Viele Ursachen der Multiplen Sklerose
Rauchen, zu wenig Sonne und der westliche Lebensstil können Multiple Sklerose begünstigen – vor allem, wenn eine erbliche Veranlagung vorhanden ist. Doch eine überragende Rolle spielt die Entgleisung des Immunsystems.
Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Heinz Wiendl
Veröffentlicht: 28.04.2017
Niveau: mittel
- Multiple Sklerose ist eine Autoimmunerkrankung, die sich im Zentralen Nervensystem niederschlägt.
- Mindestens 200 Genorte beeinflussen das Risiko für die Erkrankung.
- Weil offenbar alle MS-Patienten mit Epstein-Barr-Viren infiziert sind, sehen manche Forscher darin eine wichtige Voraussetzung für die Erkrankung.
- Geographische Faktoren wie zu wenig Sonne und in der Folge zu wenig Vitamin D bis zum 14. Lebensjahr machen das Immunsystem anfälliger für eine MS.
- Geschlechtshormone haben einen großen Einfluss auf Autoimmunerkrankungen wie die MS. Rauchen und zu viel Salz in der Nahrung sind dagegen beeinflussbare Risikofaktoren.
- Auch andere Ursachen werden diskutiert, etwa Viren in der Milch und bestimmte Mikroben im Darm.
Es ist ein besonderer Erfolg, den die Multiple-Sklerose-Forschung derzeit erlebt. Einer Reihe verschiedener Therapieansätze ist es zu verdanken, dass Patienten häufig, trotz langer Jahre mit dem Nervenleiden, nahezu symptomfrei sind, wie auf dem europäischen MS-Kongress 2016 zu hören war. Einerseits gibt es die junge Frau, die mit Anfang vierzig im Rollstuhl sitzt und eine Haushaltshilfe benötigt. Andererseits gibt es die über 60-Jährige, der nur längere Strecken zu Fuß schwerfallen, die aber selbstständig lebt.
Die Verläufe fächern sich derart auf, weil Multiple Sklerose keine Krankheit mit einem einheitlichen Erscheinungsbild ist, sondern verschiedene Verlaufsformen umfasst. Mehr als 80 Prozent der Patienten leiden anfänglich unter einer schubförmigen MS, bei der sich die Symptome zwischen den Ausbrüchen teilweise oder sogar vollständig zurückbilden (relapsierend-remittierende MS, RRMS). Die Krankheit kann aber auch von Anfang an konstant oder unterbrochen von Perioden des Stillstandes fortschreiten (primär progrediente MS). Bei etwa der Hälfte aller Patienten mit einer RRMS geht die Krankheit binnen zehn Jahren in eine progrediente Form über; man spricht dann von einer sekundär progredienten MS (SPMS).
Tatort: Immunsystem
Sowohl eine erbliche Veranlagung als auch verschiedene Auslöser wie Umwelt und Lebensstil befeuern die MS. „Es gibt nicht das eine pathologische Element“, sagt Klarissa Stürner, Oberärztin der MS-Ambulanz des Universitätsklinikums Kiel. Einer der Hauptverdächtigen aber sind die Gene. Schon lange war bekannt, dass die Erkrankung des Zentralnervensystems eine erbliche Komponente hat. Zwillingsstudienergaben, dass das Risiko für den zweiten Zwilling, ebenfalls an MS zu erkranken, bei etwa 30 Prozent liegt. Es ist jedoch nicht ein einzelnes Gen, auf das sich das erbliche Risiko konzentriert.
In einer Untersuchung von 9.700 MS-Patienten und 17.400 Gesunden aus 15 Ländern brachte ein internationales Forscherteam 20 bekannte Genorte und 29 neue mit der Erkrankung in Verbindung. Viele davon spielen eine zentrale Rolle für das Immunsystem, sorgen dort etwa für die Bildung der weißen Blutkörperchen.
Neueste Daten, erst im Oktober 2016 auf einem Fachkongress der Amerikanischen Gesellschaft für Humangenetik in Vancouver vorgestellt, schärfen dieses Bild noch: 110.000 Probanden, etwa die Hälfte gesund, die andere mit Multipler Sklerose, baten die Forscher zur Blutprobe, um das Genom zu durchforsten. Sie erweiterten das Spektrum der MS-verdächtigen Genorte auf 200. Das Spektakuläre: Sie sind alle wichtig für das Immunsystem. Auch wenn offenbar viele dieser Gene ihre Wirkung bei der MS im Gehirn entfalten, ist Stürner sicher: „Das spricht Bände, wo die Ursachen der Erkrankung zu suchen sind. Es ist eine Erkrankung des Immunsystems."
Das Immunsystem ist gleichwohl wie das Gehirn ein lernendes „Organ“. Was passiert mit diesem System, damit später – meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr – eine Multiple Sklerose ausbrechen kann?
Eine harmlose Infektion am Anfang?
Einer der möglichen Auslöser kann eine Infektion mit dem gleichen Virus sein, der Kusserkrankung, auch das Pfeiffersche Drüsenfieber hervorruft, welches viele Menschen im Studentenalter bekommen. Epstein-Barr-Viren (EBV) befallen dabei die B-Lymphozyten und vermehren sich darin. Frisch Infizierte bekommen manchmal Fieber, Gliederschmerzen, haben keinen Appetit und sind über Wochen extrem müde. Bei anderen verläuft die Infektion ganz stumm. Bei 95 Prozent der Bevölkerung lässt sich das Virus im Erwachsenenalter in den B-Lymphozyten nachweisen, in denen es sich schlafend einquartiert. „Das Epstein-Barr-Virus ist nicht der Auslöser der Multiplen Sklerose. Aber es aktiviert das Immunsystem, insbesondere die B-Lymphozyten, in einer Weise, dass die Erkrankung später auftreten kann“, sagt Volker Siffrin, Neuroimmunologe am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin in Berlin.
Basierend auf zehn Jahren Erfahrung mit MS-Patienten ergänzt Stürner, dass sie noch nicht einen MS-Patienten gesehen habe, der keinen Kontakt mit Epstein-Barr-Viren hatte. Löscht man sämtliche B-Lymphozyten, die Heimstätten der Viren, mit Medikamenten aus, verlangsamt das den Fortschritt der Erkrankung deutlich. Allerdings ist die kausale Rolle von EBV damit noch nicht belegt.
Sonne und Vitamin D
Die Reifung des Immunsystems wird auch durch einen anderen Faktor beeinflusst, der in Studien zur Multiplen Sklerose immer wieder aufblitzt: die Sonneneinstrahlung. Je häufiger und regelmäßiger die Haut der Sonne ausgesetzt ist, desto mehr Vitamin D produziert die obere Hautschicht. „Dieser Stoff hat sehr viele Funktionen, fast wie ein Hormon, und reguliert, wie aggressiv das Immunsystem ist. Zu niedrige Vitamin-D-Spiegel machen das Immunsystem „hyperaktiv“, sodass Autoimmunerkrankungen wie die Multiple Sklerose später leichteres Spiel haben“, erläutert Stürner. Noch dazu sollte zu wenig Vitamin D das Epstein-Barr-Virus reaktivieren, wie der Heidelberger Krebsforscher und Nobelpreisträger Harald zur Hausen unter Verweis auf frühe Veröffentlichungen gegenüber spektrum.de erklärt. Vielleicht ist das ein Grund dafür, dass Multiple Sklerose am sonnenreichen Äquator so selten vorkommt und zu den Polen hin immer häufiger auftritt. Andererseits scheint nur die Sonneneinstrahlung bis zum 14. Lebensjahr maßgeblich, wie Migrationsstudien ergaben.
Das bedeutet aber: Es sind nicht nur zuvorderst die Gene, sondern der Lebensstil bereitet dem Nervenleiden den Weg. „Etwa das Leben in geschlossenen Räumen – fern der Sonne, das ist ein evolutionsgeschichtlich junges Phänomen, an das sich das Immunsystem noch nicht anpassen konnte“, erklärt Siffrin.
Insgesamt machen Ärzte die westliche Lebensweise dafür verantwortlich, dass die Häufigkeit von Multipler Sklerose in den Industrienationen immer weiter steigt. In Japan hat sich die Zahl der Patienten seit den siebziger Jahren vervierfacht.
Rauchen und Salz
Besonders Frauen sind von dem chronischen Nervenleiden betroffen. Dies liegt wahrscheinlich an den Geschlechtshormonen und deren Wirkung auf das Immunsystem. Ein Grund dafür ist wohl auch, dass sie immer häufiger rauchen. Einer Reihe von Studien zufolge erhöht auch das Rauchen das Risiko, an einer Multiplen Sklerose zu erkranken, um 50 Prozent. Und Frauen rauchen immer häufiger. Schwedische Forscher konnten sogar zeigen, dass genetische Risikofaktoren und das Rauchen das Krankheitsrisiko potenzieren. Wer also eine erbliche Veranlagung für die Erkrankung hat und raucht, erhöht sein Risiko viel drastischer als die einzelnen Faktoren dies erwarten ließen.
Auch eine Eigenart der westlichen Ernährung beschäftigt die MS-Forscher: Das Essen, besonders Fertiggerichte und Fast Food, ist in den Industrieländern vergleichsweise salzig. Eine solche Kost begünstigt aber eine MS, demonstrierten 2013 Experimente an speziell gezüchteten Mäusen: Die Mäuse waren so gentechnisch verändert, dass sie eine MS-ähnliche Erkrankung, die experimentelle autoimmune Enzephalomyelitis (EAE), entwickeln konnten. Bekamen die Mäuse eine sehr salzreiche Kost, verlief die Erkrankung schwerer. Enthielt die Nahrung mehr als fünf Gramm Kochsalz täglich, bildeten sich mehr ungünstige Th-Immunzellen, die Entzündungsstoffe ausschütteten. Diesen Effekt beobachtete der Neuroimmunologe Markus Kleinewietfeld von der Yale Universität in New Haven auch an menschlichen Zellen und schätzt, dass Fast-Food-Konsumenten deshalb besonders betroffen sind, wie er 2013 im Fachblatt Nature öffentlich machte. Diese Wirkung des Salzes könnte Autoimmunerkrankungen wie der Multiplen Sklerose den Weg bahnen. Der Neurologe Ralf Linker von der Universität Erlangen hält das zumindest für glaubhaft, wenn auch noch nicht ursächlich belegt: „In Regionen mit McDonalds gibt es deutlich mehr Autoimmunerkrankungen.“
Viren aus der Milch?
Es könnten auch andere Charakteristika des westlichen Lebensstils sein, die es der Multiplen Sklerose leichtmachen. Harald zur Hausen verdächtigt Milchprodukte. Darin fand er nämlich virales Erbgut, das sich in menschlichen Zellen vervielfältigen kann. Er vermutet, dass einige Zellen sowohl mit Epstein-Barr-Viren und anderen, noch namenlosen Viren aus der Milch infiziert sind. Diese Doppelinfektion sei wohl normalerweise harmlos, könne aber unter bestimmten Umständen, etwa bei mangelnder Sonneneinstrahlung, aktiviert werden. Dieser Ausbruch, so zur Hausen, könnte den ersten Schub einer Multiplen Sklerose einleiten.
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Nährboden im Darm
Die Ernährung beeinflusst auch indirekt das MS-Risiko: über die Besiedlung mit Bakterien im Darm. Der Münchner Neurobiologe Hartmut Wekerle vom Max-Planck-Institut für Neurobiologie in München zeigte das als einer der ersten an gentechnisch veränderten Mäusen mit einer Anlage zur experimentellen autoimmunen Enzephalomyelitis (EAE). Unter komplett keimfreien Bedingungen blieben die Nager gesund. Wachsen die Mäuse jedoch in normaler Umgebung auf und entwickeln eine gewöhnliche Darmflora, setzt die schubartige Erkrankung ein. Ebenso, wenn den keimfrei gezüchteten Tieren die Darmbakterien normal aufgewachsener Tiere eingepflanzt werden.
Ist die MS also eine Folge einer gesunden Darmflora? So beschreibt Wekerle einstweilen den Zusammenhang: Die Mikroorganismen aktivieren T-Zellen des Immunsystems und in einem weiteren Schritt die B-Lymphozyten, in denen mitunter die Epstein-Barr-Viren schlummern. Er selbst hält das Mikrobiom im Darm, also die Summe der 100 Billionen Bakterien in dem Organ, für einen wichtigen Trigger einer Multiplen Sklerose.
In diese Richtung deutet auch eine neue Studie, die japanische Forscher im September 2015 im Fachjournal Plos One vorstellten. Sie verglichen die Mikrobenzusammensetzung im Stuhl von MS-Patienten mit der von Gesunden: Zwei Bakterien, nämlich Streptococcus thermophilus und Eggerthella lenta, kamen häufiger vor, während 19 andere unterrepräsentiert waren.
Ein paar Antworten und viel mehr Fragen
Auf die Frage nach den Ursachen der MS haben Forscher also einige mögliche Antworten gefunden und dabei viele neue Fragen aufgeworfen: Weshalb etwa gehen die Schübe in der Schwangerschaft deutlich zurück, im letzten Drittel sogar um achtzig Prozent? Und warum steigt die Schubrate nach der Geburt wieder leicht, aber messbar an? „Wir kennen die Ursachen nicht“, sagt die Neurologin Kerstin Hellwig vom Universitätsklinikum Bochum. Sie und andere vermuten, dass die Hormone das Immunsystem mäßigen und somit das Fortschreiten der Erkrankung verhindern. „In der Schwangerschaft muss sich das Immunsystem umstellen, sodass es einen anderen Menschen im eigenen Körper, das Kind, nicht als fremd abstößt.“ Auch diese Beobachtung unterstreicht: Die MS ist ein multifaktorielles Geschehen, das zu durchschauen die Wissenschaft sicher noch lange beschäftigen wird.