Weihnachten und andere Rituale
Bräuche wie etwa die zu Weihnachten stärken den Zusammenhalt in der Gemeinschaft und sind sogar gut für die körperliche und seelische Gesundheit. Kein Wunder also, dass sich Rituale im Laufe der Evolution immer stärker herausgebildet haben.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Christian von Scheve
Veröffentlicht: 30.11.2012
Niveau: mittel
- Bräuche wie Weihnachtsrituale festigen den Zusammenhalt von Gemeinschaften.
- Rituale scheinen aber auch für die seelische und körperliche Gesundheit von Vorteil zu sein.
- Rituale haben sich möglicherweise im Laufe der Evolution gebildet, weil sie die Kooperation in Gemeinschaften fördern.
- Je aufwändiger Rituale sind, desto stärker signalisieren sie die Hingabe an eine Gruppe und die Kooperationsbereitschaft.
Glaubt man der Evolutionspsychologie – populär gemacht etwa durch den Biologen Steven Pinker –, steckt tief in uns immer noch der Steinzeitmensch. In den letzten paar tausend Jahren habe sich unser Leben viel zu schnell gewandelt, als dass die Evolution hätte mithalten können. Unser Verhalten und unser mentales Innenleben habe sich hauptsächlich in der Zeit des Pleistozän, also 2,4 Millionen bis 10.000 Jahre vor unserer heutigen Zeit entwickelt. Damals lebte der Mensch in Jäger- und Sammlergesellschaften, und an diese Umweltbedingungen sei auch noch die heutige Psyche und das Verhalten des Menschen angepasst. Zwar ist es durchaus wissenschaftlicher Konsens, dass auch die menschliche Psyche ein Produkt der Evolution ist. Umstritten ist hingegen, wie stark Denken, Fühlen und Handeln von der Evolution beeinflusst sind. Kritik erfahren immer wieder gewisse Grundannahmen der Evolutionspsychologie. 2011 etwa verwiesen Forscher um den kognitiven Neurobiologen Johan Bolhuis von der Utrecht University darauf, dass sich biologische Merkmale schon in wenigen Generationen maßgeblich wandeln können. Untersuchungen des menschlichen Genoms zeigen starke Änderungen in den letzten 50.000 Jahren und zwar gerade auch in Genen, die das Gehirn beeinflussen und für das Verhalten relevant sind.
Weihnachten hat etwas Beruhigendes. Sieht man von den Geschenken mal ab, zeichnet sich das Fest nicht durch große Überraschungen aus, sondern vor allem durch Gewohnheiten: Altbekannte Rituale und Bräuche prägen die Feiertage. Man geht mit der Familie in die Kirche. Zelebriert in großer Runde das Festtagsessen: Alle Jahre wieder wird der traditionelle Festtagsbraten zubereitet, wie ihn sich schon eine Reihe von Generationen zur Weihnacht hat schmecken lassen. Anschließend singt man unter dem hell erleuchteten Christbaum Weihnachtslieder, die seit Jahrhunderten überliefert wurden. Auch das gegenseitige Schenken hat eine lange Tradition.
Rituale wie diese sind nicht einfach nur merkwürdige und mittlerweile sinnentleerte Überbleibsel der Vergangenheit. Sie erfüllen eine wichtige Funktion für den Menschen als soziales Wesen und haben sich im Lauf seiner Evolutionsgeschichte vermutlich nicht ganz ohne Grund entwickelt. Und bis heute gehalten.
Wiederholungstat mit symbolischer Bedeutung
Rituale sind etwas anderes als Routinen. Zwar kann auch eine Alltäglichkeit wie das gemeinsame Essen rituellen Charakter haben, der durch die gemeinsame Unterhaltung mit Insiderwitzen entsteht, oder durch Handlungen, die für Außenstehende nur schwer verständlich sind. Doch um genau diese Außenstehenden geht es, denn Rituale verbinden die Mitglieder einer begrenzten Gruppe miteinander – nicht zuletzt durch ihre oft hohe symbolische Bedeutung. Dadurch stärken sie auch die Bindung dieser Gruppe.
Gerade für Kinder spielen Familienrituale eine wichtige Rolle. Das bestätigt etwa die Forschung von Barbara Fiese von der University of Illinois. 2002 sichtete die Psychologin gemeinsam mit Kollegen von der Syracuse University die Forschungsliteratur aus fünf Jahrzehnten. Wie Fiese und ihre Kollegen feststellen konnten, sind familiäre Rituale in vielfacher Hinsicht nützlich. Sie stärken nicht nur Familienbande und Gruppenzugehörigkeit, sie scheinen zudem auf direktem oder indirektem Weg für die seelische und körperliche Gesundheit vorteilhaft zu sein. So haben etwa Kinder aus Familien mit Alkoholproblemen später als Erwachsene ein geringeres Risiko, selbst zur Flasche zu greifen, wenn in der Familie Rituale wie das gemeinsame Essen gepflegt wurden.
Rituale können die Gesundheit fördern
Die positive Wirkung von familiären Ritualen ist allerdings sehr davon abhängig, wie viel Bedeutung die Familienmitglieder ihnen beimessen. Bereits 1992 fand Fiese heraus, dass Heranwachsende statistisch gesehen dann über ein besseres Gefühl der eigenen Identität verfügten, wenn für ihre Familie Rituale eine hohe symbolische Bedeutung hatten. 2000 stellte sie zudem fest, dass Kinder mit Asthma in Familien mit wohldurchdachten und bedeutungsvollen Bräuchen deutlich weniger an den typischen Ängsten litten, wie sie für diese chronische Erkrankung typisch sind. Sie machten sich beispielsweise weniger Sorgen und hatten weniger körperliche Symptome.
Gemeinsame Rituale stabilisieren ganz offensichtlich die Familie, folgert Fiese. Sie böten dem Leben einen Sinn und einen Gegenpol zum täglichen Stress im Umgang mit der chronischen Erkrankung.
Die Entstehung von Bräuchen
Laut den Erkenntnissen der Archäologie praktiziert der Mensch seine Rituale seit einigen zehntausend Jahren. Mindestens. Einer der frühesten, unbestrittenen Belege eines Begräbnisrituals stammt aus dem Jungpaläolithikum, einer Zeit etwa 45.000 bis 11.000 Jahre v. Chr. Ältere Skelette weisen hingegen keine Anzeichen von durchdachten und ritualisierten Begräbnissen auf.
Bis heute tun sich Forscher ein wenig schwer mit der Erklärung, wie Rituale im Laufe der Evolutionsgeschichte des Menschen entstanden sind. Für den Anthropologen Richard Sosis von der University of Connecticut sind sie ein Rätsel, das ihn ein halbes Leben lang begleitet hat. Als er im Alter von 15 Jahren in Jerusalem ultraorthodoxe Juden bei sengender Hitze in viele Schichten Kleidung gehüllt beten sah, war er zutiefst verblüfft. „Damals dachte ich, es gäbe keine rationale Erklärung und entschied, dass meine religiösen Brüder möglicherweise verrückt seien“, erinnert er sich. Auch manch anderes Verhalten religiöser Gruppen erscheine für den Außenstehenden oft seltsam.
Als Erwachsener begann er, der Entwicklung von Ritualen auf den Grund zu gehen. Mittlerweile war er durch seine anthropologische Ausbildung mit der Evolutionstheorie vertraut, doch so manches Ritual kam ihm dadurch nur noch befremdlicher vor. Denn der Verhaltensökologie genauso wie der Evolutionspsychologie (siehe Kasten) zufolge bestimmt vor allem das Abwägen von Kosten und Nutzen die Evolution von Verhalten. Die Zeit, die Organismen mit einer bestimmten Sache verbringen, fehlt ihnen an einer anderen, ganz entscheidenden Stelle: um ihre Überlebenschancen und ihren Fortpflanzungserfolg zu steigern. „Tiere, die ihre Ressourcen maximieren, können auch die Zahl ihrer Nachkommen maximieren – genau darum geht es bei dem Spiel der natürlichen Selektion“, so Sosis. Sei da das Beten in brütender Hitze nicht kontraproduktiv? Noch auffälliger scheint die Verschwendung von Ressourcen etwa bei rituellen Opfern, die man zu Ehren von Göttern oder im Andenken an Tote darbringt.
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Worin liegt der evolutionäre Nutzen von Ritualen?
Ganz allgemein stellt sich aus evolutionspsychologischer Sicht also die Frage, warum Menschen in Rituale und in Religion so viel Energie investieren – und nach der Evolutionstheorie sollte es auch hierfür einen Grund geben. Zum Beispiel diesen: Dem evolutionären Verhaltensökologen William Irons von der Northwestern Universityzufolge ist es ein großes Problem innerhalb von Gemeinschaften, die Kooperation zu fördern – etwa das gemeinsame Jagen oder das Teilen von Nahrungsmitteln. Denn für den Einzelnen ist es eigentlich am vorteilhaftesten, wenn alle anderen brav kooperieren, während er selbst die Füße hochlegt. Irons hält Religion für einen der sozialen Mechanismen, die den Einzelnen davon abhalten, sich auf Kosten der Gemeinschaft auszuruhen. Rituale sind in dieser Sichtweise eine Form von Kommunikation. Indem man sich an einem Ritual beteiligt, bringt man zum Ausdruck, dass man Teil einer Gruppe, beispielsweise einer religiösen Gemeinschaft sein möchte und sich auch in ihr kooperativ verhalten wird.
Laut Richard Sosis ist einem kommunikativen Signal besonders dann zu trauen, wenn die Kosten zu hoch sind, um es zu fälschen. Indem man dick vermummt in brütender Hitze bete, signalisiere man den Glaubensgenossen glaubhaft, dass man dazugehören möchte. Würde man denn sonst ein solches Verhalten auf sich nehmen?
Sichere Investitionen
Eine Vorhersage dieser so genannten Theorie der teuren Rituale ist folgende: Je mehr eine Gruppe von ihren Mitgliedern verlangt, desto stärker verpflichten sich diese. Und je stärker sich die Mitglieder verpflichten, indem sie mehr investieren, desto besser kooperieren sie. 2003 testete Sosis diese Vorhersage gemeinsam mit seinem Kollegen Eric Bressler. Sie schauten sich die Daten von weltlichen und religiösen Kommunen aus dem 19. Jahrhundert an: Die Kommunen, die mehr von ihren Mitgliedern erwarteten, beispielsweise sich vegetarisch zu ernähren, überlebten länger. Sosis und Bressler deuten dies als ein Zeichen, dass ihre Mitglieder besser kooperierten. Dieses Phänomen ließ sich aber nur bei religiösen Kommunen beobachten.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kam Sosis mit dem Wirtschaftswissenschaftler Bradley Ruffle von der Ben Gurion University, seit 2013 an der Wilfrid Laurier University, Kanada. 2003 ließen sie Probanden aus israelischen Gemeinschaften an einem Spiel mit Geldbeträgen teilnehmen. Die Mitglieder aus religiösen Gemeinschaften kooperierten besser als die aus den weltlichen. Sie wirtschafteten mit den beschränkten Ressourcen besser, indem sie beim Aufteilen weniger für sich selbst verlangten. Rituale wie das öffentliche Gebet fördere offensichtlich die Zusammenarbeit in den religiösen Gemeinschaften, vermutet Sosis.
So lange Rituale und Bräuche für den Menschen derartig nützlich sind, wird es sie wohl noch eine ganze Zeit lang geben. Und auch das Weihnachtsfest wird weiterhin auf beruhigende Art vorhersehbar bleiben.
zum Weiterlesen:
- Bulbulia, J, Sosis, R.: Signalling theory and the evolution of religious cooperation. Religion. 2011; 41(3). (zum Abstract).