Ein abwechslungsreiches Leben fördert die Netzwerke des Gehirns
Dass Erfahrungen ihre Spuren in den Schaltkreisen des Gehirns hinterlassen, ist zwar schon länger bekannt, aber eine wegweisende Studie aus Dresden zeigt nun – am Beispiel von Mäusen – wie massiv diese Effekte tatsächlich sind. Die Befunde von Forschenden des DZNE und der Technischen Universität Dresden geben ungeahnte Einblicke in die Komplexität von neuronalen Netzwerken und die Anpassungsfähigkeit des Gehirns. Sie könnten darüber hinaus den Weg für neue Methoden der künstlichen Intelligenz bereiten. Die Ergebnisse, die auf innovativer Messtechnik beruhen, sind in der Fachzeitschrift „Biosensors and Bioelectronics“ veröffentlicht.
Veröffentlicht: 11.07.2023
Die Dresdner Wissenschaftler gingen der Frage nach, wie sich das Leben in einer reichhaltigen Erfahrungswelt auf die Schaltkreise des Gehirns auswirkt. Dazu nutzten sie einen sogenannten Neurochip, um mit mehr als 4.000 Elektroden die elektrische Aktivität von Hirnzellen zu messen. Das „Feuern“ Tausender Neurone konnte so gleichzeitig registriert werden. Das untersuchte Areal – viel kleiner als ein menschlicher Fingernagel – umfasste den gesamten Hippocampus einer Maus. Diese Hirnstruktur, die auch beim Menschen vorkommt, spielt für das Lernen und das Gedächtnis eine entscheidende Rolle. Bei Alzheimer und anderen Demenzerkrankungen wird sie stark beschädigt. Für ihre Studie verglichen die Forscher das Hirngewebe von Mäusen, die unterschiedlich aufgewachsen waren: Eine Gruppe lebte in Standardbehausungen ohne besondere Anreize, die anderen Tiere waren in einem sogenannten Enriched Environment, also in einer „angereicherten Umgebung“, untergebracht: Diese beinhaltete veränderbare Spielzeuge und ein Labyrinth aus Plastikröhren.
„Die Ergebnisse haben unsere Erwartungen bei weitem übertroffen“, sagt Studienleiter Dr. Hayder Amin. Der Experte für Neuroelektronik und „Computational Neuroscience“ führt am DZNE eine Forschungsgruppe und entwickelte gemeinsam mit seinem Team die Technologie und Analysewerkzeuge, die in der aktuellen Studie zum Einsatz kamen. „Vereinfacht kann man sagen, dass die Nervenzellen von Mäusen aus der reizvollen Umgebung viel stärker miteinander verknüpft waren als die von Mäusen, die in Standardhaltung aufwuchsen. Unabhängig davon, welchen Parameter wir uns angeschaut haben, hat eine reichere Erfahrungswelt die Verbindungen in den neuronalen Netzen buchstäblich verstärkt. Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass ein aktives und abwechslungsreiches Leben das Gehirn auf ganz neue Grundlagen stellt.“
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Hippocampus
Hippocampus/Hippocampus/hippocampual formatio
Der Hippocampus ist der größte Teil des Archicortex und ein Areal im Temporallappen. Er ist zudem ein wichtiger Teil des limbischen Systems. Funktional ist er an Gedächtnisprozessen, aber auch an räumlicher Orientierung beteiligt. Er umfasst das Subiculum, den Gyrus dentatus und das Ammonshorn mit seinen vier Feldern CA1-CA4.
Veränderungen in der Struktur des Hippocampus durch Stress werden mit Schmerzchronifizierung in Zusammenhang gebracht. Der Hippocampus spielt auch eine wichtige Rolle bei der Verstärkung von Schmerz durch Angst.
Gedächtnis
Gedächtnis/-/memory
Gedächtnis ist ein Oberbegriff für alle Arten von Informationsspeicherung im Organismus. Dazu gehören neben dem reinen Behalten auch die Aufnahme der Information, deren Ordnung und der Abruf.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Neue Einblicke in Netzwerke des Gehirns
Prof. Gerd Kempermann, der die aktuelle Studie mit leitete und der am DZNE und am Zentrum für Regenerative Therapien Dresden (CRTD) der TU Dresden forscht, stimmt zu. Der Neurowissenschaftler befasst sich schon länger mit der Frage, wie körperliche und geistige Aktivität dem Gehirn helfen, sich gegen das Altern und neurodegenerative Erkrankungen zu wappnen: „Alles, was wir aus diesem Bereich bislang wussten, stammt entweder aus Studien mit Einzel-Elektroden oder von bildgebenden Methoden wie der Magnetresonanztomographie. Die räumliche und zeitliche Auflösung dieser Verfahren ist viel gröber als unser Ansatz. Wir können die Schaltkreise im wahrsten Sinne des Wortes bis auf die Ebene der einzelnen Zellen beim Arbeiten beobachten. Aus unseren Messdaten haben wir eine riesige Menge an Details über die Netzwerkdynamik in Raum und Zeit extrahieren können. Dafür haben wir modernste computergestützte Hilfsmittel eingesetzt.“
„Wir haben eine Fülle von Daten ermittelt, die den Nutzen eines durch reiche Erfahrungen geprägten Gehirns verdeutlichen. Dies ebnet den Weg zum Verständnis der Rolle sogenannter Neuroplastizität und Reservebildung bei der Bekämpfung neurodegenerativer Erkrankungen. Das gilt insbesondere im Hinblick auf neuartige Präventionsstrategien“, so Kempermann weiter. „Außerdem wird dies Einblicke in Krankheitsprozesse ermöglichen, die mit Neurodegeneration einhergehen. Das betrifft zum Beispiel Störungen in den Netzwerken des Gehirns.“
Neurodegeneration
Neurodegeneration/-/neurodegeneration
Sammelbegriff für Krankheiten, in deren Verlauf Nervenzellen sukzessive ihre Struktur oder Funktion verlieren, bis sie teilweise sogar daran zugrunde gehen. Vielfach sind falsch gefaltete Proteine der Auslöser – wie etwa bestimmte Formen der Eiweiße Beta-Amyloid und Tau im Falle von Alzheimer. Bei anderen Krankheiten, beispielsweise bei Parkinson oder Chorea Huntington, werden Proteine innerhalb der Neurone nicht richtig abgebaut. In der Folge lagern sich dort toxische Aggregate ab, was zu den jeweiligen Krankheitserscheinungen führt. Während Chorea Huntington eindeutig genetisch bedingt ist, scheint es bei Parkinson und Alzheimer allenfalls bestimmte Ausprägungsformen von Genen zu geben, welche ihre Entstehung begünstigen. Keine dieser neurodegenerativen Erkrankungen kann bisher geheilt werden.
Magnetresonanztomographie
Magnetresonanztomographie/-/magnetic resonance imaging
Ein bildgebendes Verfahren, das Mediziner zur Diagnose von Fehlbildungen in unterschiedlichen Geweben oder Organen des Körpers einsetzen. Die Methode wird umgangssprachlich auch Kernspin genannt. Sie beruht darauf, dass die Kerne mancher Atome einen Eigendrehimpuls besitzen, der im Magnetfeld seine Richtung ändern kann. Diese Eigenschaft trifft unter anderem auf Wasserstoff zu. Deshalb können Gewebe, die viel Wasser enthalten, besonders gut dargestellt werden. Abkürzung: MRT.
Plastizität
Plastizität/-/neuroplasticity
Der Begriff beschreibt die Fähigkeit von Synapsen, Nervenzellen und ganzen Hirnarealen, sich abhängig vom Grad ihrer Nutzung zu verändern. Mit synaptischer Plastizität ist die Eigenschaft von Synapsen gemeint, ihre Erregbarkeit auf die Intensität der Reize einzustellen, die sie erreichen. Daneben unterliegen auch Größe und Vernetzungsgrad unterschiedlicher Hirnbereiche einem Wandel, der von ihrer jeweiligen Aktivität abhängt. Dieses Phänomen bezeichnen Neurowissenschaftler als corticale Plastizität.
Neurodegeneration
Neurodegeneration/-/neurodegeneration
Sammelbegriff für Krankheiten, in deren Verlauf Nervenzellen sukzessive ihre Struktur oder Funktion verlieren, bis sie teilweise sogar daran zugrunde gehen. Vielfach sind falsch gefaltete Proteine der Auslöser – wie etwa bestimmte Formen der Eiweiße Beta-Amyloid und Tau im Falle von Alzheimer. Bei anderen Krankheiten, beispielsweise bei Parkinson oder Chorea Huntington, werden Proteine innerhalb der Neurone nicht richtig abgebaut. In der Folge lagern sich dort toxische Aggregate ab, was zu den jeweiligen Krankheitserscheinungen führt. Während Chorea Huntington eindeutig genetisch bedingt ist, scheint es bei Parkinson und Alzheimer allenfalls bestimmte Ausprägungsformen von Genen zu geben, welche ihre Entstehung begünstigen. Keine dieser neurodegenerativen Erkrankungen kann bisher geheilt werden.
Potenzial in Bezug auf künstliche Intelligenz
„Indem wir entschlüsseln, wie Erfahrungen das Netzwerk und die Dynamik des Gehirns gestalten, erweitern wir nicht nur die Grenzen der Hirnforschung“, sagt Amin. „Künstliche Intelligenz wird davon inspiriert, wie das Gehirn Informationen verarbeitet. Vor diesem Hintergrund könnten unsere Werkzeuge und die Erkenntnisse, die sich damit generieren lassen, den Weg für neuartige Algorithmen des maschinellen Lernens bereiten.“
Intelligenz
Intelligenz/-/intelligence
Sammelbegriff für die kognitive Leistungsfähigkeit des Menschen. Dem britischen Psychologen Charles Spearman zufolge sind kognitive Leistungen, die Menschen auf unterschiedlichen Gebieten erbringen, mit einem Generalfaktor (g-Faktor) der Intelligenz korreliert. Demnach lasse sich die Intelligenz durch einen einzigen Wert ausdrücken. Hierzu hat u.a. der US-Amerikaner Howard Gardner ein Gegenkonzept entwickelt, die „Theorie der multiplen Intelligenzen“. Dieser Theorie zufolge entfaltet sich die Intelligenz unabhängig voneinander auf folgenden acht Gebieten: sprachlich-linguistisch, logisch-mathematisch, musikalisch-rhythmisch, bildlich-räumlich, körperlich-kinästhetisch, naturalistisch, intrapersonal und interpersonal.
Originalpublikation
Brett Addison Emery et al.; High-resolution CMOS-based biosensor for assessing hippocampal circuit dynamics in experience-dependent plasticity; Biosensors and Bioelectronics (2023)
DOI: 10.1016/j.bios.2023.115471