Geheimnisvolle Sensoren im Rückenmark
Komplizierte Bewegungen ausführen zu können, ist für Tiere lebenswichtig. Wie wenig erforschte sensorische Neuronen im Zentralkanal des Rückenmarks diese Motorik mitsteuern, beschreibt ein Team um den MDC-Forscher Niccolò Zampieri jetzt im Fachblatt „Current Biology“.
Veröffentlicht: 25.05.2022
Egal ob es darum geht, an Nahrung und Trinkwasser zu gelangen, vor potenziellen Fressfeinden zu flüchten, Balance zu halten oder einen sexuellen Akt zu vollziehen: Fast alle Tiere sind auf komplexe Bewegungsmuster angewiesen, um zu überleben – und müssen sie zudem permanent an die äußeren Gegebenheiten anpassen. Um die Bewegungen zu justieren, ist ein Abgleich verschiedener sensorischer Informationen erforderlich. Die Signale werden dann an die motorischen Neuronen weitergeleitet, die alle Muskelaktivitäten steuern.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Lange bekannt, aber kaum erforscht
Sinneszellen der Augen oder der Haut zum Beispiel sind gut erforscht. Wenig Aufmerksamkeit bekam hingegen ein inneres Sinnesorgan: eine Gruppe von Neuronen, die den Zentralkanal des Rückenmarks auskleidet und dort über einen mit Zilien (Flimmerhärchen) besetzten Fortsatz der Zellen mit dem Liquor – auch Zerebrospinalflüssigkeit, kurz CSF genannt – in Kontakt steht. „Bekannt sind diese CSF-kontaktierenden Neuronen seit etwa einhundert Jahren. Sie sind in allen Wirbeltieren zu finden“, sagt Dr. Niccolò Zampieri, der Leiter der Arbeitsgruppe „Entwicklung und Funktion neuraler Netzwerke“ am Berliner Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in der Helmholtz-Gemeinschaft (MDC). „Unser Team ist allerdings das erste, das die Funktion dieser Zellen bei Säugetieren untersucht hat.“
Die Ergebnisse ihrer Experimente stellen Zampieri und seine Kolleg*innen in der Fachzeitschrift „Current Biology“ vor. Erstautorin der Publikation ist Dr. Katrin Gerstmann aus Zampieris Team. Maßgeblich beteiligt an der Arbeit waren zudem Dr. Nina Jurčić und Professor Nicolas Wanaverbecq vom Institut de Neurosciences de la Timone der französischen Université d’Aix-Marseille. „Am wichtigsten ist die Erkenntnis, dass die CSF-kontaktierenden Neuronen für die Feinjustierung von bestimmten Bewegungen der Mäuse zentral sind“, sagt Gerstmann. „Ohne die Zellen können die Tiere in Situationen, in denen sie ihre Körperachse krümmen müssen, ihre Bewegungen weniger präzise kontrollieren.“
Auge
Augapfel/Bulbus oculi/eye bulb
Das Auge ist das Sinnesorgan zur Wahrnehmung von Lichtreizen – von elektromagnetischer Strahlung eines bestimmten Frequenzbereiches. Das für den Menschen sichtbare Licht liegt im Bereich zwischen 380 und 780 Nanometer.
Aufmerksamkeit
Aufmerksamkeit/-/attention
Aufmerksamkeit dient uns als Werkzeug, innere und äußere Reize bewusst wahrzunehmen. Dies gelingt uns, indem wir unsere mentalen Ressourcen auf eine begrenzte Anzahl von Bewusstseinsinhalten konzentrieren. Während manche Stimuli automatisch unsere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, können wir andere kontrolliert auswählen. Unbewusst verarbeitet das Gehirn immer auch Reize, die gerade nicht im Zentrum unserer Aufmerksamkeit stehen.
Rückenmark
Rückenmark/Medulla spinalis/spinal cord
Das Rückenmark ist der Teil des zentralen Nervensystems, das in der Wirbelsäule liegt. Es verfügt sowohl über die weiße Substanz der Nervenfasern, als auch über die graue Substanz der Zellkerne. Einfache Reflexe wie der Kniesehnenreflex werden bereits hier verarbeitet, da sensorische und motorische Neuronen direkt verschaltet sind. Das Rückenmark wird in Zervikal-, Thorakal-, Lumbal und Sakralmark unterteilt.
Cerebrospinalflüssigkeit
Cerebrospinalflüssigkeit/Liquor cerebrospinalis/cerebrospinal fluid
Eine klare Flüssigkeit, die das Ventrikelsystem füllt, sowie das Gehirn im Schädel umspült und so vor Stößen schützt. Drei– bis fünfmal täglich werden die 100 bis 160 ml Flüssigkeit erneuert. Bestimmte Krankheiten spiegeln sich in der Zusammensetzung der Cerebrospinalflüssigkeit wieder.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Direkt mit Motoneuronen verbunden
Frühere Studien hatten gezeigt, dass die CSF-kontaktierenden Neuronen bei Zebrafischen und Neunaugen den pH-Wert des Liquors messen und Bewegungen der Wirbelsäule wahrnehmen können. „Seither weiß man auch, dass diese Zellen das Schwimmverhalten der Tiere mitsteuern“, sagt Gerstmann. „In unserer Studie wollten wir herausfinden, welche Funktionen die Neuronen bei Säugetieren haben, die sich auf vier Beinen fortbewegen.“ Als sie die angefärbten Zellen unter dem Mikroskop analysierten, konnten die Forscherinnen und Forscher sehen, dass die CSF-kontaktierenden Neuronen direkt mit Motoneuronen verbunden sind.
Für ihre weiteren Experimente schalteten die Wissenschaftler*innen die Zellen gezielt aus. „Wir wollten zunächst sehen, ob die Mäuse dann ein generelles Problem mit ihrer Motorik haben“, erzählt Gerstmann. Deshalb setzte das Team die Mäuse in spezielle Boxen mit Lichtschranken. So kann man Geschwindigkeit, Pausen und zurückgelegte Distanzen nachvollziehen. „Dabei konnten wir aber keine Unterschiede zu den Mäusen aus der Kontrollgruppe entdecken“, berichtet Gerstmann Auch eine anspruchsvollere Ganganalyse mit einer Hochgeschwindigkeitskamera habe keine Auffälligkeiten gezeigt. „Daraus schlossen wir, dass die CSF-kontaktierenden Neuronen weder die allgemeine motorische Aktivität noch die alternierenden Beinbewegungen von Säugetieren beeinflussen“, sagt Gerstmann.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Unsicher auf dem Schwebebalken
Sichtbar wurden die Veränderungen erst, als die Forscher*innen die Mäuse über einen schmalen Schwebebalken oder über horizontale Leitern lockten, auf denen sich die Tiere beim Balancieren lang machen und ihre Körperachse krümmen mussten. „Die Mäuse, bei denen wir die CSF-kontaktierenden Neuronen ausgeschaltet hatten, waren langsamer und rutschten häufiger ab“, berichtet Gerstmann. Die gleichen Ergebnisse konnte das Team beobachteten, wenn sie verhinderten, dass die Neuronen ein Zilium ausbildeten. „Demnach ist das Zilium für die Funktion der CSF-kontaktierenden Neuronen anscheinend entscheidend“, sagt Gerstmann. Fische brauchen einen Ionenkanal namens PKD2L1, um solche Bewegungen zu steuern. In den Zellen von Säugetieren erwies sich dieser Kanal aber überraschenderweise für diese Aufgabe als bedeutungslos.
„Welche Sinneseindrücke die CSF-kontaktierenden Neuronen genau registrieren und welche Rezeptoren sie dazu nutzen, wissen wir allerdings noch nicht“, ergänzt Zampieri. Das wolle das Team nun in weiteren Experimenten und mithilfe molekularer Untersuchungen herausfinden. Denkbar sei beispielsweise, dass die Zellen die Strömungen des Liquors erkennen oder auch dessen chemische Zusammensetzung – der sich sowohl während der Entwicklung der Tiere als auch im Tagesverlauf sowie bei Krankheit oder Ermüdung verändere.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Ionenkanal
Ionenkanal/-/ion channel
Ionenkanäle sind in die Zellmembran von Nervenzellen und auch allen anderen Zellen im Körper eingelagert. Sie ermöglichen den Übertritt elektrisch geladener Teilchen, den Ionen, über die Zellmembran ins Zellinnere und nach draußen. Sie können somit das Membranpotenzial einer Zelle beeinflussen, und ein Aktionspotenzial hervorrufen. Eine Vielzahl verschiedener Ionenkanäle ist bekannt. Normalerweise weisen Ionenkanäle eine spezifische Durchlässigkeit nur für eine Art von Ionen auf, z.B. für Natriumionen oder für Kaliumionen. Diese werden entsprechend als Natriumkanäle oder Kaliumkanäle bezeichnet.
Rezeptor
Rezeptor/-/receptor
Signalempfänger in der Zellmembran. Chemisch gesehen ein Protein, das dafür verantwortlich ist, dass eine Zelle ein externes Signal mit einer bestimmten Reaktion beantwortet. Das externe Signal kann beispielsweise ein chemischer Botenstoff (Transmitter) sein, den eine aktivierte Nervenzelle in den synaptischen Spalt entlässt. Ein Rezeptor in der Membran der nachgeschalteten Zelle erkennt das Signal und sorgt dafür, dass diese Zelle ebenfalls aktiviert wird. Rezeptoren sind sowohl spezifisch für die Signalsubstanzen, auf die sie reagieren, als auch in Bezug auf die Antwortprozesse, die sie auslösen.
Kontakt zu vielen Organen
„Gesehen haben wir zudem, dass die CSF-kontaktierenden Zellen nicht nur mit motorischen Neuronen in Verbindung stehen, sondern auch mit solchen Neuronen des Rückenmarks, die die inneren Organe, die glatte Muskulatur und die Drüsensekretion regulieren können“, berichtet Zampieri. „Die Zellen könnten somit Teil eines neuroendokrinen Systems sein, das auch andere Aspekte der Physiologie von Säugetieren moduliert.“ Spannend bleibe darüber hinaus die Frage, wie die CSF-kontaktierenden Neuronen mit anderen Zellen zusammenarbeiten, um die exakte Ausführung komplizierter Bewegungsmuster zu meistern, sagt der Forscher. Er will den Sensoren im Rückenmark also noch eine Menge Geheimnisse entlocken.
Neuron
Neuron/-/neuron
Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.
Rückenmark
Rückenmark/Medulla spinalis/spinal cord
Das Rückenmark ist der Teil des zentralen Nervensystems, das in der Wirbelsäule liegt. Es verfügt sowohl über die weiße Substanz der Nervenfasern, als auch über die graue Substanz der Zellkerne. Einfache Reflexe wie der Kniesehnenreflex werden bereits hier verarbeitet, da sensorische und motorische Neuronen direkt verschaltet sind. Das Rückenmark wird in Zervikal-, Thorakal-, Lumbal und Sakralmark unterteilt.
Originalpublikation
Katrin Gerstmann et al (2022): „The role of intraspinal sensory neurons in the control of quadrupedal locomotion“. Current Biology, DOI: 10.1016/j.cub.2022.04.019