Die Macht der Gewohnheit

Grafik MW
Lernen vs. Entscheiden

Beim Thema Sucht zeigt das Lernen seine Schattenseiten: Betroffene reagieren nicht nur ganz konditioniert auf den Geruch oder den Anblick ihrer Lieblingsdroge. Aus zielgerichteten Entscheidungen entstehen auch immer mehr fatale Gewohnheiten.  

Wissenschaftliche Betreuung: Prof. Dr. Sebastian Mueller

Veröffentlicht: 01.07.2020

Niveau: leicht

Das Wichtigste in Kürze
  • Suchtkranke Menschen haben einen schwachen Willen, besagt ein Klischee. Doch so einfach ist es nicht.  
  • Wissenschaftler  wollen herausfinden, unter welchen Umständen Menschen die Kontrolle verlieren und wie sie sie wiedererlangen. Dabei untersuchen sie die Freiwilligen nicht nur im Labor, sondern beobachten sie auch im realen Leben.  
  • Lernprozesse sind relevant für den Kontrollverlust. In einem ersten Schritt kommt es zu einer Konditionierung: Bereits der Geruch oder Anblick der Droge aktiviert das Belohnungszentrum.
  • Im zweiten Schritt wird der Konsum zur Gewohnheit. Anstelle des präfrontalen Cortex regieren im Gehirn jetzt Teile des Striatums, das beim Gewohnheitslernen im Spiel ist.
  • Neurofeedback könnte eine sinnvolle Möglichkeit sein. 

Mesolimbisches System

Mesolimbisches System/-/mesolimbic pathway

Ein System aus Neuronen, die Dopamin als Botenstoff verwenden und das entscheidend an der Entstehung positiver Gefühle beteiligt ist. Die Zellkörper liegen im unteren Tegmentums und ziehen unter anderem in die Amygdala, den Hippocampus und – besonders wichtig – den Nucleus accumbens, wo sie ihre Endköpfchen haben.

Es ist immer noch ein beliebtes Klischee: Wer süchtig ist, hat schlicht einen schwachen Willen. Doch diese Vorstellung können Sie getrost in die Schublade der falschen Vorurteile stecken und am besten für immer vergessen. Denn in den Augen der Suchtforscherin Tanja Endrass macht man es sich damit ein wenig zu einfach. Die Psychologin von der TU Dresden spricht statt von „Sucht“ lieber von einer „Substanzkonsumstörung“. Der Begriff „Sucht“ impliziere Willensschwäche, und dass die betreffenden Personen sich nicht ausreichend unter Kontrolle hätten. „Es geht zwar bei Substanzkonsumstörungen tatsächlich um den Verlust von Kontrolle“, sagt Endrass. „Aber das ist nicht unbedingt schon von Geburt an bei den Betroffenen angelegt.“ Im Sonderforschungsbereich (SFB) TRR 265 geht die Wissenschaftlerin gemeinsam mit Kollegen verschiedener Forschungsstandorte in ganz Deutschland vielmehr der Frage nach, unter welchen Umständen Menschen die Kontrolle verlieren und wie sie sie wiedererlangen können.

„Wir möchten im Sonderforschungsbereich den Weg in die Abhängigkeit nachzeichnen“, sagt der Psychiater und Neurologe Andreas Heinz, Direktor der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Berliner Charité. „Da spielen alle möglichen Faktoren eine Rolle.“ Nicht jeder mit hohem Drogenkonsum werde abhängig. „Und das erklärt sich auch nicht so einfach durch eine unterschiedliche genetische Disposition.“ Um den verwickelten Ursachen und Auslösern hinter der Sucht auf die Schliche zu kommen, begleiten die Forscher des TRR 900 Probanden mit milder Alkoholkonsumstörung über 12 Monate hinweg. Sie untersuchen die Studienteilnehmer nicht nur mit bildgebenden Verfahren und weiteren Methoden im Labor. Sie zoomen auch ganz nah ran an die Betroffenen und nehmen sie dort unter die Lupe, wo die Sucht zuschlägt: im realen Leben. Per Apps auf dem Smartphone befragen sie die Probanden im Laufe der 12 Monate immer wieder, wie es ihnen gerade geht. Gleichzeitig erheben sie den Alkoholkonsum. Per GPS und mobilen Sensoren erfassen sie, wo sich die Probanden aufhalten, wie viel sie sich bewegen, wie viel sozialen Kontakt sie haben und wie sie auf suchtbezogene Reize wie den Anblick von Alkohol reagieren.  

Brennend interessieren sich die Forscher für Lernprozesse. Lernen ist an sich eine gute Sache. Doch bei Abhängigkeitserkrankungen zeigt es seine Schattenseiten. Ganz eng verzahnt sind dabei Belohnung und Lernen. Schließlich lösen Drogen einen echten Belohnungskick aus. „Dopamin, das von Alkohol freigesetzt wird, löst dabei eher Begierden aus“, sagt Andreas Heinz. „Endorphine hingegen, die auch durch viele Drogen inklusive Alkohol freigesetzt werden, vermitteln eher Genuss." ▸  Dopamin und Endorphin: Stoffe, die süchtig machen  Eine Droge wie Kokain geht direkt an die Nervenzellen – und vermittelt einen echten Dopamin-Kick Kokain-Konsum setzt sechsmal so viel Dopamin frei wie eine interessante soziale Interaktion. Bei Alkohol ist es immerhin zweimal so viel. 

Die Betroffenen werden mit der Zeit konditioniert. Suchtforscher wie Tanja Endrass haben mittlerweile schon eine ganz gute Ahnung davon, was dabei im Gehirn passiert: „Bekommen Probanden im Rahmen von Studien etwa eine Belohnung, wenn sie beim Anblick eines roten Dreiecks auf einem Bildschirm eine Taste drücken, regt sich zunächst der Nucleus accumbens im Striatum, das Belohnungszentrum im Gehirn.“ Wenn man nun diesen Ablauf ständig wiederhole, reagiere das Belohnungszentrum irgendwann nicht mehr auf die Belohnung selbst, sondern bereits schon auf das rote Dreieck. „Die Probanden werden also konditioniert“, sagt Endrass. Dieser Mechanismus sei auch bei Sucht relevant. Etwa wenn der Blick eines Betroffenen im Supermarkt auf das Regal mit den Schnapsflaschen fällt. Dann lässt schon der bloße Anblick der Lieblingsdroge Nervenzellen des Belohnungszentrums feuern – und löst damit das Verlangen aus.

Neuron

Neuron/-/neuron

Das Neuron ist eine Zelle des Körpers, die auf Signalübertragung spezialisiert ist. Sie wird charakterisiert durch den Empfang und die Weiterleitung elektrischer oder chemischer Signale.

Dopamin

Dopamin/-/dopamine

Dopamin ist ein wichtiger Botenstoff des zentralen Nervensystems, der in die Gruppe der Catecholamine gehört. Es spielt eine Rolle bei Motorik, Motivation, Emotion und kognitiven Prozessen. Störungen in der Funktion dieses Transmitters spielen eine Rolle bei vielen Erkrankungen des Gehirns, wie Schizophrenie, Depression, Parkinsonsche Krankheit, oder Substanzabhängigkeit.

Fatale Gewohnheiten statt zielgerichteter Entscheidungen

Die unrühmliche Rolle von Konditionierungen bei Abhängigkeit ist schon länger bekannt. Vergleichsweise neu ist die Idee, dass noch ein weiterer Lernprozess, der Erwerb von Gewohnheiten, zum Kontrollverlust führen könnte. „Wenn man die Aufgabe mit dem Dreieck für sehr lange Zeit durchführen würde“, sagt Endrass, „dann geht es irgendwann gar nicht mehr um die Belohnung.“ Die Probanden drücken einfach die Taste, wenn das Dreieck erscheint, selbst wenn sie keine Belohnung mehr erhalten. „Die Probanden haben somit eine Gewohnheit entwickelt.“ Ähnlich stellen es sich die Forscher des SFB beim Thema Abhängigkeit vor. Der Alkohol mag seine belohnende Wirkung schon längst verloren haben, die Betroffenen greifen aber aus Gewohnheit dennoch zur Flasche. 

In diese Richtung geht eine  prominente Theorie  des  Biopsychologen Barry Everitt und des Neurowissenschaftlers Trevor Robbins von der University of Cambridge. Demnach ist der Drogenkonsum zunächst auf ein Ziel gerichtet, nämlich auf die positiven Wirkungen der Substanzen. Doch allmählich verwandelt er sich in ein gewohnheitsmäßiges Verhalten. Agieren die Betroffenen  zielgerichtet, haben sie das Ziel im Auge und planen, wie sie es erreichen können. Sie beschließen etwa, sich zu betrinken und gehen in einen Laden, um Alkohol zu kaufen. „Bei gewohnheitsmäßigem Verhalten hingegen löst eine bestimmte Situation oder Umgebung das Verhalten aus“, erklärt Endrass. „Man sieht in dem Laden den Schnaps, den man dort immer kauft, und obwohl man sich vielleicht vorgenommen hat, nichts mehr zu trinken, kauft man den Alkohol.“  In einem Teilprojekt versuchen Endrass und ihre Kollegen bei ihren Probanden aus dem Verhältnis von zielgerichtetem und gewohnheitsmäßigem Verhalten den Verlauf der Konsumstörung vorherzusagen. „Unsere Hypothese: Bei den Probanden, bei denen das gewohnheitsmäßige Verhalten gegenüber dem zielgerichteten dominiert, wird der Verlauf ungünstiger sein.“    

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Rückeroberung der Kontrolle

Die Wissenschaftler wollen aber auch in Erfahrung bringen, wie Betroffene wieder die Kontrolle zurückerlangen können. Der klinische Psychologe Peter Kirsch vom Zentralinstitut für seelische Gesundheit in Mannheim, ebenfalls am SFB beteiligt, stieß schon 2015 auf eine interessante Möglichkeit: Neurofeedback. Er präsentierte seinen Probanden mit starkem Alkoholtrinkverhalten auf einem Bildschirm im fMRT-Scanner verführerische Bilder von Alkohol. Anhand eines grafisch dargestellten Thermometers auf dem Bildschirm bekamen die Freiwilligen zudem die Aktivität in ihrem ventralen Striatum angezeigt, das mit Belohnungen assoziiert ist. Die Probanden sollten nun mit einer Strategie ihrer Wahl, – sie konnten sich etwa die negativen Folgen von Alkohol vor Augen führen – versuchen, diese Aktivität abzusenken. Tatsächlich gelang ihnen im Vergleich zu zwei Kontrollgruppen, die kein derartiges Feedback erhielten, die Tätigkeit im Belohnungszentrum herunterzudimmen. Gleichzeitig regte sich bei ihnen deutlich der präfrontale Cortex, der für kognitive Kontrolle wichtig ist.  

„Die Kollegen in Mannheim haben gezeigt, dass das grundsätzlich geht“, sagt Heinz. „Wir wollen im SFB nun untersuchen, ob das auch das Trinkverhalten reduziert." Ein weiterer Hoffnungsträger ist für die Wissenschaftler das Schachspiel: „Es gibt Hinweise darauf, dass durch Schachtraining das Planungsverhalten zunimmt“, so Heinz. „Das könnte dazu führen, dass sich die Betroffenen wieder mehr zielgerichtet und weniger gewohnheitsmäßig verhalten.“ Sollte sich das auch beim Suchtverhalten bewahrheiten, böte das Spiel der Könige Betroffenen möglicherweise einen Weg, um wieder mehr Kontrolle über ihren Konsum zu erlangen – und damit über ihr Leben. 

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„Die Kollegen in Mannheim haben gezeigt, dass das grundsätzlich geht“, sagt Heinz. „Wir wollen im SFB nun untersuchen, ob das auch das Trinkverhalten reduziert." Ein weiterer Hoffnungsträger ist für die Wissenschaftler das Schachspiel: „Es gibt Hinweise darauf, dass durch Schachtraining das Planungsverhalten zunimmt“, so Heinz. „Das könnte dazu führen, dass sich die Betroffenen wieder mehr zielgerichtet und weniger gewohnheitsmäßig verhalten.“ Sollte sich das auch beim Suchtverhalten bewahrheiten, böte das Spiel der Könige Betroffenen möglicherweise einen Weg, um wieder mehr Kontrolle über ihren Konsum zu erlangen – und damit über ihr Leben. 

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