Siehst du, was ich sehe?

Prof. Dr. Hans-Peter Thier Copyright: Ingo Rappers / Hertie-Institut für klinische Hirnforschung
Hans-Peter Thier

Neu entdeckte Nervenzellen verarbeiten gezielt Blickbeobachtungen. Lenkung der gemeinsamen Aufmerksamkeit ist Grundlage sozialer Interaktion – Fähigkeit ist bei Autismus gestört.

Quelle: Hertie Institute für klinische Hirnforschung

Veröffentlicht: 27.01.2020

Ich sehe das, was du siehst: Die Fähigkeit, die Blickrichtung von anderen zu verfolgen und ein gemeinsames Ziel der Aufmerksamkeit zu entwickeln ist eine wichtige Grundlage, um mit Mitmenschen zu interagieren. Bei Personen mit Autismus ist diese Leistung gestört. Neurowissenschaftler vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung und der Universität Tübingen berichten nun, dass im Gehirn ein bestimmter Bereich für diese Aufgabe zuständig ist. Nervenzellen im sogenannten „Blickfolge-Areal“ helfen uns, den Aufmerksamkeitsfokus anderer zu entschlüsseln, so das Forscherteam. Das Areal befindet sich im hinteren Schläfenlappen, der damit eine Schlüsselrolle einnimmt, um soziale Interaktionen zu kontrollieren. Die Studie ist in der Fachzeitschrift PNAS erschienen.

In ihrer Studie arbeiteten die Wissenschaftler mit Rhesusaffen. Wie wir Menschen verfolgen die Tiere den Blick anderer, um ihre Aufmerksamkeit auf gemeinsame Ziele auszurichten. In ihren Experimenten zeigten die Forscher den Affen Gesichter von Artgenossen auf einem Computermonitor, die in Richtung bestimmter Objekte schauten. Die Versuchsaffen hatten die Aufgabe, ihren Blick auf das Objekt auszurichten, auf das ihr digitales Gegenüber gerade schaute. 

„Sobald die Affen die Aufgabe mit hoher Sicherheit bewältigten, analysierten wir die Aktivität ihrer Nervenzellen im hinteren Schläfenlappen mit Mikroelektroden“, erklärt Erstautor Dr. Hamid Ramezanpour. „Dieses Hirnareal war aufgrund vorheriger kernspintomographischer Studien unserer Arbeitsgruppe ein heißer Kandidat für die Kontrolle von Blickbeobachtungen.“ Eine richtige Vermutung, wie sich herausstellte: ein großer Teil der Nervenzellen im Blickfolgeareal feuerte immer dann, wenn die Tiere ihren Blick auf das Objekt ausrichteten, auf das auch der andere gerade blickte. „Daraus können wir schließen, dass das getestete Hirnareal eine wichtige Rolle bei der Etablierung gemeinsamer Aufmerksamkeit übernimmt,“ sagt Studienleiter Prof. Dr. Hans-Peter Thier. 

Die Blickrichtung von anderen löst beim Beobachter eine reflektorische Blickfolgebewegung aus. Wie die Forscher berichten, waren die Tiere jedoch in der Lage, diese Bewegung zu kontrollieren und ihr Verhalten auf unterschiedliche Situationen abzustimmen. „Es ist zum Beispiel höchst unangebracht, dem Blick eines anderen zu folgen, wenn plötzlich etwas Gefährliches auf der Szene auftaucht, das unsere volle Aufmerksamkeit erfordert“, erläutert Thier. „Hier hat die Natur vorgesorgt und ermöglicht unserem Gehirn, die Folgen einer Handlung zu beurteilen und die Initiierung der Blickbeobachtung entsprechend anzupassen.“ Dabei spielen ebenfalls die Nervenzellen im „Blickfolge-Areal“ eine Rolle, so die Erkenntnis des Forscherteams.

Die Studie der Tübinger Wissenschaftler gibt Aufschluss darüber, wie unser Gehirn soziale Aufmerksamkeit und Interaktionen kontrolliert. In einer Reihe von Untersuchungen an menschlichen Versuchspersonen war es der Arbeitsgruppe bereits gelungen, eine dem „Blickfolge-Areal“ von Rhesusaffen entsprechende Struktur im menschlichen Gehirn zu kartieren. „Die Analyse auf Ebene einzelner Nervenzellen beim Rhesusaffen verbessert unser Verständnis der Informationsverarbeitung in diesem Areal. Das wiederum wird Licht auf die Störungen werfen, die Ursache der Blickfolgestörung beim Autismus sind“, so Thier. 

Originalpublikation

Ramezanpour, H. und Thier, P. (2020): Decoding of the other´s focus of attention by a temporal cortex module, PNAS, Online-Veröffentlichung. 
https://doi.org/10.1073/pnas.1911269117

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