern nur die für andere Zwecke vorhandenen Schaltkreise im Gehirn nutzt. Dafür stehen vor allem Steven Pinker und in letzter Zeit Aniruddh Patel. „Auditorischen Käsekuchen“ nennt Pinker die Musik: Wir verlangen nicht evolutionsbedingt nach Käsekuchen, sondern nach dem enthaltenen Fett und Zucker. Und so sei es auch nicht die Musik, die evolvierte, sondern ihre Komponenten. Tonhöhen zu unterscheiden hilft etwa dabei, das Geschlecht eines Gegenübers zu erkennen. Und die Fähigkeit, komplexen Strukturen zu folgen, brauchen wir auch für die Sprache.
Keine dieser Hypothesen ist schon eine vollständige Antwort auf die Frage, was uns zur Musik hinzieht. Aber sie führen alle zu unterschiedlichen Antworten, machen unterschiedliche Vorhersagen über die Entwicklung dieser Vorliebe. Ausführlicher habe ich das 2006 in einem Review dargelegt.
Und vielleicht müssen wir uns einfach daran gewöhnen, dass die Wissenschaft nicht immer alle Antworten schon parat hat.