Wie unser Gehirn die Welt vorhersagt
Neue Studie Tübinger Forschender zeigt, wie Lernprozesse im Gehirn unsere Wahrnehmung formen.
Published: 11.11.2024
Ein Forschungsteam um Professor Dr. Markus Siegel vom Hertie-Institut für klinische Hirnforschung an der Universität Tübingen hat herausgefunden, dass unser Gehirn ständig die eigene Wahrnehmung der Welt optimiert, indem es aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernt und Vorhersagen über die Zukunft trifft. Die in dem Fachjournal Nature Communications veröffentlichte Studie zeigt, dass das Gehirn seine neuronalen Strukturen so anpasst, dass es besser auf die Muster und Regelmäßigkeiten in unserer Umwelt reagieren kann. Dieses Vorhersagelernen könnte uns helfen, Informationen schneller zu verarbeiten und uns im Alltag leichter zurechtzufinden.
Die Forschenden nutzen in der Studie die Magnetenzephalographie (MEG). MEG ermöglicht es, die Gehirnaktivität des Menschen nicht-invasiv zu messen, indem die durch die Gehirnaktivität generierten Magnetfelder außerhalb des Kopfes aufgezeichnet werden. Während der MEG-Messung hörten die Teilnehmenden eine Serie von Tönen, die unterschiedlich strukturiert waren. Die Forschenden untersuchten darauf-hin, wie das Gehirn diese akustischen Informationen verarbeitet und repräsentiert. Sie fanden heraus, dass das Gehirn durch das Erlernen der Tonmuster seine „innere Karte“ der Klänge veränderte: Ähnliche oder vorhersehbare Töne wurden im Gehirn gruppiert und zusammengefasst, was die Verarbeitung effizienter macht.
Besonders überraschend war, dass dabei ein Netzwerk aus sensorischen und höheren assoziativen Gehirnregionen zusammenarbeitet, um Vorhersagefehler zu erkennen und zu korrigieren. Das bedeutet, dass verschiedene Bereiche des Gehirns gemeinsam daran arbeiten, die Umwelt aktiv zu „verstehen“ und zu lernen, was als Nächstes passieren könnte.
„Unsere Ergebnisse zeigen, dass das Gehirn viel mehr tut, als nur In-formationen zu verarbeiten – es baut ständig eine Art Modell der Umwelt auf, das es an die Realität anpasst“, sagt Dr. Antonino Greco, Erstautor der Studie. „Dies könnte helfen zu erklären, warum wir in vertrauten Umgebungen oder bei bekannten Aufgaben besonders effizient sind“, erläutert Mitautor Professor Dr. Hubert Preissl.
Diese Forschung bietet neue Einblicke, die nicht nur für die Neurowissenschaften relevant sind, sondern auch Anwendungen in Bereichen wie Bildung und psychische Gesundheit haben könnten. So könnte dieses Wissen beispielsweise bei der Entwicklung von Lernstrategien oder in der Behandlung von sensorischen Wahrnehmungsstörungen hilfreich sein.
Die Studie verdeutlicht eindrucksvoll, wie flexibel und anpassungsfähig unser Gehirn ist – eine faszinierende Eigenschaft, die unseren Alltag und unsere Wahrnehmung der Welt maßgeblich prägt.
Wahrnehmung
Wahrnehmung/Perceptio/perception
Der Begriff beschreibt den komplexen Prozess der Informationsgewinnung und –verarbeitung von Reizen aus der Umwelt sowie von inneren Zuständen eines Lebewesens. Das Gehirn kombiniert die Informationen, die teils bewusst und teils unbewusst wahrgenommen werden, zu einem subjektiv sinnvollen Gesamteindruck. Wenn die Daten, die es von den Sinnesorganen erhält, hierfür nicht ausreichen, ergänzt es diese mit Erfahrungswerten. Dies kann zu Fehlinterpretationen führen und erklärt, warum wir optischen Täuschungen erliegen oder auf Zaubertricks hereinfallen.
Originalpublikation
Greco A, Moser J, Preissl H, Siegel M (2024) Predictive learning shapes the representational geometry of the human brain. Nature Communications 15:9670