Überraschende Entdeckung: Singvögel haben Hungerhormon Ghrelin verloren

Bei Säugetieren reduziert das Hormon Leptin zum Beispiel den Appetit, und eine Störung dieses Rückkopplungssystems kann zu Stoffwechselkrankheiten und Fettleibigkeit führen. Vor einigen Jahren entdeckten Forscher:innen, dass Vögel genau dieses Leptin-System im Laufe der Evolution verloren haben. Nun hat eine vom Wissenschaftsfonds FWF finanzierte Studie unter der Leitung der Veterinärmedizinischen Universität Wien und der Abteilung für Verhaltens- und Kognitionsbiologie der Universität Wien (Erstautor Stefan Prost) herausgefunden, dass Singvögel mit Ghrelin auch das andere Haupthormon dieses Systems verloren haben.
Veröffentlicht: 28.03.2025
Die Forscher:innen konzentrierten sich in ihrer Studie auf Ghrelin. Dieses – auch als „Hungerhormon“ bekannte – Peptid wird vom Magen-Darm-Trakt ausgeschüttet, um z. B. die Nahrungsaufnahme und die Körpermasse bei Wirbeltieren zu regulieren. Studien an heimischen Tierarten haben gezeigt, dass Ghrelin bei Vögeln allerdings entgegengesetzte Wirkungen hat als bei Säugetieren, und zwar, indem es die Nahrungsaufnahme hemmt, anstatt sie zu fördern. Laut Leonida Fusani vom Konrad-Lorenz-Institut für Vergleichende Verhaltensforschung (KLIVV) der Vetmeduni legten zudem „einige Studien unseres Teams nahe, dass Ghrelin eine Schlüsselrolle bei der Steuerung des Zugverhaltens spielen könnte. Daher waren wir verblüfft, als wir im Genom der Gartengrasmücke, einem Sperlingsvogel, kein Ghrelin finden konnten.“
Hungerhormon Ghrelin bei Singvögeln gesucht – und nirgends gefunden
Das Forschungsteam führte aufgrund dieser Erkenntnis eine gründliche Suche nach Ghrelin durch, sowohl mit bioinformatischen Werkzeugen, indem es die Genome anderer Vogelarten durchsuchte, als auch mit biochemischen Werkzeugen, indem es Proben von Sperlingsvögeln analysierte und sie mit denen von Wachteln und Tauben verglich, die Ghrelin besitzen. „Wir waren sehr überrascht, als wir feststellten, dass die Passeri (Singvögel) – die größte Gruppe von Vögeln, die 60 % aller Vogelarten umfasst – auch dieses Hormon verloren haben“, so Fusani. Unter Verwendung aller verfügbaren Quellen und Untersuchungsmethoden konnten von den Wissenschafter:innen die Gene, die für Ghrelin kodieren, in der DNA keines einzigen Singvogels gefunden werden.
Hormon
Hormon/-/hormone
Hormone sind chemische Botenstoffe im Körper. Sie dienen der meist langsamen Übermittlung von Informationen, in der Regel zwischen dem Gehirn und dem Körper, z.B. der Regulation des Blutzuckerspiegels. Viele Hormone werden in Drüsenzellen gebildet und in das Blut abgegeben. Am Zielort, z.B einem Organ, docken sie an Bindestellen an und lösen Prozesse im Inneren der Zelle aus. Hormone haben eine breitere Wirkung als Neurotransmitter, sie können verschiedene Funktionen in vielen Zellen des Körpers beeinflussen.
Wegweisende Arbeit zur Vogelphysiologie mit wichtigen Erkenntnissen für den Menschen
Laut Fusani sind diese Studienergebnisse ein Durchbruch in der Erforschung der Vogelphysiologie und eröffnen der biomedizinischen Forschung wichtige neue Wege: „Sperlingsvögel sind insofern einzigartig, als sie ihr Körpergewicht um 100 % erhöhen, indem sie vor dem Vogelzug enorme Mengen an Fett ansammeln, aber nach dem Ende ihrer langen Reisen innerhalb weniger Tage wieder auf ihr Normalgewicht zurückkehren“, erklärt Fusani. Der Verlust von Leptin und Ghrelin scheint laut Fusani mit dieser außergewöhnlichen Plastizität zusammenzuhängen.
Dieses neue Wissen könnte auch in einem weiteren Kontext von Vorteil sein: „Besser zu verstehen, wie Vögel es schaffen, ihr Körperfett zu kontrollieren, könnte für den Menschen sehr nützlich sein, um häufige Gesundheitsprobleme wie Fettleibigkeit und Essstörungen anzugehen“, betont Fusani.
Plastizität
Plastizität/-/neuroplasticity
Der Begriff beschreibt die Fähigkeit von Synapsen, Nervenzellen und ganzen Hirnarealen, sich abhängig vom Grad ihrer Nutzung zu verändern. Mit synaptischer Plastizität ist die Eigenschaft von Synapsen gemeint, ihre Erregbarkeit auf die Intensität der Reize einzustellen, die sie erreichen. Daneben unterliegen auch Größe und Vernetzungsgrad unterschiedlicher Hirnbereiche einem Wandel, der von ihrer jeweiligen Aktivität abhängt. Dieses Phänomen bezeichnen Neurowissenschaftler als corticale Plastizität.
Originalpublikation
Der Artikel „The unexpected loss of the ‚hunger hormone‘ ghrelin in true passerines: a game changer in migration physiology“ von Stefan Prost, Jean P. Elbers, Julia Slezacek, Alba Hykollari, Silvia Fuselli, Steve Smith und Leonida Fusani wurde in „Royal Society Open Science“ veröffentlicht.
https://royalsocietypublishing.org/doi/10.1098/rsos.242107